Asexualität in der queeren Theorie

Lieber ohne Anfassen

Ist keinen Sex haben ein politischer Akt? Ja, behauptet die queere Theorie. Über einen relativ neuen Begriff im linken Identitätsbaukasten: Asexualität.

Eine Szene des Films »Sid und Nancy« zeigt Nancy Spungen, eine der vielen Rock-Groupies der siebziger Jahre, wie sie versucht, sich an den schlafenden Bandleader der angesagtesten neuen Rockgruppe heranzumachen. Johnny Rotten aber dreht sich nur kurz um und erklärt: »Sex is dumb boring hippie stuff.« Worauf Spungen stattdessen mit Sid Vicious anbandelt und das Elend seinen Lauf nimmt.
Was bei Rotten Punk war, würde heute, mit einem in sexualreformerischen und queeren Kreisen kursierenden Modewort, wohl Asexualität heißen. Sie soll, so das Bestreben, als Alternative zu Hetero-, Homo- oder Bisexualität begriffen werden, um damit den Betroffenen das Stigma der Andersartigkeit zu nehmen.
Der Impuls ist gut nachvollziehbar, gerade in Zeiten, in denen man sich ständig mit der Aufforderung konfrontiert sieht, nur ja ordentlich zu begehren. Ob Bravo-Checklisten fürs erste Mal oder Frauenzeitschriften, die zwischen der neuen Herbstmode und leckeren Brokkoli-Gerichten Tipps zum Entspannen des Anus beim Analverkehr geben; ob Krankenkassenratgeber für den maß- und verantwortungsvollen Exzess oder Quality-TV-Serien, die mit nacktem Fleisch ihre anspruchsvolle (weil »realistische«) Unterhaltung markieren – wem es da nicht bisweilen die Lust verschlägt, der hat sie wahrscheinlich schon längst verloren.
In der Tat hat sich jener sexuelle Leistungsdruck, der im Zuge der sogenannten sexuellen Revolution, in Kommunen und linken Kleingruppen kultiviert wurde – als die Frauen, die nicht schnell genug für die Genossen die Beine spreizten, als prüde verunglimpft wurden – längst gesamtgesellschaftlich verbreitet; diffuser zwar, aber dafür auch auf beide Geschlechter verteilt. Was als Angriff auf die repressive Sexualmoral gedacht war, avancierte – da trifft Punk als praktische Ideologiekritik der »Make Love, not War«-Achtundsechzigern er voll ins Schwarze – selbst zum Paradefall dessen, was Marcuse so glücklich als »repressive Entsublimierung« bezeichnete. Nur mit Fleiß und Sparsamkeit allein ist der Spätkapitalismus eben auf Dauer nicht zu haben; an die Seite des verkniffenen Puritaners tritt vielmehr, quasi als charakterliche Konjunkturbelebung, der Selbstverwirklicher mit dem gehobenen Geschmack, der sich nicht bloß in der Produktion, sondern auch in der Reproduktion zu beweisen hat; und das heißt vor allem: auch im Bett.
Wer im entsprechenden Alter nicht genug abkriegt (»Erfahrungen sammelt«), wer seiner »Lebenspartnerschaft« genannte Zuverdienstgemeinschaft nicht auch einmal ganz verwegen mit ein bisschen Partnertausch oder Blümchen-SM die richtige Würze verleiht, hat etwas falsch mit sich und seinem Leben gemacht. Lebenslange Einehe ist ohnehin passé; wie in der Arbeitswelt, so heißt es auch im Liebesleben: flexibel sein. Regelmäßiger Geschlechtsverkehr fungiert als Ausweis gelungener Körperbewirtschaftung; wer auf dem Beziehungsmarkt nicht konkurrenzfähig ist, wird es im Job erst recht nicht sein.
Kein Wunder, dass mehr und mehr Menschen davor die Segel streichen. Je zwanghafter Gesellschaft um ihre Bilder gelungener Sexualität kreist, umso weniger kommt es, darauf verweisen alle sexualwissenschaftlichen Studien, zum Akt. Analog zu den diffusen psychischen Angst- und Überforderungszuständen breitet sich vielmehr auch die körperliche Unlust stets weiter aus. Wenn die Menschen sich, so spekulierte der Psychoanalytiker Matthias Waltz einmal, schon nahezu rund um die Uhr per Facebook, Twitter und Handy vergewissern müssen, nicht aus der Welt gefallen zu sein, dann erscheint der Orgasmus, la petite morte, nicht als Verheißung, sondern als Schreckensbild.
Richtig an der offensiven Thematisierung des Phänomens der Asexualität, wie sie in den einschlägigen Aufrufen, Ratgebern und Festivals stattfindet, ist daher die Entlastung, die sie den Betroffenen bietet: zu erfahren, dass man mit dem, was als individuelles Versagen erschien, alles andere als allein ist.

Nur wäre die Linke eben nicht die Linke, wenn sie es dabei beließe. Statt, wie es die Rolling Stones mit »I can’t get no satisfaction« taten, das, was sie beschreiben, der Gesellschaft vor den Latz zu knallen, muss sie gleich eine ganze Legitimationsideologie drumherum stricken. Man ergänze nur L und G, B und T, Q und I noch um ein A, und flugs ist die Sache sauber einsortiert und eine neue Identität entstanden – komplett mit Foren und Arbeitskreisen, Visibility-Networks und Awareness-Weeks.
Das wirkt alles ein wenig befremdlich; nicht nur wegen des kreuzbiederen Flairs von Vereinsmeierei und ehrenamtlicher Arbeit, das derartigen Initiativen anhaftet. So recht als unterdrückte Minderheit, zu deren Fürsprecher man sich aufschwingen kann, wollen Asexuelle nicht wirklich taugen. Für das Verbrechen, mit dem oder der falschen geschlafen zu haben, werden nach wie vor Menschen drangsaliert, ausgegrenzt, gefoltert und ermordet. Aber dem auf die Schliche zu kommen, was jemand im Bett nicht tut, wird selbst der verfolgungswilligste Mob seine Schwierigkeiten haben.
Das ahnen auch die engagiertesten Mitstreiter, und so ist, wenn es um die Diskriminierung Asexueller geht, in den entsprechenden Aufrufen vor allem von Selbstzweifeln und schiefen Blicken, Einsamkeit und Beziehungsproblemen die Rede – von dem also, worunter unter den gegebenen Verhältnissen eigentlich alle zu leiden haben. Der Rest ist sozialpädagogischer Jargon: zu dem stehen, was man ist; Asexualität als legitime sexuelle Orientierung sichtbar machen und akzeptieren.

Spätestens am letzten Punkt aber regen sich Zweifel. Ganz so unsichtbar, wie in den Traktaten behauptet, ist die Asexualität ja nie gewesen. Man denke nur an die Helden der pubertierenden Jungen aller Altersstufen, an Bilbo Beutlin und Batman, an Rambo und an Steven Seagal. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das, was an Wünschen und Schicksalen der Asexuellen in den Texten und Foren beschrieben wird, auch ohne Nennung des Geschlechts fast stets einen Mann assoziieren lässt. Denn dem vorherrschenden Typus von Männlichkeit ist ein Moment von Asexualität immer schon eingeschrieben gewesen. Wollust und Wohlleben, all das Weibische also, bringen einen echten Kerl nur von seinem Weg ab; wahre Helden haben keine Zeit für Sex. Wenn es denn schon sein muss (wegen Baumpflanzen und Sohnzeugen), dann möglichst zackig, rein und schnell wieder raus, bevor man vom anderen Geschlecht womöglich ergriffen und infiziert wird. Was in der feministischen Kritik als Potenzgeprotze beschrieben wird, ist daher zugleich immer auch Abwehr des Begehrens: der Angst, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein und sich an die Geliebte zu verlieren.
Mit derartiger Mackermentalität will die progressive Asexualität natürlich nichts zu tun haben. Viel ist daher die Rede von Einfühlsamkeit und Nähe, von Candle-Light-Dinnern und guten Gesprächen, die auch – und gerade! – die Asexuellen zu genießen wüssten. Nur liegen sie damit eben voll im Trend. Das allgegenwärtige Getue um die Körperlichkeit zielt ja am allerwenigsten auf das polymorph-perverse Partialtriebparadies, vor dem die Imame, die Pfaffen und die Elsässers dieser Welt so händeringend warnen. Es forciert vielmehr die Austreibung des Sexuellen aus der Sexualität, einen Triebverzicht zweiten Grades. Wo das Begehren beständig auf einen ihm äußerlichen Zweck bezogen wird – Fitsein für die Karriere, Reklame für die Welt –, verliert Lust ihren einzigen und ureigenen Sinn: nichts zu wollen als sich selbst. Als unverzichtbarer Bestandteil eines ausgewogenen Rekreationspakets, eingespannt zwischen Workout und Feierabendbier, reduziert sich das Ficken auf ein ebenso entspannendes wie belangloses Hobby, das man genausogut auch bleiben lassen und durch ein anderes ersetzen kann. »Sex«, zitiert Gunter Schmidt in seiner Studie über das Sexualverhalten der heutigen Studierenden eine Probandin, sei »fast so gut wie Skifahren«.

Die Asexualitätsbewegung denkt, so verstanden, die Domestikation der Sexualität nur an ihr logisches Ende. Dass sie in einer Linken, die vor lauter »Definitionsmacht« und »Zustimmungskonzepten« sich sexuelle Erfüllung nur noch als Verhandlungsmarathon vorstellen kann, mit offenen Armen empfangen wird, nimmt insofern nicht Wunder. Möglicherweise ist diese Entsexualisierung, verglichen mit all den Dramen, dem Schrecken und dem Leid, die historisch mit dem Geschlechtlichen verknüpft waren, verglichen nicht zuletzt mit der Verrohung, die andernorts her-rscht, etwa in aufgehetzten Jungmännerhorden, noch die erträglichste Alternative.
Ein bisschen traurig stimmt sie trotzdem. Denn ausgetrieben wird der Sexualität damit auch das, was sich – unablösbar von ihren furchterregenden Anteilen – einmal als Hoffnung an sie knüpfen konnte: die sinnliche Erfahrung zu machen, dass selbst ein geknechtetes und verächtliches Wesen trotzdem ein begehrenswertes sein kann; dass also all die Deformationen und Beschädigungen, die ein bürgerlichen Subjekt mit sich herumschleppt, nicht das letzte Wort behalten müssen.
Dass die Menschen diese Hoffnung nicht mehr ertragen können; dass, mit anderen Worten, die Verhältnisse einem selbst die elementarsten Lebensäußerungen verleiden – diese Erfahrung nicht etwa zum Ausgangspunkt einer radikalen Kritik zu machen, sondern ihr den Stachel zu nehmen, indem man sie als eine »sexuelle Orientierung« unter vielen affirmiert, bezeichnet recht genau das Ausmaß an Revolutionsverrat, der unter dem Label »links« und »queer« inzwischen betrieben wird. Möglich, dass sich dieser Verrat ganz schnell gegen die kehrt, denen man vorgibt, doch nur zu ihrem Recht verhelfen zu wollen.