Was ist eigentlich »Sex«?

Mehr als Verkehr

Sex, Sex, Sex. Überall ist von Sex die Rede. Aber was ist damit überhaupt gemeint?

Guter Sex tut gut, mit diesem Slogan wirbt der Hersteller eines Potenzmittels in Zeitungsanzeigen. Sex, zumindest guter, setzt also eine Erektion voraus. Was unter Sex zu verstehen ist, darüber scheint es keiner Diskussion zu bedürfen. Deshalb können Diät-Apps wie »Lose It« den damit verbundenen Kalorienverbrauch exakt beziffern. 23 Kalorien soll der Mensch pauschal in einer halben Stunde verbrennen. Relativ wenig übrigens: Sogar Jonglieren ist der App zufolge mit 85 Kalorien deutlich kraftraubender.
Merkwürdig, wo doch eine halbe Stunde Sex vielfältigere Praktiken umfassen kann als das Werfen von drei bis vier Bällen. Ein Aufklärungsportal für Jugendliche erklärt, Sex könne alles sein, »was ihr tut, um euch sexuell zu erregen, allein oder mit anderen – auch mit den Händen, dem Mund, mit Phantasien, Spielzeugen und so weiter«. Dass diese unterschiedlichen Betätigungen auch zu einem sehr unterschiedlichen Kalorienverbrauch führen müssten, erscheint zunächst ganz logisch. Wenn aber, und diesen Eindruck erweckt ein kurzer Blick in die Tageszeitung oder das Fernsehprogramm, »Sex« im Alltag als Synonym für den vaginalen Geschlechtsverkehr gebraucht wird, bleibt von der möglichen sexuellen Vielfalt wenig übrig.

Vielleicht steckt diese Beschränktheit schon in der Wortbedeutung – denn eigentlich bezeichne das Wort »Sex« überhaupt keine Handlungen, sondern die Zugehörigkeit zum männlichen oder weiblichen Geschlecht, sagt mein etymologisches Wörterbuch. Ursprung des Wortes ist das lateinische »secare«: trennen, unterscheiden. Unterschieden wird in exakt zwei Geschlechter, ohne diese Unterscheidung kein Sex. Trägt der Begriff also die Schuld daran, dass das Schreiben und Sprechen über Sex so häufig in vorgefertigten Kategorien geschieht?
Versuche, die Definition von Sex über den Austausch von Körperflüssigkeiten zwischen jeweils einem Mann und einer Frau hinaus zu erweitern, rufen jedenfalls starke Gegenwehr hervor. »Die nackte Wahrheit – lernen Kinder zu viel über Sex?« titelte kürzlich das Wochenmagazin einer Tageszeitung. Anlass war der Protest »besorgter Eltern« gegen Lehrpläne, die auch nicht fortpflanzungsorientierte Formen der Sexualität thematisieren. Zielscheibe der Proteste und schließlich auch der damit verbundenen Morddrohungen wurde die Professorin Elisabeth Tuider, Mitherausgeberin eines Handbuches zur »Sexualpädagogik der Vielfalt«.

Proteste gegen Aufklärung sind nichts Neues. Als aber 1969 die sexuelle Aufklärung erstmals zum verpflichtenden Unterrichtsinhalt wurde, richteten diese sich noch gegen jegliche Thematisierung der Fortpflanzung. Woher die kleinen Kinder kommen, diese Information will heute kaum noch jemand den eigenen Kindern vorenthalten. Alles, was nicht der Fortpflanzung dient, sondern einfach nur Spaß macht, scheint dagegen immer noch als Bedrohung empfunden zu werden. Tuider und ihre Mitherausgeberinnen regen dazu an, mit Jugendlichen über lesbischen, schwulen Sex zu reden, über SM-Praktiken – über alles, was mit Lust, mit Begehren zu tun hat. Denn konfrontiert werden sie sowieso damit. Porno war noch nie so zugänglich wie heute, Sex ist in unendlich vielen Erscheinungsformen medial verfügbar.
Jugendliche können sich jederzeit jeden Porno herunterladen, der sie anmacht – meist ohne überhaupt schon zu wissen, was das sein könnte. Wichtiger als der Wunsch, die eigenen Kinder beim Verstehen der Welt zu unterstützen, ist aber anscheinend das Bedürfnis, an den eigenen Unterscheidungen festzuhalten und andere auf ihre Plätze zu verweisen. Praktiken zu normalisieren, sie zum Diskursthema zu machen, statt sie zu exotisieren, entfesselt immer noch Ängste. Da kann es hilfreich sein, den Begriff »Sex« gleich zum Synonym für Geschlechtsverkehr, für Fortpflanzung zu erklären. Denn das erleichtert die Ausgrenzung aller anderen Praktiken aus dem Bereich des »Normalen«. Deshalb ist meist von der Penetration die Rede, wenn das Wort »Sex« fällt. Sex mit sich selbst ist damit ebenso wenig gemeint wie Sex, der keinen Penis beinhaltet. Ein praktisches Wort für Ordnungsliebende also.

Dabei ist der Begriff relativ neu in der deutschen Sprache. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde »Sex« zu einer gebräuchlichen Vokabel. Wo bleibt denn die Gesellschaft für die deutsche Sprache, wenn sie mal gebraucht wird? Das wäre doch ein Grund, früher gebräuchliche Begriffe wie »Liebesakt« oder »Verrichtung« wieder einzuführen. Die sind zumindest nicht an bestimmte Geschlechter gebunden – lieben oder das Nötige verrichten ist auch ohne die vorgeschriebene Anzahl der korrekten Geschlechtsorgane ohne Weiteres möglich.
Lange vor dem Sex wurde der Sexappeal eingebürgert, und vielleicht hat diese Einwanderungsgeschichte den Siegeszug des Begriffs auch erst ermöglicht. Denn die Verbindung zu Anziehungskraft und Erotik lässt auch das Wort »Sex« ganz harmlos erscheinen. Das digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache führt als Beispiele für dessen Verwendung »ein Film, Buch mit Sex« an, nennt aber auch »eine Frau mit Sex« und übersetzt einerseits mit der »Darstellung geschlechtlicher Handlungen«, andererseits mit »vom Geschlechtlichen ausgehender Anziehungskraft«. »Hat« eine Frau Sex in der gleichen Weise wie ein Buch? Warum ist der Begriff plötzlich so vieldeutig, wenn es nicht ums Praktische geht?
Eine Wortsuche in der größten deutschen Wochenzeitung zeigt: Zumindest der Sexappeal ist ausgestorben. Ausstrahlung allein scheint niemanden mehr vom Hocker zu reißen. »Zu sehen sind Tote beim Sex unter der Dusche oder als Radfahrer mit Sonnenbrille«, der erste Treffer stammt aus einem Bericht über Gunter von Hagens’ Plastinate. »Titus und Julie haben Sex miteinander, wobei bei Julie das Herz drinhängt, während Titus es eher als Freundschaftsdienst und sachliche Form der Triebabfuhr betrachtet.« Immerhin, aus dieser Buchrezension ist einiges über Sex zu erfahren: Irgendwie mit Gefühlen, mit Trieben hängt es zusammen. »Frauen reden untereinander viel mehr über Sex als Männer: detaillierter, interessierter daran, die Vorgänge und die Geschichten, die sich drumherum ranken, zu verstehen.« In diesem Interview mit einem Paartherapeuten taucht sie wieder auf, die definierende Unterscheidung: Männer haben anderen Sex als Frauen, auch wenn sie welchen miteinander haben.

Untersuchungen wie die Sex-Studie von 2008 kommen zu dem Ergebnis, dass Männer wie Frauen gern mehr Sex hätten, was auch immer genau damit gemeint ist. Die erste Erwähnung von schwulem Sex, die ich in der durchsuchten Zeitung finde, drückt diese Sehnsucht ebenfalls aus, nicht ohne sie mit einem Vorurteil zu verbinden: »Einige Hetero-Männer, die ich kenne, bringen ihre Vermutung, dass ich ständig unfassbar viel Sex hätte, immer mit einer Mischung aus Anerkennung und Neid zum Ausdruck.« Die erwähnten »Hetero-Männer« scheinen also zu wenig Sex zu haben. Womöglich hat auch das wieder mit einschränkenden Definitionen zu tun. Keine Spur also von all den aufregenden und vielfältigen Möglichkeiten, von denen das Aufklärungsportal erzählt, keine Spur von Experimentierfreude, Sex bleibt ein Spiel zwischen Mann und Frau, das nach bestimmten Regeln funktioniert. Das passt zu der Erfahrung lesbischer Frauen, die von der Gynäkologin auf ihre vermeintliche »Jungfräulichkeit« angesprochen werden. Die Vielfalt sexueller Praktiken, von denen im persönlichen Gespräch erzählt wird, existiert in der öffentlichen Wahrnehmung sowieso kaum. Ohne die Erzählung eines Freundes hätte ich niemals von »erotic vomiting« erfahren, ohne die Erfahrung einer Freundin mit ihrem gehörlosen Lover wüsste ich nichts von Whatsapp-Sex.
Guter Sex tut gut, so falsch ist der Slogan gar nicht. Allerdings lässt der sich kaum mittels Mittelchen herstellen – und messbar ist er auch nicht. Eine Enttäuschung für Ordnungsfanatiker.