Verschwörungstheoretiker befürchten die Errichtung eines »zweiten Israels« in Patagonien

Vereint in Paranoia

In Chile und Argentinien wächst die Angst vor einem »zweiten Israel« in Patagonien.

Im November ist das Urteil gegen Rotem Singer in zweiter Instanz bestätigt worden. Er kam mit einem Bußgeld für unerlaubtes Campieren davon. Ende 2011 hatte der damals 23jährige israelische Rucksacktourist im chilenischen Naturschutzpark Torres del Paine mutmaßlich durch ein Lagerfeuer einen verheerenden Waldbrand ausgelöst, als er abseits dafür ausgewiesener Flächen campierte. Eine sträfliche Fahrlässigkeit. Für die Kämpferinnen und Kämpfer gegen einen befürchteten zionistischen »Anden-Plan«, allen voran der argentinische Verschwörungstheoretiker Adrian Salbuchi, handelte es sich jedoch um eine große zionistische Verschwörung, die chilenische Bevölkerung Patagoniens durch Terror zu vertreiben.
Dass Singer, nachdem ihm seine Schuld nicht mit absoluter Sicherheit hatte nachgewiesen werden können, nur mit einem Bußgeld davonkam, ist für einen erheblichen Teil der chilenischen Öffentlichkeit ein Beweis für die Unterwanderung der Justiz durch den Zionismus. Und als sich eine israelische Jugendinitiative gründete, um in ehrenamtlicher ökologischer Arbeit das zerstörte Gebiet im Sommer 2015 wieder aufzuforsten – mittlerweile wird die Initiative von der israelischen Botschaft unterstützt, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken –, wurde dies von den Kommentarspalten der konservativen chilenischen Wochenzeitung La Segunda bis hin zur Facebook-Seite »Te pienso Chile«, einer Art Wutbürger-Forum, als offene Landnahme in Patagonien durch die Vortrupps des zweiten Israel interpretiert.

Patagonien ist der Traum aller zivilisationsmüden, naturverliebten Romantikerinnen und Romantiker und bietet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unerschlossenen Weiten und tourismusindustrieller Infrastruktur. Im Süden Argentiniens und Chiles gelegen, vereint Patagonien raue Küsten, lange Sandstrände, Gletscher, Gebirge, kalte Wüsten und Prärien. Die Region ist, abgesehen von der Schafzucht, für die Landwirtschaft größtenteils ungeeignet und bietet auch für urbane Besiedlung ungünstige Bedingungen, weshalb sich in ihr ein streckenweise unberührtes Naturparadies erhalten konnte. Im 19. Jahrhundert begann sich der Tourismus zu entwickeln, ausgelöst von britischen, französischen und US-amerikanischen Unternehmen, deren Führungskräfte von ihren Firmensitzen in Buenos Aires aus großbürgerliche Abenteuerreisen in die surreal anmutende Landschaft unternahmen. Es entstand eine große Menge an Reiseliteratur, Gedichten, Prosa und Fotobänden über das Gebiet. Zu den derart begeisterten Europäern gehörte auch Theodor Herzl: Wenn ein jüdischer Staat, der ihm im Europa Richard Wagners und der Dreyfus-Affäre als notwendiger Schutz der jüdischen Bevölkerung erschien, in Palästina nicht möglich wäre, so sei Patagonien die wohl schönste Alternative. Ob Herzl dies ernst meinte oder damit eher die Alternativlosigkeit eines jüdischen Staats in Palästina ausdrücken wollte, ist in der Forschung indes umstritten.
Tatsächlich ist Patagonien wegen seiner rauen Schönheit, seiner unendlichen Weiten und seiner dünnen Besiedlung bestens geeignet für die unterschiedlichsten Projektionen. Mittlerweile existieren hier diverse Hippiekolonien, in denen sich Menschen aus aller Welt der Errichtung ökologischer und oftmals spiritueller Parallelgesellschaften widmen. Für viel Aufmerksamkeit sorgte in den neunziger Jahren der Multimillionär Douglas Tompkins, Gründer der Modemarken Esprit und The North Face, als er ein riesiges Gebiet im chilenischen Patagonien zwecks Errichtung eines zusammenhängenden Naturreservats kaufte. Die neokoloniale Attitüde, mit der Tompkins ansässigen Fischern und der Kleinindustrie auf den Pelz rückte, rief neben allerlei berechtigter Empörung bereits damals Skurriles hervor: Aus dem Umfeld rechter Militärangehöriger wurde gestreut, Tompkins gehe es in Wirklichkeit um die Verwirklichung von Herzls Agenda zur Errichtung eines jüdischen Staats am Horn von Südamerika. Dass Tompkins kein Jude ist, konnte die Verbreitung des Irrsinns nicht verhindern. Wie dauerhaft der durch diese Verschwörungstheorie angerichtete Schaden ist, wird allerdings erst seit wenigen Jahren deutlich.
Patagonien, ein Traumziel des Rucksacktourismus, präsentiert sich jungen Israelis, die nach ihrer bis zu dreijährigen Wehrpflicht auf Weltreise fahren, immer feindlicher. Dabei waren es gerade sie, die den modernen Outdoor-Tourismus in Patagonien in den achtziger Jahren richtig in Schwung brachten und so die Grundlage für einen Wirtschaftszweig legten, der heutzutage vor allem im chilenischen Teil mit Abstand die Haupteinnahmequelle für Staat und Bevölkerung darstellt. Durch den Militärdienst topfit und nicht auf großen Luxus versessen, erschlossen junge Israelis die Berge und Gletscher Patagoniens für die Massen des Alternativtourismus, die inzwischen aus den USA, der EU und Japan dorthin strömen. Nach Englisch und Deutsch ist Hebräisch die häufigste Sprache, in die die Gästebestimmungen der Jugendherbergen und Hotels aus dem Spanischen übersetzt werden – israelische Touristen waren lange Zeit gern gesehen.

Im Zuge der neoliberalen Zurichtung der argentinischen und chilenischen Wirtschaft und Gesellschaft in den neunziger Jahren zogen sich die überschuldeten Staaten als Eigentümer von Land und öffentlichen Dienstleistungen gerade aus dem strukturschwachen Patagonien immer mehr zurück. Private Unternehmen begannen, das Transportwesen, die Stromversorgung, das Gesundheitssystem und teilweise auch das Bildungssystem zu kontrollieren. Neue Technologien machten die Ausbeutung großer Öl- und Gasvorkommen entlang der zerklüfteten Küste Patagoniens möglich. Die einsetzende Privatisierung im großen Stil stieß kaum auf Widerstand – einzige Ausnahme waren die indigenen Gemeinden. Die Linke, ob anarchistisch, kommunistisch oder sozialdemokratisch, begann mit einer Heroisierung des indigenen Widerstands als Ausdruck des kollektiven Anspruchs auf Land und Ökonomie. Dabei wurde der oftmals rassistische Umgang der chilenischen und argentinischen Bevölkerung mit den indigenen Gemeinden häufig unter den Teppich gekehrt. Nach den Wahlerfolgen der Mitte-links-Bündnisse in beiden Staaten galt es dann, die Enteignungsrhetorik der sozialen Bewegungen, die diesen Regierungen zu ihren Wahlsiegen verholfen hatten, in Einklang mit dem sozialpartnerschaftlichen Kurs gegenüber den nationalen industriellen Eliten zu bringen. Fortan war es ausschließlich das nicht-chilenische beziehungsweise nicht-argentinische Kapital, das »das Volk« enteigne und ausplündere.
Diese von sozialdemokratischer und konservativer Presse spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2008 propagierte Sicht auf die Ökonomie stärkte den chilenischen und argentinischen Antisemitismus. Von der Unterstützung rechter Militärdiktaturen durch das Pentagon und die CIA in den sechziger und siebziger Jahren traumatisiert, sind in der dortigen Linken Verschwörungstheorien weit verbreitet. Aufbauend auf die Projektion des eigenen antiimperialistischen Widerstands auf militante Palästinenser sind antisemitische Erklärungsmuster über die »wahren Drahtzieher« der real existierenden Ausbeutung sehr beliebt. Und die das »Dritte Reich« offen bewundernde chilenische und argentinische Rechte zählt eliminatorischen Antisemitismus ohnehin zu ihrer politischen Ideologie.

Seit etwa drei Jahren wird nun eine Volksfront gegen die befürchtete Errichtung eines zweiten Israel in Patagonien geschmiedet. Angeschoben von obskuren Medien sogenannter Gegeninformation wie Hispan TV, der spanischsprachigen ­Ausgabe des iranischen Staatsfernsehens IRIB, findet die Hetze der letzten Pinochet-Anhänger im chilenischen Militär gegen den Öko-Oligarchen Tompkins Eingang in den Mainstream. Der Bou­levardzeitung Las últimas noticias gab Eugenio Tuma, ein Abgeordneter der chilenischen Sozialdemokraten, 2011 ein Interview, in dem er vor dem angeblichen »Anden-Plan der Zionisten« warnte. Israelische Rucksacktouristen sind ihm zufolge nicht länger eine wichtige Einnahmequelle der eigenen Wirtschaft, sondern Agenten ihrer Regierung, die beabsichtige, Herzls Plan in Patagonien zu verwirklichen. Tuma sprach damit erstmals öffentlich aus, was in sozialen Netzwerken bereits tausendfach formuliert worden war. Der chilenische Christdemokrat Fuad Eduardo Chahin Valenzuela twitterte Anfang 2012, Israel schicke reihenweise Soldaten nach Chile, die zuvor »palästinensische Kinder ermordet haben«.
Dem Wahnsinn waren nun Tür und Tor geöffnet. Radiopolar, das führende Nachrichtenportal für beide Teile Patagoniens, vermeldete im November, die israelische Regierung habe eine »Kampagne« losgetreten, Rucksacktouristen nach Pa­tagonien zu bringen. Die Leserkommentare zu der Meldung fallen entsprechend aus – die berühmte Höhle von Milodón würde bald zur Höhle von Zion etc. pp. Und Kommentatoren fragten ernsthaft, wie es die chilenische oder argentinische Regierung zulassen könne, dass ausgebildete israelische Soldatinnen und Soldaten sich ungehindert in Patagonien bewegen. Der linksgewerkschaftliche Correo de los Trabajadores spricht von »bezahltem Urlaub« und argwöhnt: »Patagonien wurde auf Bestreben der argentinischen und chilenischen Regierung als Unesco-Weltnaturerbe unter UN-Schutz gestellt. Unter einem solchen stand einst auch Palästina.« Viele sehen ihre jeweilige Regierung schon auf der Gehaltsliste Israels. Angesichts der Eskalation der Gewalt aus und in Gaza im Sommer waren sich Abertausende chilenischer und argentinischer Facebook-User nicht zu blöd, ihre Gaza-Solidaritätspostings mit fiktiver eigener Betroffenheit zu verbinden: Nicht viel fehle, bis ihnen dasselbe Schicksal wie der kurz vor der Vernichtung stehenden Bevölkerung Gazas drohe. Beliebtester »Beweis« dafür war der Waldbrand, den mutmaßlich Rotem Singer ausgelöst hatte.