Litauens Wirtschaft und der Euro

Der Musterschüler aus dem Norden

Litauen ist das jüngste Mitglied der Euro-Zone. Die Begeisterung der Bürgerinnen und Bürger für diese Entscheidung hält sich in Grenzen. Vor einigen Jahren stand das Land kurz vor dem Bankrott.

Ein Reiter stürmt voran und scheint mit seinem Schwert wild zum Kampf entschlossen. Das Motiv der neuen litauischen Euromünze erinnert an die glorreichen Zeiten des kleinen baltischen Landes, als es, gemeinsam mit Teilen des heutigen Polen, Osteuropa dominierte. Lange währte diese Phase nicht, in den folgenden Jahrhunderten konnte Litauen nur für kurze Zeiten seine Souveränität bewahren. Der symbolische Rekurs auf die heroische Vergangenheit soll nun der Bevölkerung helfen, eine neue Ära zu akzeptieren, in der ein zentrales nationalstaatliches Symbol verschwindet. Die Nationalwährung Litas, die erst vor rund 20 Jahren wieder eingeführt wurde, existiert nicht mehr, denn seit Anfang des Jahres gehört Litauen als 19. Land der Eurozone an.
Nicht alle sind mit dieser Entscheidung glücklich. Ein Teil der litauischen Bevölkerung misstraut der neuen Währung, was mehrere Umfragen in den vergangenen Monaten belegen. Demnach sprach sich nur knapp die Hälfte aller Litauer für den Euro aus. Zwei Drittel sind sich nicht sicher, ob die Gemeinschaftswährung tatsächlich Vorteile bringt.

Keinen Zweifel kennt hingegen die litauische Regierung, die den Beitritt zur Euro-Zone zu einer großen Erfolgsgeschichte verklärt. »Der Euro ist nicht nur eine Münze oder ein Stück Metall – für uns bedeutet er, zum richtigen Club dazuzugehören«, erklärte Außenminister Linas Linke­vicius begeistert, als im Sommer vergangenen Jahres der Beitritt endgültig beschlossen wurde.
Die Regierung in Vilnius ist auch deshalb stolz, weil Litauen bereits 2007 den Euro einführen wollte. Damals scheiterte das Vorhaben an der Inflationsrate, die eine Stelle hinter dem Komma von der Vorgabe der Europäischen Union abwich. Litauen koppelte daraufhin den Litas an den Euro. »Wir haben de facto den Euro bereits«, meinte die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die seit 2009 im Amt ist, deshalb bereits vor zwei Jahren. »Unsere Währung ist direkt an den Euro gebunden zu einem festen, starken Kurs«. Die Europäische Zentralbank könne damit indirekt über die Geldpolitik des Landes bestimmen, während die Regierung in Vilnius kaum mehr Einfluss auf die Währungspolitik habe. Es gebe also »gute Gründe, dem Euro beizutreten«, sagte Grybauskaitė weiter.
Tatsächlich zog die Staatspräsidentin alle Register, um die Kriterien aus Brüssel zu erfüllen. Als Litauen, ähnlich wie die baltischen Nachbarn Lettland und Estland, 2009 mit voller Wucht von der Finanzkrise getroffen wurde, setzte Grybauskaitė drastische Maßnahmen durch. Bei den »Baltischen Tigern«, wie die drei Länder noch während ihrer Boom-Phase bezeichnet wurden, basierte das rasante Wachstum ab Ende der neunziger Jahre vor allem auf den Banken und dem Immobiliensektor. Die Geldinstitute vergaben wegen der niedrigen Zinsen unbeschwert Kredite, die jedoch an ausländische Währungen wie Euro und Dollar gebunden waren. Infolge der Finanzkrise stürzten die Immobilienpreise ab. Bauvorhaben wurden gestoppt, die Arbeitslosenrate kletterte steil nach oben. Viele Litauerinnen und Litauer konnten ihre Kredite nicht mehr bedienen, weil der Litas an Wert verlor. Die litauische Wirtschaft schrumpfte in einem Jahr um fast 15 Prozent, während die offizielle Arbeitslosenrate auf 18 Prozent anstieg. Litauen stand kurz vor dem Staatsbankrott, in Estland und Lettland sah es nicht viel anders aus.

Was folgte, war eine Art Fallstudie, welche Sparmaßnahmen durchgesetzt werden können, ohne dass eine Gesellschaft vollständig auseinanderbricht. Die Regierung reduzierte die Staatsausgaben um ein Drittel, im öffentlichen Dienst wurden die Löhne um 20 bis 30 Prozent gesenkt, die Renten um elf Prozent gekürzt. Für viele Produkte, darunter Medikamente und Alkohol, wurden die Steuern drastisch erhöht. Die Regierung sparte damit eine Summe von rund neun Prozent des Bruttoinlandprodukts ein und rettete sich dadurch vor dem Bankrott. Zugleich erhielten die Suppenküchen massenhaft Zulauf, während die Indikatoren für soziale Ungleichheit europäische Spitzenwerte erreichten. Grybauskaitė erhielt damals, in Anlehnung an die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher, den Beinamen »Eiserne Lady«.
Eine ähnliche Entwicklung spielte sich in den beiden baltischen Nachbarländern ab. So musste Lettland 2009 einen Kredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds aufnehmen, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden – eine Summe, die rund einem Drittel des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach. Die damalige lettische Regierung reagierte mit einer »Schocktherapie«: Massenentlassungen im öffentlichen Dienst gehörten ebenso dazu wie Gehaltskürzungen um bis zu 60 Prozent bei Lehrern und anderen staatlichen Angestellten. Über die Hälfte der 56 Krankenhäuser des Landes wurden geschlossen, ebenso Schulen.
Zwar kam es in den baltischen Ländern anschließend zu teils gewaltsamen Protesten, doch die Demonstrationen und Auseinandersetzungen nahmen bei weitem nicht die Dimension an, wie man sie wenig später in vielen südeuropäischen Ländern erleben konnte. Wer sich der tristen Realität nicht fügen wollte, wählte meist einen anderen Weg. Auf dem Höhepunkt der Krise wanderten bis zu 90 000 Litauerinnen und Litauer jährlich aus. Für das Land, das insgesamt nur drei Millionen Einwohner zählt, ein gravierender Verlust, zumal vor allem junge und hoch qualifizierte Menschen ihr Glück im Ausland suchen. In Lettland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten ebenfalls jeder fünfte Einwohner das Land verlassen.

Seit 2011 beträgt das Wirtschaftswachstum in den baltischen Staaten wieder zwischen drei und fünf Prozent. Damit weisen sie die stärksten Raten in der EU auf. Zudem liegt die Staatsverschuldung in den drei Ländern zwischen zehn und 38 Prozent des BIP – was sie in Zeiten der Eurokrise zu Musterschülern der europäischen Finanzpolitik macht. Kein Wunder also, dass die baltischen Staaten besonders eifrig den Sparkurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützen. »Wir müssen die Lage der Deutschen verstehen. Sie sind es, die zu einem großen Teil für die Rettungspakete zahlen müssten. Es ist gerechtfertigt, dass Berlin die Richtung vorgibt«, sagte Gry­bauskaitė. Wenig Verständnis zeigt sie hingegen für jene Euro-Länder, die ihre Schulden nicht in den Griff bekommen haben. »Es gibt unterschiedliche Mentalitäten und unterschiedliche Vorstellungen von politischer Verantwortung im Norden und im Süden Europas«, sagte sie. Erst vor zwei Jahren hatte der lettische Finanzminister gefordert, Griechenland so schnell wie möglich aus der Euro-Zone auszuschließen, weil es die Sparvorgaben nicht erfüllte.
Die soliden Haushaltszahlen täuschen jedoch darüber hinweg, dass Litauen das Vorkrisenniveau noch längst nicht wieder erreicht hat. Inzwischen beträgt ein durchschnittliches Gehalt rund 600 Euro, der Mindestlohn liegt bei 250 Euro. Im Winter sind die Heizkosten jedoch immens, sie machen oft rund die Hälfte des Einkommens aus.

Die hohen Energiepreise sind vor allem der Abhängigkeit von Russland geschuldet. Litauen, Lettland und Estland beziehen ihr Erdgas und ihr Erdöl praktisch zu 100 Prozent von ihrem großen Nachbarn. Russische Erdgaskonzerne besitzen zudem große Anteile an den baltischen Erdgasfirmen. Diese Monopolstellung hat Russland in den vergangenen Jahren dazu genutzt, um die Energiepreise in die Höhe zu treiben. Während die europäischen Staaten 2012 für russisches Erdgas durchschnittlich 381 Dollar pro 1 000 Kubikmeter bezahlten, sind es in Litauen 497 Dollar. »Reine Erpressung«, wie Grybauskaitė meint.
Litauen will sich deshalb so schnell wie möglich aus dieser Abhängigkeit befreien und baut an einem Flüssiggasterminal in der litauischen Hafenstadt Klaipeda. Bis dieses in Betrieb ist, soll nun das riesige Versorgungsschiff »Independence«, das vor Klaipeda vor Anker liegt, Flüssiggas anliefern. Mit dem Frachter könnte Litauen mehr Gas importieren, als es selbst verbraucht – und die russische Dominanz auf dem Energiesektor dauerhaft brechen.
Eine eigene Energieversorgung gehört schließlich ebenso wie die wirtschaftliche Integration in Europa zu den zentralen Zielen der regierenden neoliberalen Führung in Vilnius. Die Einführung des Euro ist für sie ein weiterer wichtiger Schritt, um sich endgültig von der früheren russischen Hegemonie zu emanzipieren – auch wenn diese eine ganz neue Abhängigkeit bedeutet, gegen die weder Reiter noch Schwerter helfen.