Der Torwart im Wandel Zeit 

Die Angst des Fußballs vor dem Torwart

Im Januar wird das Ergebnis der Wahl des Weltfußballers 2014 präsentiert. Gute Chancen, die seit 2010 als »Ballon d’Or« betitelte Ausschreibung der Fifa zu gewinnen, hat Manuel Neuer – es wäre das erste Mal, dass ein Torwart zum Weltfußballer gekürt wird. Seine Nominierung deutet an, wie sehr sich die Rolle des Torwarts im modernen Fußball verändert.

Wenn die Juroren der Fifa am 12. Januar in Zürich den Weltfußballer 2014 küren und Manuel Neuer, Torhüter des FC Bayern München, dann diesen Titel gewinnen sollte, wäre das sicherlich auch ein Meilenstein der Fußballgeschichte. Denn lässt man einmal die liederlichen, kollektivpsychotischen Argumente beiseite, die hierzulande pro Neuer geäußert werden, und die in ihrer Mehrheit bislang auf einer Mischung aus bornierter nationaler Überheblichkeit, modernisierten Vorstellungen von teutonischer Torwartgewalt und dem gekränkten Bewusstsein davon fußen, dass seit Lothar Matthäus 1991 kein deutscher Fußballer mehr zum Weltfußballer taugte – dann könnte man Neuers Wahl ganz objektiv durchaus als Paradigmenwechsel für eine Zunft begrüßen, die angesichts ihrer Wichtigkeit auf dem Feld bislang eher zu kurz gekommen ist: Zum ersten Mal würde einem Torhüter diese Auszeichnung verliehen werden. Cristiano Ronaldo von Real Madrid und Lionel Messi vom FC Barcelona, die derzeit sicherlich begnadetesten Ausnahmespieler, würden das Nachsehen haben.
Torhüter wurden in der Fußballgeschichte schon immer eher als störendes Element betrachtet. Trotz ihrer Unverzichtbarkeit hat man sie mindestens belächelt. Gute Leistungen wurden durch die Erinnerung an schwere Patzer überschattet. Oliver Reck beispielsweise war der Statistik zufolge einer der besten Bundesliga-Keeper, aber was von seinem Ruf übrig blieb, war sein Spitzname »Pannen-Oli«.
Torhüter stachen schon rein optisch, nämlich eben durch ihre abweichenden Trikots aus dem Mannschaftsgefüge heraus, dem sie natürlich trotzdem genauso angehören wie jeder andere Spieler auch. Aber die Tatsache, dass Keeper den Ball innerhalb eines abgesteckten Raumes mit der Hand berühren dürfen, ohne sanktioniert zu werden, wo doch schon der Name des Spiels ein ganz anderes Körperteil in den Mittelpunkt stellt, verlieh dem Torwart eine besondere Rolle, die seit jeher unter entsprechender Beobachtung und Bewertung stand.
Der Torhüter verkörpert in einem Spiel, dessen taktische Ausrichtung und mediale Präsenz immer noch zum Großteil auf schöne Tore und spektakuläre Kombinationen ausgelegt ist, eher den Spielverderber. Mit einer Glanzparade rettet er sein Team vielleicht vor einer Niederlage, mit einem Fehler leitet er in den meisten Fällen ein Gegentor ein – was die Eleganz einer Glanzparade schon von Grund auf schmälert. Selten gibt es Anerkennung für 89 starke Minuten, wenn in der 90. Minute der Ball durch die Beine rutscht oder eine Flanke ins eigene Tor geboxt wird. Der Torwart muss das Spiel als jemand antizipieren, dessen Aufgabe nicht darin besteht, den Durst der Zuschauer nach Toren, Hattricks, Seitfallziehern und Lupfern zu befriedigen. Es mag in diesem Sinne bezeichnend sein, dass einige der bekanntesten Torhüter – José Luis Chilavert, Jörg Butt, René Higuita oder auch Petar Radenković – durch quasi fußballerische Einlagen wie Freistöße, Elfmeter und Dribblings so populär wurden und weniger durch ihre torwartspezifischen Qualitäten. Das macht die Rolle des Torhüters so sensibel.
Dementsprechend dürfte Rolland Courbis, der Trainer des französischen Erstligisten HSC Montpellier, mit seiner Meinung über Neuers Nominierung stellvertretend für die immer noch gängige Mehrheitsmeinung stehen: »Wie kann man den Ballon d’Or jemandem geben, der im wichtigsten Spiel der Saison vor eigenem Publikum vier Tore (beim 0:4 im Cham­pions-League-Halbfinale gegen Real Madrid voriges Jahr; Anm. C.K.) kassiert hat?«
Gleichwohl deutet Neuers Auswahl als Goldball-Kandidat an, wie wichtig die Rolle ist, die dem Torwart in den modernen Spielsystemen mittlerweile zugestanden wird. Durch die Etablierung der »Viererkette«, die als System nicht nur bedeutete, dass die Abwehrkette auf einer Linie spielt, sondern das komplette Team als kompakte Einheit in Defensive wie Offensive agiert, ergaben sich neue Anforderungen: nämlich ballorientiert zu verschieben, was mitunter bedeutete, recht hoch zu stehen. Weil das aber die Gefahr langer Diagonalbälle in den Rücken der Abwehr oder von Steilpässen in die Schnittstellen der Abwehrkette mit sich brachte, musste im Zuge der allgemeinen Veränderung des Spiels vor allem das Torwartspiel verändert werden.
Beschränkte sich der Aktionsradius des Keepers einst auf den eigenen Sechzehner, also auf das bloße Verhindern von Toren in »seinem« Raum, waren die Anforderungen nun gewachsen: Nicht nur die Strafraumbeherrschung und die originäre Torwarttechnik der Torvereitelung auf der Linie, sondern auch das Mitspielen außerhalb des Strafraums wurden zur Aufgabe. Bälle, die in den Rücken der Viererkette gespielt werden, müssen mittlerweile vom weit aufgerückten Torwart abgelaufen werden, um sie im Spiel halten zu können und Konterchancen zu verhindern. Gezielte Pässe, Abwürfe und Abschläge, schnell ausgeführt und taktisch einstudiert, gehören mittlerweile ebenfalls zum Repertoire des modernen Torwarts. Taktikexperten prophezeien sogar schon die »Torwartkette«, in der der Torhüter die meiste Zeit des Matches als zusätzlicher Spieler in der Abwehrkette agiert und entsprechende fußballerische Qualitäten besitzen muss, um auf hohem Niveau mithalten zu können. Mancher Bundesligatrainer hat seinen Torhüter deswegen schon bei Vorbereitungsspielen als Innenverteidiger spielen lassen.
Manuel Neuer indes radikalisierte unter Pep Guardiola das moderne Torhüterspiel weiter. Es fehlt ihm zwar bisweilen die technische Eleganz, die beispielsweise Robert Enkes Torwartspiel so sympathisch machte, und sicherlich ist die penetrante Überhöhung Manuel Neuers zum Musterprofi, der sich ganz auf die mentalen wie physischen Anforderungen des modernen Fußballs »fokussieren« könne (Joachim Löw), auch von einer nicht auszuhaltenden Kompatibilität mit einer Angestelltenkultur, die durch flexible Leistungsbereitschaft und Selbstoptimierung gekennzeichnet ist. Doch für einen Torwart, der »auf Schalke« ausgebildet wurde, hat er es zugegebenermaßen ziemlich weit gebracht – und wird daher nicht zu Unrecht als derzeit bester Torwart der Welt gehandelt.
Dass sein Erfolg allerdings tatsächlich einen vollständigen Paradigmenwechsel für die gesamte Torwartzunft einläuten wird, könnte an Menschen wie Rolland Courbis scheitern, der auf der bereits angesprochenen Pressekonferenz keinen Zweifel an seiner Geringschätzung für eine Position ließ, die doch eigentlich so wichtig für das Spiel ist: »In 30 Jahren wird dich dein Sohn fragen: ›Vater, war Neuer wirklich besser als Messi und Cristiano Ronaldo?‹ Dann musst du dich winden, um so eine Dummheit zu beantworten.«