Die Möglichkeit, virtueller Staatsbürger Estlands zu werden

Este werden leicht gemacht

Seit dem 1. Dezember können alle Menschen, also auch Nicht-Esten im Ausland, gegen eine kleine Bearbeitungsgebühr eine virtuelle Staatsbürgerschaft Estlands erwerben. Das ist vor allem für Unternehmer interessant.
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Estland tickt schon lange ein wenig anders: In keinem Land der Welt ist die Digitalisierung des Alltags so weit fortgeschritten wie in dem kleinen baltischen Land am nordöstlichen Rand der Europäischen Union. Esten sind es gewohnt, Behördengänge nur noch online zu erledigen und Verträge in elektronischer Form abzuschließen – sogar Wahlen finden dort per Internet oder SMS statt. Seit dem 1. Dezember 2014 kommen auch Nicht-Esten in den Genuss einiger dieser Online-Angebote. Alle Interessierten können gegen eine Bearbeitungsgebühr von 50 Euro die E-Residency erwerben – eine virtuelle Staatsbürgerschaft.
Das ist allerdings eher ein Marketing-Begriff, der nichts mit einer echten Staatsbürgerschaft zu tun hat. Sie berechtigt weder dazu, sich in Estland aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, noch dort wählen zu gehen oder andere Rechte eines Staatsbürgers in Anspruch zu nehmen. Wer als Privatperson also hofft, mit einer virtuellen estnischen Staatsbürgerschaft der oft umständlichen deutschen Bürokratie zu entkommen, wird enttäuscht. Eigentlich handelt es sich nur um einen Service zur Online-Identifikation, der vor allem für Unternehmer und Freiberufler interessant ist, die viel reisen oder aus anderen Gründen einen großen Teil ihrer Geschäfte online erledigen wollen oder müssen.

Die virtuellen Neu-Esten erhalten keinen Pass, sondern eine ID-Karte samt USB-Lesegerät, mit der sie sich online ausweisen können. »Zwei-Faktor-Authentifizierung« ist der Fachbegriff für das Verfahren, eine Karte irgendwo reinzustecken und zusätzlich eine Pin anzugeben, um auf diese Weise online seine Identität zu bestätigen. Das ist Voraussetzung für das Online-Banking bei estnischen Banken, vor allem aber praktisch, um Dokumente digital zu unterschreiben, Verträge papierlos abzuschließen und verschlüsselt zu kommunizieren. Etwas Ähnliches gibt es in Deutschland mit dem elektronischen Personalausweis, dessen Online-Nutzung sich aber bis heute nicht einmal ansatzweise durchsetzen konnte, obwohl über 20 Millionen Stück davon im Umlauf sind. Ein Grund mögen die tatsächlichen Sicherheitslücken sein, ein anderer aber auch die Mentalität im Umgang mit Verträgen: Die haben in Deutschland auf Papier zu stehen und eine Unterschrift zu tragen, während es in Estland umgekehrt ist: Dort macht man sich mit altmodischen Papierdokumenten eher verdächtig.
Dabei würde eine ID-Karte in einigen Branchen die Abwicklung von Geschäften tatsächlich sehr vereinfachen und beschleunigen. Das eigentlich Interessante an der estnischen E-Residency ist aber die Möglichkeit, Unternehmen in Estland zu registrieren und dann dort nur noch pauschal 21 Prozent Einkommensteuer zu zahlen, wobei reinvestierte Gewinne steuerfrei bleiben. Jahresbilanz, Handelsregistereinträge und Steuererklärung werden allesamt online abgegeben – ein gewaltiger Unterschied beispielsweise zu Deutschland, das für Einträge ins Handelsregister heute noch den Gang zum Notar vorschreibt. Eine Kuriosität am Rande sind digitale Rezepte für Medikamente, die sich ausstellen lassen kann, wer einen Arzt und eine Apotheke außerhalb Estlands findet, die sich drauf einlassen. Mehr können virtuelle Esten mit ihrer ID-Karte bis auf weiteres nicht anstellen.

Hinter dem Projekt steht der ehemalige Start-up-Gründer Taavi Kotka. In anderen Ländern wäre er so etwas wie ein Behördenchef oder Informationsminister, in Estland trägt er den Titel »CIO« – Chief Information Officer der Regierung, ganz als handele es sich bei Estland um ein Unternehmen. Und wie es sich für ein Start-up gehört, ist die E-Residency erstmal noch »beta«. Vieles sei verbesserungswürdig, so Taavi Kotka, aber man lege einfach schon mal los. Wer sich registrieren möchte, muss derzeit noch nach Estland reisen und in einer Grenz- oder Polizeistation einen Antrag stellen. Dabei werden unter anderem Fingerabdrücke genommen und die Iris gescannt und in Form biometrischer Daten auf der ID-Karte gespeichert. Was wie eine erkennungsdienstliche Behandlung klingt, ist auch eine: Schließlich muss Estland irgendwie sicherstellen, dass die Identitäten, die online verwaltet werden sollen, echt sind. Zusätzlich findet ein interner Abgleich mit verschiedenen Datenbanken statt, um sicherzugehen, dass gegen die jeweilige Person kein Haftbefehl vorliegt und sie nicht als Terrorist eingestuft wird. Da ist zu befürchten, dass außen vor bleibt, wer aus Versehen oder wegen eines unbewiesenen Verdachts in einer Terrordatenbank gelandet ist, was durchaus nicht selten vorkommt. Die Antragsteller müssen nach zwei Wochen wiederkommen und können dann ihre ID-Karte abholen. Ab Ende 2015 soll dazu keine Reise nach Estland mehr nötig sein, sondern nur noch ein Besuch in einer estnischen Botschaft. Kosten über Ausgaben für die Reise und eine Bearbeitungsgebühr von 50 Euro hinaus fallen nicht an.
Was die virtuelle Staatsbürgerschaft den estnischen Fiskus kostet, kann Taavi Kotka gar nicht so genau sagen. Die Plattform ist die gleiche, die auch estnische Staatsbürger benutzen, und ist sowieso vorhanden. An ihrer Anpassung arbeite eine Handvoll der etwa 1 000 Mitarbeiter, die Estlands staatliche IT aufrechterhalten. Während das Projekt also kaum etwas kostet, soll es dem Staat langfristig hohe Einnahmen bringen. Zunächst geht es Taavi Kotka aber darum, möglichst viele virtuelle Staatsbürger zu gewinnen. Taavi Totka hofft auf zehn Millionen bis zum Jahr 2025 – bei 1,3 Millionen estnischen Einwohnern. Immerhin 10 000 Personen haben sich bereits vorab online angemeldet. Die meisten würden sicherlich keine Start-ups gründen, sondern nur die Möglichkeit nutzen, sich online auszuweisen. Heute gebe es aber etwa 30 000 Unternehmen in Estland, das wegen des Rückgangs beim Handel mit Russland in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt. Ließe sich diese Zahl der in Estland gemeldeten um 10 000 steigern, würde das der estnischen Wirtschaft einen ordentlichen Schub verleihen – und die Steuereinnahmen erhöhen. Estland würde zu einer Steueroase mit nicht ganz so niedrigen Steuersätzen wie in anderen Steueroasen, wo sich aber Unternehmen einen hohen Aufwand an Bürokratie sparen könnten.

Wer kein Este ist und auch kein Unternehmer werden will, kann da nur die Schultern zucken oder ein wenig neidisch sein auf das in Teilen unkomplizierte Leben in Estland. In Deutschland beschränken sich die Online-Angebote weitgehend auf die absurd komplizierte Software »Elster« zur Abgabe der Steuererklärung beim Finanzamt und die Möglichkeit, bei diversen Ämtern Termine online zu reservieren, statt Nummern in Wartebereichen von Ämtern zu ziehen. Estland könnte von der digitalen Rückständigkeit in Deutschland und weiten Teilen der EU profitieren: Die »EU-Verordnung für elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt« (eIDAS-VO) regelt, dass Mitgliedsstaaten die elektronische Identifikation ab 2016 schrittweise gegenseitig anerkennen müssen. Irgendwann in den folgenden Jahren wird also ein virtueller Este seine E-Staatsbürgerschaft auch daheim einsetzen können, wenn er oder sie EU-Bürger ist.
Bleibt die Frage nach Sicherheitslücken. Hier plädieren die Verantwortlichen für einen Wechsel der Perspektive: Papierdokumente können leicht gefälscht und relativ unkontrolliert weitergegeben werden, während Hacker-Attacken, von denen Estland schon einige erleben musste, leichter zurückverfolgt werden können. Das stimmt zwar nur in der Theorie, Estland erhofft sich aber aufgrund der Digitalisierung von wirtschaftlichen Abläufen und der damit einhergehenden Überwachung im Endeffekt weniger Korruption. So wird die virtuelle Staatsbürgerschaft zu einer seltsamen Mischung aus mehr Überwachung einerseits und mehr Komfort und Freiheiten andererseits – was aber vor allem zunächst Unternehmen zu gute kommt, während Erika Mustermann weiterhin kaum einen Grund haben dürfte, die estnische E-Residency zu erwerben. Es ist die Verwirklichung eines liberalen Traums in Zeiten der Globalisierung und hoffentlich ein Anstoß, Bürokratie irgendwann auch in anderen Ländern für weite Teile der Bevölkerung zu vereinfachen, löst aber keine Probleme oder Konflikte rund um Nationalität und Staatsbürgerschaft. Und leider ist die virtuelle Staatsbürgerschaft schon gar keine Antwort auf die Flüchtlingsströme an den Außengrenzen der EU.