Die litauische Flüchtlingspolitik

Soldaten rein, Flüchtlinge raus

Die litauische Flüchtlingspolitik dient vor allem dem Zweck, Menschen festzunehmen, bevor sie weiter nach Deutschland reisen. Im Land bleiben wollen nur die ­wenigsten.

Pabradé ist ein verschlafenes Dorf mit 6 000 Einwohnern im Osten Litauens, nahe der Grenze zu Belarus. Das Interessanteste, was Wikipedia über das Dorf zu berichten weiß, ist, dass es auf der Eisenbahnstrecke von Vilnius nach Daugavpils liegt.
Daher ist es wenig verwunderlich, dass die Bewohner dankbar für jede Form von Unterhaltung sind, unter anderem diejenige, die ihnen am 9. November von Truppen der Nato beschert wurde. Bei einem Tag der offenen Tür durften die ganz Kleinen unter Beaufsichtigung der Soldaten mal eine echte Panzerfaust in die Hand nehmen, während die etwas Älteren auch in einem Panzer sitzen durften. Das Unterhaltungsprogramm fand im Rahmen der Militärübung »Iron Sword« statt, die nahe der Kleinstadt vom 2. bis zum 13. November abgehalten wurde. Daran beteiligten sich 2 500 Soldatinnen und Soldaten aus neun Nato-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland.
Die Annektion der Krim hat bei den Balten unschöne Erinnerungen geweckt. Die Angst vor dem russischen Großmachtstreben ist allgegenwärtig in der litauischen Gesellschaft. Als Antwort auf russische Militärmanöver wurden verstärkt Nato-Truppen nach Osteuropa verlegt und Manöver abgehalten.
Auf dem ehemaligen Militärgelände der Kleinstadt gibt es noch etwas, vor dem manche Menschen Angst haben: das sogenannte »Foreign Registration Center«, das das einzige litauische Abschiebegefängnis und ein Asylbewerberheim vereint. Litauen ist nicht nur Nato-Mitglied, sondern auch in die Bekämpfung von irregulärer Migration nach Europa bestens integriert. Der Zweck des »Foreign Registration Centers« ist es, »illegale Einwanderer« in Gewahrsam zu nehmen, die Asylbewerber unterzubringen, die Personalien der Flüchtlinge und die Umstände ihrer Einreise zu überprüfen und »Illegale« abzuschieben, wie der Mitarbeiter und Pressesprecher Thomas Cepulkovskis, die Jungle World bereits voriges Jahr bei einem Besuch des ehemaligen ­Militärgeländes wissen ließ (JungleWorld 6/2014). Bereits damals hat Cepulkovskis eingestanden, dass das Essen in der Mensa nicht immer das beste ist. Wenig später rief dieses die litauische Gleichstellungsbeauftragte Edita Žiobienė auf den Plan, weil Buddhisten und Muslime gegen ihren Willen Fleisch beziehungsweise Schweinefleisch ohne eine Alternative vorgesetzt bekamen. »Wir müssen davon ausgehen, dass Gefangene diskriminiert wurden und keine Rücksicht auf ihre religiösen Gefühle genommen wurde«, sagte sie. Nachdem dies in der litauischen Presse Thema war, wurde die Ernährungspolitik geändert. Die Menschen in Abschiebehaft haben nun die Möglichkeit, ein vegetarisches Menü zu wählen. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht, dass die Abschiebehäftlinge schlecht behandelt werden, sondern dass Politiker nach Medienberichten gezwungen sind, sich zu den Haftbedingungen zu äußern. Das Thema Flüchtlingspolitik steht in Litauen sonst nicht im Fokus des öffentlichen Interesses, weil die meisten »Illegalen« das Land nur zur Durchreise wählen.

Die Geschichte der litauischen Flüchtlingspolitik begann 1997, als das »Foreign Registration Center« vom litauischen Innenministerium gegründet wurde. Eine rechtliche Grundlage für Asylverfahren und den Umgang mit »illegalen Migranten« gab es damals noch nicht, sie wurde daraufhin mit Beratung durch EU, insbesondere Deutschland, erarbeitet. Lange vor dem EU-Beitritt wurde Litauen bei der Ausbildung von Grenzpersonal sowie durch die Bereitstellung von Technik zur Grenzüberwachung von EU-Staaten unterstützt. In einem Bericht aus dem Jahr 1998 beschrieb Beat Leuthardt die Situation im Amnesty Journal: »Das Lager von Pabradé ist elend. 900 Menschen leben auf engstem Raum. 200 Männer müssen sich eine Nasszelle mit drei Toiletten teilen, und zum Duschen reicht es einmal pro Monat, vorausgesetzt WC-Anlagen und Duschen stehen nicht unter Wasser, wie dies auch bei unserem Besuch gerade wieder der Fall war. In den Schlafräumen der beiden freigeräumten Kasernentrakte liegen die Männer dicht an dicht. Die Bilder gleichen jenen aus Erdbebengegenden in der ersten Nacht der Obdachlosigkeit.« Diese Bedingungen waren Ergebnis des Drucks der EU. Die Menschen sollten bereits weit vor den deutschen und schwedischen Grenzen davon abgehalten werden, diese zu überqueren.
Seitdem haben sich die Bedingungen geändert. Inzwischen ist Litauen in der EU und in Pabradé werden nur noch acht Personen, nach Ethnien getrennt, in einem Zimmer untergebracht. Das Abschiebegefängnis ist zwar immer noch schäbig, aber nicht so, dass es Empörung auslösen oder Gerichte auf den Plan rufen würde. Unweit der Haftanstalt befindet sich eine Flüchtlingsunterkunft. Die direkte Nachbarschaft zwischen Heim und Gefängnis macht deutlich, wie willkürlich den Betroffenen die Entscheidung vorkommen muss, wer in die EU hinein darf und wer in Abschiebehaft landet. Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien können unter gewissen Umständen darauf hoffen, subsidiären Schutz oder Asyl zugesprochen zu bekommen. Die meisten Menschen hier sind jedoch georgische Staatsbürger und Tschetschenen mit russischer Staatsbürgerschaft. Sie haben in der Regel keine Chance und landen sofort in Abschiebehaft, nachdem sie von der Polizei aufgegriffen wurden. Die Lebensbedingungen in der Flüchtlingsunterkunft sind etwas besser als in dem Gefängnis. Die Asylbewerber dürfen das Gelände verlassen, haben etwas mehr Raum, bekommen etwa zehn Euro im Monat und sind nicht von Stacheldraht umgeben. Für die Verpflegung der Asylsuchenden stehen den Behörden etwa 1,70 Euro pro Tag zur Verfügung. Mit­arbeiter und Freiwillige des Roten Kreuzes sorgen in einem nahegelegen Gebäude für ein wenig kulturelles Programm für die Geflüchteten in der Einöde.

Die meisten, die »illegal« nach Litauen einreisen, wollen weiter Richtung Westen, worin sie übrigens vielen Litauern ähneln. 1992 hatte Litauen noch 3,7 Millionen Einwohner, inzwischen sind es weniger als drei Millionen. Meistens sind es junge Menschen, die sich nach Großbritannien und Irland aufmachen, weil sie sich dort bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhoffen. Hinzu kommt die weltweit höchste Selbstmordrate. Einwanderung würde dem Land also durchaus gut tun. Daher müssten sich die litauischen Grenzbehörden von sich aus nicht um irreguläre Migra­tion scheren. Die strikten Grenzkontrollen dienen vor allem dem Zweck, Menschen von Westeuropa und insbesondere Deutschland fern zu halten.
Dass es nur die wenigsten in Litauen hält, könnte auch mit Ressentiments in der Bevölkerung zusammen hängen. Obwohl Juden und Muslime zusammengenommen weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung Litauens ausmachen, gibt eine Mehrheit der Einwohner an, diese nicht als Nachbarn haben zu wollen. 2007 forderte der Rassismus in Litauen ein Todesopfer. Der Somalier Gulaid Abdiaziz Salahas wurde in Klaipeda zusammengeprügelt, nachdem er sich öffentlich über Rassismus in Litauen geäußert hatte. Einige Wochen darauf erlag er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Trotz weitverbreiteter islamfeindlicher Einstellungen konzentrieren sich die Rechtspopulisten in Litauen eher auf etablierte Feindbilder wie LGBT-Personen, Roma und Polen. Die Anzahl der Menschen, die meist auf der Durchreise festgehalten werden und in Pabradé landen, ist nicht groß genug, um damit Stimmung zu machen. Dennoch steht das verschlafene Kaff an der EU-Grenze, von dem kaum jemand außerhalb Litauens jemals gehört hat, stellvertretend für die Politik von EU und Nato. Diejenigen, die dazugehören, dürfen sich mit netten Soldaten treffen, die sie im Ernstfall schützen. Die anderen warten unweit davon in einem Drecksloch darauf abgeschoben zu werden.