Terror und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien

Termingerechter Terror

Tschetschenien gilt als russische Vorzeigerepublik, doch weiterhin gibt es Anschläge von Jihadisten. Präsident Ramsan Kadyrow begeht ebenfalls Menschenrechtsverletzungen.

Die tschetschenische Hauptstadt Grosny macht immer wieder mit Superlativen von sich reden: Als schönste Stadt Russlands mit der glücklichsten Bevölkerung. Selbst Mitte Oktober noch lobten Moskauer Stadtplaner Grosny für seine moderne In­frastruktur und nicht zuletzt als sicheren Ort, dabei waren zu dem Zeitpunkt keine zwei Wochen vergangen seit dem Anschlag eines Selbstmordattentäters, der fünf Polizisten das Leben kostete. Allerdings lag der letzte größere Anschlag des islamistischen Untergrundes in der tschetschenischen Republik – ein bewaffneter Angriff auf das Parlamentsgebäude – bereits vier Jahre zurück. Dennoch besteht offenkundig kein Grund zur Entwarnung. Aber die Mär vom befriedeten Tschetschenien ist längst zu einer Art Staatsdoktrin geworden.

Am späten Abend des 3. Dezember 2014 ging bei einem Taxiunternehmen in Grosny eine Bestellung für drei Wagen ein. Eine halbe Stunde später fanden diese sich wie vereinbart in einem Dorf außerhalb der Stadt ein. Die vorgeblichen Fahrgäste brachten die drei Taxifahrer in ihre Gewalt, fesselten sie und nahmen ihnen die Mobiltelefone ab. Zunächst gingen die Gefesselten, von denen einer sich befreien und das Taxiunternehmen verständigen konnte, lediglich von einem Fall von Autodiebstahl aus. Bei einer Straßenkontrolle in Grosny fielen schließlich die Wagen auf, deren Nummern der Polizei mitgeteilt worden waren. Der Versuch der Polizei, die Fahrer zum Anhalten zu bewegen, scheiterte, da die Insassen zu Schießen begannen und ihren Weg Richtung Regierungsgebäude fortsetzten. Vor dem Pressehaus gelang es dennoch, zwei Wagen zu stoppen. Dort verschanzten sich einige der Angreifer, während die anderen noch ein Stück weiter zu einem Schulgebäude fuhren. Erst nach dem Einsatz schwerer Waffen gelang es Stunden später am folgenden Tag alle elf Angreifer zu töten, wobei auch 14 Polizisten ihr Leben verloren. Augenzeugen wollen indes gesehen haben, wie zwei der Angreifer sich unversehrt davonmachten.
Darüber, welchen Plan die bewaffneten Männer mit ihrer gescheiterten Aktion verfolgten, außer den Heldentod zu sterben, lässt sich nur spekulieren. Auf Youtube wurde noch in der gleichen Nacht ein Video veröffentlicht, in dem das »Emirat Kaukasus« die Verantwortung für den Angriff in Grosny auf sich nahm. Grund für den »Racheakt« sei die Drangsalierung muslimischer Frauen in Tschetschenien. Diesen werde angeblich untersagt, ihr Gesicht zu verschleiern. Nach Angaben der Polizei existiert kein Verschleierungsverbot, allerdings besteht bei verdeckten Gesichtern der Verdacht auf Zugehörigkeit zum islamistischen Untergrund und die betroffenen Frauen müssen sich einem Gespräch mit Sicherheitsbeamten unterziehen.
Über das Mobiltelefon der Hausmeisterin in der Schule sprachen die Jihadisten mit deren Verwandten, die Informationen über das Erscheinen von »sechs Emiren und mehreren Gotteskriegern« in Grosny per Instagram und WhatsApp verbreiten sollten. Konkrete Forderungen stellten sie keine, dabei hatten sie bei ihrem telefonischen Kontakt mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow dazu ausreichend Ge­legenheit. Aber womöglich ging es ihnen vorrangig darum, Wladimir Putins großen Auftritt zu verderben. Der russische Präsident hatte nämlich für den 4. Dezember seine alljährliche Rede an die Nation angesetzt. Erfreut dürfte er über den termingerechten Vorfall in der Vorzeigerepublik kaum gewesen sein. In diesem Fall wäre das Ziel der Operation als erreicht anzusehen, konfrontierte sie doch die Verfechter der vielgepriesenen Stabilität in der Republik mit der weiterhin konfliktreichen Realität.
Aber der Zwischenfall am Straßenposten war sicherlich nicht vorgesehen. Dabei hätte sich dieses Risiko durch die Ermordung der Taxifahrer deutlich verringern lassen. Doch zivile Opfer, so lautet die neue Devise der Jihadisten, müssen vermieden werden, wenngleich auch in diesem Fall mindestens ein unbeteiligter Mann ums Leben kam. Ali Abu-Muhammad Kebekow, im März vorigen Jahres zum Emir des Kaukasus ernannt, verkündete noch im Juli, Personenschäden und Beschädigung von Eigentum der Zivilbevölkerung seien inakzeptabel. Große Sympathien sichern sich die Islamisten damit trotzdem nicht.

Aus den Kreisen der Polizei sickerten diverse Hinweise durch, wonach zuletzt niemand mit derart dreisten Aktionen der Jihadisten gerechnet hatte. Dementsprechend unvorbereitet gingen die Sicherheitskräfte vor, die unter persön­licher Leitung von Kadyrow stehen, der sich bereits auf dem Weg nach Moskau befand, um Präsident Putins Rede live zu verfolgen. Kadyrow versteht sich indes exzellent darauf, Niederlagen als Siege umzudeuten und erhält von der russischen Regierung allen nur erdenklichen Rückhalt. Seine Reaktion fiel unzweideutig aus: »Wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Po­lizeiangehörigen oder einen anderen Menschen ermordet, wird die Familie des Kämpfers unweigerlich aus Tschetschenien ausgewiesen, ohne Recht auf Rückkehr und ihr Haus wird bis auf das Fundament zerstört.«
Die Umsetzung dieser Anweisung ließ nicht auf sich warten. Bis heute sind mindestens 15 Fälle bekannt, in denen Häuser von Verwandten der am 4. Dezember in Grosny getöteten Jihadisten durch Brandstiftung oder auf andere Weise zerstört wurden. Die Identität aller Beteiligten ist längst geklärt. Der Zerstörungswut fielen jedoch auch Häuser jener zum Opfer, aus deren Familien junge Männer »in den Wald gegangen sind«, wie der Beitritt zum jihadistischen Untergrund in der Umgangssprache genannt wird, die aber an besagter Aktion nicht teilgenommen hatten. So oder so sind die Hauszerstörungen mit der russischen Gesetzgebung nicht vereinbar. Igor Kaljapin, dessen »Komitee gegen Folter« versucht, mit einer mobilen, größtenteils aus Juristen bestehenden Einsatzgruppe Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien trotz der sich verschlechternden Lage zu dokumentieren, forderte die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen gegen den tschetschenischen Präsidenten auf.

Kadyrow reagierte prompt mit dem Vorwurf, ein »gewisser Kaljapin« finanziere den islamistischen Untergrund und gab damit das Signal, gegen die Menschenrechtsaktivisten vorzugehen. »In Tschetschenien sorge ich für die Einhaltung der Menschenrechte«, lautete Kadyrows Kommentar. In der Praxis sieht das so aus, dass die Büroräume der mobilen Gruppe angezündet und die Mitarbeiter kurzzeitig festgenommen wurden. Aufgrund der »Rauchentwicklung« – einen Brand habe es den tschetschenischen Behörden zufolge nicht gegeben – laufen Ermittlungen. Aber damit nicht genug, fordert Kadyrow nun eine gesetzliche Regelung, damit »korrupte Menschenrechtler«, die von den USA und Europa finanziert seien, nicht nur aus Tschetschenien verwiesen werden – dafür benötigt das eigenmächtige tschetschenische Republikoberhaupt bekanntlich keine gesetzliche Basis – sondern gleich aus ganz Russland. Allen voran zielt dies auf Igor Kaljapin und die Mitarbeiter seines »Komitees gegen Folter«. Wenige Tage zuvor bot Kadyrow an, seinen Posten zu verlassen, um im ostukrainischen Donbass die Interessen der dortigen Bevölkerung zu wahren. Aber im Kreml will man offenbar auf die Dienstleistungen des kampfwilligen Tschetschenen im zu Russland gehörigen Kaukasusgebiet nicht verzichten und der Sicherheitsrat verlieh Kadyrow kurzerhand eine Medaille für seine Verdienste um die Gewährleistung der nationalen Sicherheit.
Ob es um diese wirklich so gut bestellt ist, steht auf einem anderen Blatt. 20 Jahre nach Beginn des ersten Tschetschenienkriegs hält die kleine Kaukasusrepublik dem restlichen Russland vor Augen, dass Kadyrows Interpretation von staatlicher Souveränität Maßstäbe setzt, die sich durchaus auf das ganze Land auswirken können.