Neue Urteile zum Polizeigewahrsam

Weil sie es können

Die Einkesselung oder Gewahrsamnahme gehört zum üblichen polizeilichen Repertoire bei Demonstrationen. Obwohl das in vielen Fällen rechtswidrig ist, müssen die Polizisten kaum mit juristischen Konsequenzen rechnen.

Als linker Aktivist ist man von der Polizei auf Demonstrationen einiges gewöhnt: Polizisten schützen Nazis, hauen einem auf den Kopf oder lassen einen stundenlang grundlos in einem Kessel ausharren. Gemein sei das und »illegal« sei es auch, wird manchmal vorgebracht, geht aber meist an der Sache vorbei: Es macht sich schlichtweg die Gewalt des Staates bemerkbar, wo die Polizei sie vollstreckt (ebenso bei Jobcenter-Besuchen, Terminen bei der Ausländerbehörde oder Steuererklärungen). Im Fall von Einkesselungen oder Gewahrsamnahmen allerdings verhält es sich etwas anders: So sehr Demonstrierende daran gewöhnt sind – so sehr ist diese Praxis in den meisten Fällen tatsächlich rechtswidrig. Immer dann nämlich, wenn Polizisten keine Anstalten machen, die Festgenommenen einem Richter oder einer Richterin vorzuführen, ihre Identität aber feststeht, weil sie Ausweise dabei hatten. Ob als Masse im Kessel oder allein in Gewahrsam: im Nachhinein stufen Gerichte das immer wieder als rechtswidrig ein, Konsequenzen hat es keine.

Wann eine Gewahrsamnahme, Festnahme oder sonstiges längeres Festhalten durch die Polizei rechtens ist, erklärt der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam sehr eindeutig: »Ohne Richter gar nicht.« Denn so bestimmt es Artikel 104, Absatz 2 des Grundgesetzes: »Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.« Immer wieder unternehmen Anwältinnen und Anwälte Versuche, an dieser Polizeipraxis etwas zu ändern, vor allem, indem zivilrechtlich auf Schadenersatz wegen Freiheitsberaubung geklagt wird. Anfang Dezember entschieden das Oberverwaltungsgericht Bremen und das Landgericht Lüneburg in zwei derartigen Fällen.
In Lüneburg ging es um den »Harlinger Kessel«: Bei den Castorprotesten 2011 hatte die Polizei fast 1 400 Atomkraftgegner stundenlang, über Nacht, bei Kälte und Regen im Freien eingesperrt. Bei Harlingen hatten sie versucht, die Schienen für den Castortransport nach Gorleben zu blockieren. Fünf Castorgegner hatten das Land Niedersachsen auf 800 bis 1 000 Euro Schmerzensgeld verklagt. Doch das Gericht lehnte eine Geldzahlung ab. Der Verstoß der Polizei sei zwar klar rechtswidrig gewesen, allerdings »nicht hinreichend schwer«, weil dieser »nur« darauf beruhe, dass die Gefangenen nicht unverzüglich einem Richter vorgeführt wurden. Bereits die Feststellung der Rechtswidrigkeit sei eine »hinreichende Genugtuung«, so das Landgericht Lüneburg.
Die Hamburger Anwältin Ulrike Donat vertritt die Castorgegner und kritisiert die Systematik: »Die Polizei versucht regelmäßig, polizeiliche Lagen durch Freiheitsentziehung zu bereinigen.« Das sei »gravierend«, vor allem weil es keine Folgen hat. Gewahrsam werde von der Polizei als Bestrafungsinstrument benutzt.
Nach Einschätzung von Adam nimmt diese Praxis sogar zu, etwa bei den »Blockupy«-Protesten. Bei den M31-Aktionen in Frankfurt 2012 sei der Polizei klar gewesen, dass sie versammlungsrechtlich nichts habe machen können – »also haben sie so getan, als seien es alles Beschuldigte in Ermittlungsverfahren, die dann später eingestellt wurden«. Die Käfige oder Turnhallen, die für Großdemonstrationen wie zu den G8-Protesten für Gewahrsamnahmen vorbereitet wurden, seien mitunter darauf ausgelegt gewesen, dass ein Richter niemals einen Blick darauf werfe. Doch »solange die leitenden Polizeibeamten weder mit dienstrechtlichen noch mit strafrechtlichen Konsequenzen oder die Behörden mit hohen Schmerzensgeldforderungen rechnen müssen, wird sich an der Situation vermutlich nichts ändern«, sagt Adam.

Die Problematik des Ermessensspielraums und der »Definitionsmacht der Polizei« stellten die Rechtssoziologen Johannes Feest und Erhard Blankenburg bereits 1972 in einer empirischen Studie fest, bei der sie Polizisten auf Streife beobachteten: »Selbst die oberflächlichste Betrachtung polizeilichen Handelns macht deutlich, dass Polizisten tatsächliche Handlungsspielräume haben, die teilweise weit über das ihnen vom Gesetzgeber zugestandene Ermessen hinausgehen.« Mit Rückgriff auf Walter Benjamin beschreibt der Jurist Stefan Krauth in seinem Buch »Kritik des Rechts« (2013) diese extralegale Definitionsmacht als einen »ständigen Ausnahmezustand«, der dem Recht selbst innewohnt. Krauth verweist auf dessen »notwendig doppelte Form«: Der Rechtsstaat müsse »immer beides« sein, »wirklicher« Rechtsstaat und Ideologie, also einerseits »Garant des freien und gleichen Markttausches«, sowie andererseits »Souverän, der sich nur den Anschein der Bindung an Recht und Gesetz gibt«.
Auch in einem Verfahren in Bremen wurde deutlich, dass die Anrufung der Justiz gegen Gewalt der Polizei selbst Rechtsidealisten enttäuschen muss: Es ging um einen Antifaschisten, der 2011 gegen einen Aufmarsch der NPD demonstriert hatte, zusammen mit 4 000 weiteren Menschen, darunter Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) – die Wahl stand bevor. Anders als der Bürgermeister soll der Mann nach der Demonstration mit Polizisten gerangelt und einen von ihnen geschubst haben. Der Vorwurf wurde später fallengelassen. Obwohl sich der Demonstrant hatte ausweisen können, wurde er im Nachhinein über vier Stunden eingesperrt, ohne richterlichen Beschluss. Das war »objektiv rechtswidrig«, wie das Landgericht Bremen feststellte. Für die Polizisten hatte das jedoch keine Konsequenzen das Strafverfahren gegen sie wurde eingestellt. Wer als Vorgesetzter die Festnahme anordnete, ließ sich angeblich gar nicht erst ermitteln. Deshalb die Klage wegen Schmerzensgeld: 2 500 Euro setzte der Bremer Anwalt Sven Sommerfeldt an. »Es muss wehtun«, sagt er. Doch wie das Landgericht hält auch das Bremer Oberlandesgericht ein Schmerzensgeld von lediglich 100 Euro für angemessen. Die Polizisten hätten keine bewusste Verletzung ihrer Amtspflicht begangen. Für den Anwalt zeigt sich hier, wie stark Justiz und Polizei aufeinander angewiesen seien. Die Richter hätten eben keinen Präzedenzfall schaffen wollen, so Sommerfeldt. In der Ausbildung und in Schulungen würde Polizisten nämlich sehr wohl genau beigebracht, wann sie jemandem die Freiheit entziehen dürfen und wann es rechtswidrig ist.

Tatsächlich sollte bei der Polizei spätestens seit den Vorkommnissen des »Hamburger Kessels« vom 8. Juni 1986 bekannt sein, dass mit diesem Mittel »polizeiliche Lagen« nicht gelöst und vor allem die Teilnahme an Versammlungen nicht verhindert werden darf: Nach einer gewalttätigen Polizeiaktion gegen Atomkraftgegner, die in Brokdorf protestieren wollten, versammelten sich einen Tag später zahlreiche Menschen in Hamburg, um gegen Polizeigewalt zu demonstrieren. Über 800 Erwachsene und Kinder wurden von der Polizei auf dem Heiligeistfeld eingekesselt und im Einzelfall bis zu 15 Stunden lang festgehalten – ohne Essen und Trinken. Weil sie nicht auf die Toilette gelassen wurden, verichteten einige ihre Notdurft im Freien. All das war rechtswidrig, die Eindrücklichkeit der Bilder von Polizeigewalt führte letztendlich zur Gründung der »Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten«.
Die Geschehnisse um den »Hamburger Kessel« finden sich samt ausführlicher Zitation des verurteilenden Gerichtsentscheids noch in aktuellen Polizeilehrbüchern zum Versammlungsrecht. Am Polizeirepertoire freilich hat das alles wenig geändert. Auch Faustrecht ist eben ein Recht, schrieb Karl Marx – und dass »das Recht des Stärkeren unter andrer Form auch in ihrem ›Rechtsstaat‹ fortlebt«.