Das Berliner Filmfestival »Unknown Pleasures«

Time After Time

Das Berliner Festival »Unknown Pleasures« zeigt US-amerikanisches Independent-Kino. von esther busss Berliner Festival »Unknown Pleasures« zeigt US-amerikanisches Independent-Kino.

Family Portrait Sittings« (1975) beginnt ohne jeden Schlenker. »You know, everybody was leaving for the United States«, heißt es im ersten Bild aus dem Off. Die leicht singende Stimme mit dem harten italienischen Akzent liegt über einem Travelling durch die Straßen einer amerikanischen Stadt, immer geradeaus, frontal durch die Windschutzscheibe gefilmt, ähnlich wie bei den Phantom-Rides aus der Frühzeit des Kinos. Durch Jump-Cuts wird ein Straßenzug an den nächsten montiert, irgendwann geht es in einer italienischen Stadt weiter. Zeitliche und geographische Dissonanzen, Verwischungen und Nahtstellen, aber auch Brüche in der Familiengeschichtsschreibung sind symptomatisch für diesen außergewöhnlichen Film, den der Regisseur Alfred Guzzetti zwischen 1972 und 1975 in Philadelphia, den Abbruzzen und Cambridge über seine italienisch-amerikanische Familie gedreht hat.
»Family Portrait Sittings« verbindet Archivfotos, Home-Movies und Interviews mit Familienmitgliedern aus unterschiedlichen Generationen zu einer vielstimmigen und sehr persönlichen Familien- und Einwandererchronik. Guzzetti hat einen präzisen Blick auf Räume und Einrichtungen (und auf Menschen in eben diesen) wie auch auf Gesten und Körperhaltungen, die die Erzählungen und Mythologisierungen begleiten. Es geht um Aufstiegsbegehren, kulturelle Mentalitäten und Distinktion, um Konventionen und familäre Rollen. Der Film zählt zu den Höhepunkten des von Hannes Brühwiler und Andrew Grant kuratierten Festivals »Unknown Pleasures« mit Filmen des US-amerikanischen Independent-Kinos, das bereits zum siebten Mal in Berlin stattfindet.
Das Spezialprogramm des Festivals, das Positionen zwischen Dokumentar-, Essay- und Experimentalfilm erkundet, ist in diesem Jahr Alfred Guzzetti gewidmet. Der 1942 geborene Regisseur gehört zu der vitalen Filmszene in Boston, die, gestützt durch diverse lokale Institutionen wie die Harvard University und das MIT, ein Zentrum des US-Dokumentarfilms bildet. Ähnlich wie die Filmemacher des disziplinenübergreifenden »Sensory Ethnography Lab«, deren Produktionen in den letzten Jahren auf Festivals für großes Aufsehen sorgten, arbeitet Guzzetti in den Grenzbereichen von Ethnographie, Anthropologie und künstlerischem Film.
Guzzetti machte erste Filme während seines Studiums in den sechziger Jahren. »Air« (1971) gilt als Auftakt seiner experimentellen Produktion. Es folgten autobiographische Arbeiten, aber auch politische Dokumentarfilme über die Revolution in Nicaragua, bevor er mit dem Aufkommen von Video in den neunziger Jahren zu seinen experimentellen Anfängen zurückkehrte und vornehmlich künstlerische Filme schuf. »The Tower of Industrial Life« (2000) und »Time Present« (2013) sind meditative Reflektionen über Gegenwartsbilder und verdichtete Montagen von Bild, Text und Sound. Auch das Verhältnis von fotografischem und bewegtem Bild ist immer wieder ein Untersuchungsgegenstand. »Time Exposure« (2011) nimmt seinen Anfang mit einem Foto, das Alfred Guzzettis Vater von einer nächtlich beleuchteten, menschenleeren Straße in Philadelphia machte. Während der Sohn Ursprung und Umfeld des Bildes erkundet, kristallisiert sich allmählich ein liebesvolles Porträt des Vaters heraus.
Ausgangspunkt des in Zusammenarbeit mit Susan Meiselas und Richard P. Rogers entstandenen »Pictures from a Revolution« (1991) ist ebenfalls die Fotografie. Zehn Jahre nach der Revolution in Nicaragua sucht die Fotografin Susan Meiselas die Menschen auf, von denen sie damals im Auftrag der New York Times und der London Times Bilder machte. Die Aufnahmen – ein junges Mädchen zieht die zusammen­geschnürte Leiche ihres Mannes auf einem Holzbrett hinter sich her, die berühmte Aufnahme eines sandinistischen Kämpfers mit Gewehr und Molotowcocktail – fungieren als eine Art Motor für die Rekonstruktion von Erinnerung. Sie werden durch die Erzählungen neu gewichtet, hinter ihrem Symbolgehalt kommen individuelle Geschichten zum Vorschein. Viele der fotografierten Menschen starben allerdings schon kurz nach der Entstehung der Bilder. »The present tense became impossible«, sagt Meiselas einmal. Fotografieren bedeutete die Anerkennung der Möglichkeit des Todes.
Einige der in diesem Jahr vertretenen Filmemacher und Filmemacherinnen waren schon in den Vorjahren auf dem Festival, etwa Whit Stillman, Nathan Silver (»Uncertain Terms«), Joe Swanberg (»Happy Christmas«) und Abel Ferrara, dessen vielbeachteter Film zur Strauss-Kahn-Affäre, »Welcome to New York«, zu sehen ist. Zu den Debütfilmen zählen »The Mend« von John Magary, der eine weitere Variante einer zunehmend populären Figur des amerikanischen Independent-Kinos anbietet: des sozial unverträglichen, rücksichtslosen und parasitären Unsympathen. Eine eher neue Richtung stellen dagegen die Arbeiten von Filmpublizisten und -historikern dar, darunter das Debüt des Filmkritikers Ignatiy Vishnevetsky (»Ellie Lumme«) und der erste Langfilm von Gina Telaroli (»Here’s to the future!«), die neben ihrer Arbeit als Filmkritikerin, -kuratorin und -essayistin Martin Scorseses Videoarchiv betreut.
Einen genreübergreifenden Ansatz, wie ihn Guzzetti repräsentiert, verfolgt auch das Hauptprogramm des Festivals. »Actress« von Robert Greene ist ein aufgemischtes Stück Cinéma verité. Der Film verbindet Alltagsbeobachtungen mit einer Bekenntnisebene, wie man sie auch aus Reality-Formaten kennt, und verbindet sie auf ungewöhnliche Weise mit dem Melodramatischen. Protagonistin ist Brandy Burre, die eine Rolle in der HBO-Serie »The Wire« hatte, bevor sie die Schauspielerei aufgab, um mit ihrer Familie in einen Vorort von New York zu ziehen. Als Brandy beschließt, wieder in ihren Beruf zurückzukehren, gerät ihre Lebensplanung durcheinander. Im Gegensatz zu den zahlreichen Schauspielerin-in-der-Krise-Filmen des letzten Jahres beschäftigt sich »Actress« mit den Rollen, die täglich im Leben zu spielen sind.
Von einem beschaulichen Mittelklasseumfeld könnten die Protagonisten von »The Overnighters« kaum weiter entfernt sein. Jesse Moss wirft in dem Dokumentarfilm einen Blick auf die amerikanischen Verhältnisse zwischen ökonomischer Krise, religiöser Kultur und Fremdenangst in der Provinz. »The Overnighters« dokumentiert, wie die Kirchenräume einer durch Fracking boomenden Kleinstadt in North Dakota zum Anziehungspunkt für arbeitssuchende und wohnungslose Männer werden. Läuterungs- und Bekenntnisrhetorik machen sich breit, aber auch die Ressentiments der Gemeinde wachsen. Als bekannt wird, dass der barmherzige Pastor einige Sexualstraftäter bei sich aufgenommen hat, ist es endgültig vorbei mit dem Hilfsprojekt. Im Vergleich zu den hinreißenden Einwanderergeschichten der Guzzetti-Family ist »The Overnighters« ein tristes Dokument inneramerikanischer Migrationsströme. Die Menschen darin sind verzweifelt einsam.

Unknown Pleasures. Kino Babylon Mitte, Berlin.
Bis 16. Januar 2015