»Nützliche Migranten« und die Thesen von Hans-Werner Sinn

Berechnend berechnet

Der Ökonom Hans-Werner Sinn sorgte mit einem Aufsatz für Schlagzeilen, in dem er behauptete, Migration sei ein Verlustgeschäft für Deutschland. Mittlerweile hat Sinn seine Aussagen zwar relativiert, aber die Kosten-Nutzen-Debatte beim Thema Migration bleibt gefährlich.

Zufall oder gut kalkuliertes Timing? Mitten in der Debatte über die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung veröffentlicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Text des bekannten Ökonomen Hans-Werner Sinn, der deren Sympathisanten Argumente liefert. »Wie die Einwanderung nach Deutschland derzeit läuft, läuft sie falsch und ist ein großes Verlustgeschäft«, lautet der mittlerweile viel zitierte Vorspann des Textes. In dem Beitrag kommt Sinn zu dem Schluss, dass Ausländer Deutschland mehr Geld kosten, als sie einbringen. Das glaubt die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen ohnehin – ob es stimmt oder nicht.

Sinn hat mit seinem Aufsatz in der FAZ auf die Berichterstattung über eine Studie reagiert, die die einflussreiche Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben hatte. Laut einer Umfrage der Stiftung sind zwei Drittel der Deutschen davon überzeugt, dass Zuwanderer die Sozialsysteme belasten. Die Bertelsmann-Stiftung ist die wichtigste Denkfabrik der deutschen Wirtschaft. Deren Manager fürchten einen Fachkräftemangel und plädieren deshalb für Zuwanderung – für eine ihrem Bedarf entsprechende, wohlgemerkt. Anders als Armutsmigranten können sich Spitzenkräfte aussuchen, wohin sie gehen. Und Staaten, die wie Deutschland für ihre Abneigung gegenüber Fremden bekannt sind, sind nicht besonders anziehend. Es liegt also im Interesse von Unternehmen und Managern, Vorurteilen wie dem von der Belastung der Sozialkassen durch Zuwanderer entgegenzutreten.
So beauftragte die Bertelsmann-Stiftung den Arbeitsmarktforscher Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim mit der Untersuchung »Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt«. Der Studie zufolge haben Zuwanderer den deutschen Sozialstaat im Jahr 2012 um 22 Milliarden Euro entlastet. Statistisch gesehen hat, laut Bonins Berechnungen, jeder Einwohner ohne deutschen Pass 3 300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben gezahlt, als er an staatlichen Leistungen erhalten hat. Diese Tatsache bestreitet auch Ökonom Sinn nicht – auch wenn das so manchem Wirtschaftsjournalisten nicht klar zu sein scheint. Die von Bonin berechneten 3 300 Euro Steuer- und Sozialabgabenplus würden »teilweise bereits ohne Quelle und Erklärung als feststehende Tatsache verbreitet«, empört sich die Süddeutsche Zeitung.

»Deutschland profitiert finanziell also beachtlich von seiner ausländischen Wohnbevölkerung«, schreiben Jörg Dräger und Ulrich Kober von der Bertelsmann-Stiftung im Vorwort der Studie. Auch die Prognose fällt nicht schlecht aus. Danach werden die in Deutschland lebenden Ausländer in ihrem Leben im Schnitt 22 300 Euro mehr an Staat und Sozialkassen überweisen, als sie erhalten. »Ausländer füllen deutsche Sozialkassen«, schrieben zahlreiche Tageszeitungen nach der Veröffentlichung. »Heißt die Einwanderer willkommen«, titelte die Zeit. »Einwanderung: ein gutes Geschäft«, freute sich der Flüchtlingsrat Niedersachsen. Dabei hat Bonin in seine Untersuchung nur Immigranten einbezogen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Sonst wäre seine Bilanz noch günstiger ausgefallen.
Solche Botschaften wollte Sinn nicht unwidersprochen stehen lassen. In seinem FAZ-Aufsatz macht er eine andere Rechnung auf, mit der er die Aussagen Bonins »vervollständigen« will. Der habe schließlich nur Sozialbeiträge, Steuern und direkte Sozialtransfers samt Bildungskosten berücksichtigt, nicht aber die »fiskalischen Kosten«, die man Migranten ebenfalls zuschlagen müsse. Das sind die Ausgaben des Staates zum Beispiel für Straßenbau und andere Infrastruktur, die Unterhaltung von Behörden oder die Bezahlung von Beamten. 5 100 Euro gab der Staat im Jahr 2012 pro migrantischem oder nicht-migrantischem Kopf für solche Aufgaben aus. Sinn zieht diese Summe von den 3 300 Euro auf der Haben-Seite der Ausländer ab, so dass sich das Plus in ein Minus verkehrt: »Man kommt dann auf eine jährliche fiskalische Nettobilanz eines Migranten von minus 1 800 Euro, oder, wenn man die Verteidigung nicht mitrechnet, weil sie von der Bevölkerungszahl weitgehend unabhängig ist, minus 1 450 Euro«, rechnet Sinn vor.
Für die Gesamtabrechnung führt der Ökonom die Studie der Bertelsmann-Stiftung selbst als Beleg an. Der Wissenschaftler Bonin sei ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass die »fiskalische Nettobilanz der aktuellen Migranten negativ ist«. Tatsächlich weisen bereits im Vorwort der Studie Dräger und Kober darauf hin: »Stellt man alle allgemeinen Staatsausgaben, etwa für Verteidigung oder Straßenbau, mit in Rechnung, schlägt für jeden lebenden Ausländer ein langfristiges Staatsdefizit von 79 100 Euro, für jeden lebenden Deutschen von 3 100 Euro zu Buche«, schreiben sie. Die beiden plädieren dafür, die Potentiale aller Migranten besser zu nutzen. »Eine moderne Migrationspolitik muss Zuwanderer gewinnen, hier halten und zu selbstbestimmten Mitbürgern machen – unabhängig davon, ob sie als Hochqualifizierte, Familiennachzügler oder Flüchtlinge ins Land kommen«, fordern sie. Eine moderne Integrationspolitik müsse »die kontroverse gesellschaftliche Debatte über Multikulturalität entschärfen, die in Teilen der Bevölkerung existierenden Befürchtungen zerstreuen« und »Vielfalt im Selbstverständnis des Landes als positives Narrativ verankern.«

Gegen diese positive Erzählung, gegen die Entschärfung der paranoiden Migrationsdebatte à la Pegida wendet sich der Ökonom Sinn: »So wie die Migration derzeit läuft, läuft sie falsch, weil die Struktur der Migranten durch die künstlichen Anreize des Sozialstaates verzerrt wird.« Dabei ist Sinn nicht generell gegen den Zuzug von Migranten, auch nicht gegen den von Flüchtlingen. Er hält Einwanderer für unverzichtbar – anders als der Pegida-Pöbel. Trotzdem reitet er auf deren Welle – schon sprachlich. Sinn spricht von der »Überforderung der Assimilationskraft der deutschen Gesellschaft«, wenn die Biodeutschen nicht wieder mehr Kinder bekommen, von der »Rolle des Wohlfahrtsstaates als Wanderungsmagnet« und von der Gefahr, dass »Migranten Kostgänger des Staates« werden. Sinn will deshalb nur bestimmte Migranten: hochqualifizierte Fachkräfte. Er fordert, EU-Bürger sollten künftig nur noch Anspruch auf die Sozialleistungen ihres Heimatlandes haben. Für Nicht-EU-Bürger, die nicht aus politischen Gründen kommen, schlägt er ein Punktesystem mit Kriterien wie Gesundheit, Alter, Qualifikation und Vermögen vor, mit dessen Hilfe ihre Nützlichkeit festgestellt werden soll.
Im FAZ-Ranking der einflussreichsten deutschen Ökonomen belegt Sinn den Spitzenplatz. Den will er auch behalten. Aus diesem Grund wehrte er sich gegen Vereinnahmungsversuche durch die »Alternative für Deutschland« (AfD). Der Ökonom hat ein feines Gespür dafür, wann seine Reputation gefährdet ist – von der sein Erfolg und der des Münchner Ifo-Instituts, dessen Präsident er seit 1999 ist, maßgeblich abhängen. Sinn weiß genau, wann er sich verrannt hat und umkehren muss. Das bewies er 2008, als er in der Finanzkrise die Kritik an Managern mit dem Antisemitismus der dreißiger Jahre verglich. Sinn nahm das nach öffentlichen Protesten umgehend zurück und entschuldigte sich beim Zentralrat der Juden.
Inzwischen hat er auch in Sachen Migranten-kosten seine Aussagen relativiert. Sinn ist kein Rassist, sondern schlicht ein Neoliberaler. Unwahrscheinlich, dass er Angst vor einer Islamisierung Deutschlands hat. Im Interview mit Spiegel Online bekundete er, als Autor nicht für den Vorspann seines Textes in der FAZ verantwortlich zu sein. Er vermute, dass die Migration »trotz der vermeidbaren Fehlentwicklungen per Saldo immer noch einen großen Gewinn bedeutet«. »Meine Zweifel beziehen sich allein auf den Umstand, dass wir von unserem Sozialstaat subventionierte Billiglöhner ins Land locken, die nach den Statistiken der OECD vergleichsweise gering qualifiziert sind. Das ist teuer und verschärft die sozialen Probleme.« Mit Pegida will Sinn nichts zu tun haben. Er bestreitet einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den Demonstrationen und seiner Veröffentlichung. »Ich meide überhaupt die politischen Parteien oder politische Aktionsbündnisse«, sagte das frühere Mitglied der SPD-nahen Jugendorganisation »Die Falken«.

Bonin hält Sinn vor, dass auch die Fiskalbilanz der Nichtmigranten für 2012 negativ ist. Sie liegt bei minus 1 100 Euro. Auch die Deutschen kosten Deutschland mehr, als sie bringen. Solange ein Staat mehr Geld ausgibt, als er einnimmt, ist die Bilanz für die im Staatsgebiet lebenden Menschen gleich welcher Herkunft immer negativ. Doch solche Zahlenspielchen führen nicht weiter. Selbst wenn die stärkere Gewichtung mancher Variablen oder die Betrachtung eines anderen Zeithorizontes – man denke nur an die vielen Zuwanderer, die sich ihre Rentenansprüche auszahlen oder sie verfallen ließen oder das Sozialsystem auf andere Weise bezuschussten – zu dem Ergebnis kommt, dass die Migration unterm Strich ökonomisch für die Biodeutschen ein Bombengeschäft ist: Was heißt das? Wer sich auf die Kosten-Nutzen-Diskussion einlässt, hat verloren. Das Argument, Migration sei aus ökonomischen Gründen sinnvoll, ist gefährlich. Denn es ist immer auch eine Rechtfertigung dafür, bestimmte Gruppen außen vor zu lassen – diejenigen, deren Aufnahme keine geldwerten Vorteile bringt. Gegen diese Menschen sind nicht nur die Nazis, die vor Flüchtlingswohnheimen demonstrieren, und der Pegida-Pöbel, sondern auch die braven Bürger und weite Teile aller Parteien. Man sollte aufpassen, diesen Leuten nicht unabsichtlich das Wort zu reden.