Rassismusvorwürfe gegen den südafrikanischen Theatermacher Brett Bailey

Das N-Wort auf der Bühne

Der südafrikanische Theatermacher Brett Bailey beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Rassismus. Jetzt warf man ihm vor, selbst Rassismus zu befördern.

Mit dem alten Jahr endete in Frankreich auch eine Debatte, die es im Dezember in die Feuilletons der größeren Zeitungen geschafft hatte und sich in zahllosen Kommentaren im Internet austobte. Gefragt wurde: Darf ein Weißer für ein – angeblich – »überwiegend weißes« Publikum das Leiden von Schwarzen in der Sklaverei und die Kolonialverbrechen zum Gegenstand eines provokanten Kunstwerks machen? Oder ist der Künstler in einem kolonialistischen Blick befangen? Stehen Antirassismus und Meinungsfreiheit gegeneinander? Macht sich ein Kunstschaffender zum Teil des Systems, wenn seine Aufführung unter Polizeischutz stattfindet?
Der Streit wurde nicht nur verbal ausgetragen; es ging auch Glas zu Bruch, es wurden Personen beleidigt, es gab vereinzelte körperliche Konfrontationen zwischen Anhängern unterschiedlicher Positionen, mehrere Polizeieinsätze und Festnahmen.
Worum ging es? Brett Bailey, der als weißer Südafrikaner 1967 in dem Apartheid­regime zur Welt kam, beschäftigt sich seit Jahren mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Rassismus. Er war und ist am Aufbau verschiedener Theaterschulen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent, etwa im Kongo, beteiligt und leitet eine Theatergruppe mit dem Namen Third World Bunfight. In seiner Performance »Exhibit B« sieht man schwarze Darsteller und Darstellerinnen in zwölf Stationen, die er als »lebende Bilder« bezeichnet.
Die Schauspieler und Schauspielerinnen bleiben dabei stumm und werden – teilweise mehr oder minder unbekleidet – in historischen Situationen gezeigt, die sich zumeist auf die Sklaverei und den Kolonialismus beziehen. Erinnert wird zum Beispiel an die 1815 in Paris verstorbene Sara Baartman, die unter dem Namen »Hottentot Venus« in London und Paris auftrat. Dargestellt wird auch der aus dem heutigen Nigeria stammende ehemalige Sklave Angelo Soliman, der nach seiner Befreiung Mathematiker und Berater am Wiener Hof wurde. Sein Leichnam wurde nach seinem Tod im Jahr 1796 präpariert, ausgestopft und öffentlich ausgestellt. Man sieht eine Frau, die einen Korb mit abgehackten Händen präsentiert. Das Abhacken der Gliedmaßen war gängige Praxis im »Leopoldstaat« des belgischen Königs, der 1908 unter dem Namen »Belgisch-Kongo« in eine staatliche Kolonie überführt wurde. Jene zur Zwangsarbeit verpflichteten Kongolesen, die ihr festgesetztes Erntekontingent an Kautschuk nicht erfüllten, wurden mit dieser Form von Verstümmelung bestraft. Bis heute verkaufen Konditoreien in Antwerpen kleine schwarze Hände aus Schokolade, die auf die Bestrafungpraxis aus der Kolonialzeit verweisen. Trotz Protesten wird das Gebäck weiterhin verkauft; in jüngerer Zeit wurde es sogar als Keks auf den Markt gebracht. Es fehlt also nicht an Bezügen auf die Gegenwart. Man sieht im Stück auch einen an einen Flugzeugsessel gefesselten Somalier, der aus Frankreich abgeschoben wird. Daneben ein Schild mit den Namen von 28 Menschen, die allein in den letzten Jahren bei Abschiebungen aus europäischen Kernländern zu Tode kamen, »meist erstickt oder an Herzstillstand gestorben«, wie präzisiert wird.
Die kritische Absicht von Brett Baileys Stück ist unstrittig. Ihm geht es um den Protest gegen die Kontinuität der rassistischen Entmenschlichung. Sein Stück gastiert seit 2010 in verschiedenen europäischen Ländern und wurde 2011 in Südafrika beim Grahamstown-Festival in der Kapprovinz aufgeführt. Auch in Frankreich war es bereits zu sehen. Im Sommer 2013 wurde es beim Theaterfestival in Avignon und im Herbst desselben Jahres im »CentQuatre« aufgeführt. Proteste blieben aus. Im September 2012 kam es bei einer Aufführung im Rahmen der Berliner Festspiele erstmals zu Unmutsbekundungen. In einem auf der Website Buehnenwatch.de publizierten Text wurde zum Protest aufgefordert: »Die Inszenierung ›Exhibit B‹ lehnt sich in ihrer Umsetzung an eine kolonialrassistische Tradition an: das Ausstellen von Schwarzen Menschen und Menschen of Color. Trotz vorgeblicher antirassistischer Intentionen, reproduziert Brett Bailey mit seiner Arbeit die Vorstellung von Afrikaner_innen als Objekten, die der Unterhaltung, dem Komfort oder, wie in diesem Falle, der Bildung weißer Menschen dienen.« Es ging also um die Frage nach der »Definitionsmacht« und die Forderung, es sollten vor allem Schwarze über die Unterdrückung von Schwarzen reden.
Im Sommer 2014 kam es in London zum Eklat. Den Anlass bot ein Artikel von John O’Mah- ony im Guardian vom 11. August. Der Autor hatte das Stück auf dem Theaterfestival von Edinburgh bei einer Generalprobe sehen können. Er ordnete das Stück in die Tradition der »Menschenzoos« ein, die in der Kolonialzeit entstanden. Der Autor bezeichnet »Exhibit B« schon in der Überschrift als »Edinburgh’s most controversial show: Exhibit B, a human zoo«. Dadurch heizte er die Kontroverse an. Bailey erwiderte im November in einem Interview mit der französischen Online-Zeitung Rue89, der Journalist des Guardian habe »einen sensationsorientierten Artikel« verfassen wollen. Im September 2014 musste die Aufführung im Barbican Centre bereits abgesagt werden.
In Frankreich wurde die Kritik von dem Trotzkisten John Mullen aufgegriffen, der als Geschichtslehrer an einem Hochschulinstitut für englische Sprache und Kultur in der Nähe von Paris tätig ist und bis in die neunziger Jahre Kopf der eher dogmatischen linken Splittergruppe »Socialisme International« war. In Anlehnung an die britische SWP (Socialist Workers Party) verbreitete die Gruppe oft holzschnittartige Interpretationen von Unterdrückern und Unterdrückten. Derzeit ist Mullen Mitglied der Sammelbewegung Ensemble (Zusammen), die radikale und reformistische Linke vereint.
Mullen lancierte im Herbst 2014, angeregt durch die britische Debatte, eine Petition gegen »Exhibit B«. Bis kurz vor der Aufführung Ende November sammelte er rund 19 000 Unterschriften, im Laufe des Dezember wurden es über 20 000. Das »Kollektiv gegen Exhibit B«, das sich daraufhin formierte, schrieb am 12. November an die Bürgermeister von Paris und Saint-Denis und am 14. November an die beiden Präfekten – also die Vertreter des Zentralstaats in den Départements. Falls die Aufführung nicht abgesagt werde, sollte das Stück gerichtlich verboten werden. Ferner reichte das Kollektiv am 8. Dezember eine gerichtliche Eilklage zwecks Erlass einer einstweiligen Verfügung ein, um ein Aufführungsverbot zu erwirken. Diese wurde jedoch am folgenden Tag vom zuständigen Verwaltungsgericht abgewiesen: Das Gericht sah keinen »Angriff auf die menschliche Würde«, da kein Zweifel an der kritischen Intention der Performance bestehe.
Die Kritik des »Kollektivs« setzt an unterschiedlichen Punkten an. So klingt die Frage der Definitionsmacht zumindest an, wenn in dem Aufruf moniert wird, es sei doch »fragwürdig«, dass ausgerechnet »ein weißer Südafrikaner« den »Menschen der gemischt bevölkerten Wohngebiete im Pariser Norden« etwas über »Rassismus beibringen« will, da diese »ihn doch besser kennen und täglich erleben«. Desweiteren wird argumentiert, ein Weißer zeige »schwarze Körper, die sprachlos und passiv bleiben, für ein überwiegend weißes Publikum«. Es wird skandalisiert, dass »öffentliche Gelder für einen Menschenzoo« aufgewendet würden. Abschließend wird kritisiert, dass der Widerstand der Schwarzen gegen die Praktiken der Täter nicht gezeigt wird.
Die Kritik, dass nur Opfer zu sehen seien, aber keine Täter – Sklavenhalter, Kolonialherren oder Profiteure des Geschäfts – und auch keine Kämpfer gegen das System, teilen sowohl viele Gegner als auch viele antirassistisch motivierte Befürworter der Aufführung des Stücks. An Letztgenannten mangelte es nicht. In einer gemeinsamen Erklärung unterstützten die antirassistischen und bürgerrechtsorientierten Organisationen LDH (Liga für Menschenrechte), LICRA (Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus) und MRAP (Bewegung gegen den Rassismus und für die Völkerfreundschaft) die Bühnenaufführung. Sie unterstreichen die antirassistische Motivation des Künstlers und beharren auf der universellen Grundlage des Antirassismus, also dass das Anprangern von kolonialem Rassismus nicht allein Sache der Schwarzen oder das Denunzieren von Antisemitismus keine Angelegenheit allein von Juden sei. Trotz aller sonstigen Unterschiede – so ist die LICRA eher liberal-konservativ, der MRAP traditionell KP-nahe und die LDH der Sozialdemokratie nahe stehend –, zogen die drei Organisationen sowie die »Beobachtungsstelle für künstlerische Freiheit« während der gesamten Auseinandersetzung an einem Strang.
Nach einem gewalttätigen Zwischenfall am Tag der Erstaufführung in Saint-Denis forderten sie in einem neuen Kommuniqué Polizeischutz für das Theater und die Zuschauer. Eine über 70jährige Aktivistin des MRAP musste am Vorabend ins Krankenhaus eingeliefert werden. Aufgrund der Vorfälle konnten an jenem Abend des 27. November nur zwei statt der geplanten sechs Zuschauergruppen die Aufführung in 20minütigem Abstand besuchen. So konnte zum Beispiel der südafrikanischstämmige Schriftsteller Breyten Breytenbach, der unter dem Apartheidregime 7 Jahre in Haft saß, die Performance an diesem Abend nicht sehen.
Eine Annäherung der beiden Lager sollte eine Diskussion am zweiten Tag der Aufführung in Saint-Denis bringen, zu der der Regisseur sowie Vertreter der Gegenseite geladen werden sollten. Dafür warb unter anderem die Ortsgruppe der antirassistischen Organisation in MRAP in Saint-Denis, die sich gegen eine Zen-
sur des Stücks und für eine kontroverse Debatte einsetzte und zudem anregte, in naher Zukunft auch das Leben afrikanischer Widerstandskämpfer verstärkt zu thematisieren. Zu der Debatte kam es jedoch an jenem Abend nicht: Mehrere Kontrahenten waren dazu bereit, aber der zuständige Präfekt erklärte, er könne lediglich die Sicherheit während der Aufführung garantieren, aber nicht den Schutz aller Beteiligten während der zu erwartenden heftigen Diskussion gewährleisten.