Die Debatte über die »Industrie 4.0« und den »Investitionsstau«

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Wie gelangt Deutschland durch den »Investitionsstau« und zeigt der Welt, wie die »Industrie 4.0« aussieht? Politiker, Unternehmer und Gewerkschafter machen sich gemeinsam Gedanken über den Standort.

Die Zeichen deuten darauf hin, dass in den kommenden Monaten ein neuer Wirtschaftsdiskurs dominant wird. Er dürfte um die Reizworte »Zukunft der Industrie«, »Industrie 4.0« und vor allem »Investitionsstau« kreisen. Das Narrativ, das seit 2013 vorbereitet und mit Modebegriffen wie »Internet of Things« und »wissensbasierte Industrie« garniert wird, geht in etwa so: Deutschland muss dringend in seine Infrastruktur investieren. Einerseits gilt es etwa, Gebäude, Anlagen und Verkehrswege zu renovieren, andererseits Netze und Übertragungswege zu schaffen und auszubauen – Stromtrassen, Datenverbindungen, Clouds –, um den Anschluss an die Globalisierung und den Weltmarkt zu erhalten.

Nur leider gebe es, so das Narrativ, eine ausgeprägte Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit in der Bevölkerung, die über den Weg demokratischer Verfahren den gefürchteten »Reformstau« verursache. Das wird in Zeiten der »Schuldenbremse« diskutiert, die inzwischen Verfassungsrang hat. Aus all dem folgt nun: Staat und Kommunen müssen dringend Investitionen auf dem Kapitalmarkt einwerben und neue Joint Ventures ermöglichen. Neue Schulden sind tabu, eine höhere Besteuerung der Reichen und die effektive Bekämpfung ihrer Steuerflucht sowieso. Politik, Sozialpartner und Meinungsmacher sollen außerdem für industrielle Großprojekte werben und bestehende Vorbehalte mindern.
Protagonisten der deutschen Debatte über den »Investitionsstau« sind Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), BDI-Präsident und Unternehmer Ulrich Grillo, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dessen Präsident Marcel Fratzscher sowie zahlreiche führende Vertreter der Industrie und des Kapitalmarkts, die sich im »Förderkreis der Deutschen Industrie e.V.« und in einer Expertenkommission versammeln, die Gabriel bereits am 28. August einsetzte und die am 17. Oktober 2014 zum zweiten Mal tagte.
An der Debatte maßgeblich beteiligt sind aber auch wichtige Vertreter der Grünen um den EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer. Er nahm bereits im Mai 2013 mit Grillo an einem Wirtschaftsgespräch zum Thema »Zukunft der Industrie im globalen Wettbewerb« teil. So wundert es auch nicht, dass die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung die Themen »Zukunft der Industrie« und »Industrie 4.0« auf dem BDI-Tag am 6. Oktober mit 30 young leaders aus dem oberen Management besprach. Die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und die IG Metall veranstalteten ein inhaltlich vergleichbares Symposium für ihre Zielgruppe am 2. Dezember in Berlin und erklärten resolut: »Deutschlands Schicksal hängt von einer leistungsfähigen Industrie ab.«

Hinter der propagierten »Industrie 4.0« stecken vor allem Phantasien von neuen Geschäftsfeldern durch die digitale Datenerfassung und -übermittlung, wie sie bereits 2002 mit dem auf GPS basierenden LKW-Mautsystem »Toll Collect« Realität wurden. In der industriellen Logistik, beispielsweise in der Paketabfertigung, sind solche Systeme bereits fester Bestandteil. In Zukunft sollen auch private Haushalte und der Körper des Endverbrauchers erschlossen werden. In Geräten eingebaute Minicomputer könnten im Zusammenspiel mit Sendern wie RFID-Chips an beweglichen Objekten demnächst dem Amazon-Lieferservice melden, wenn in Omas Kühlschrank die Milch ausgeht oder im Weinregal des Wirtschaftsministers ein Barolo-Engpass droht. Google kaufte im Januar 2014 für 3,2 Milliarden Dollar den Thermostat- und Rauchmelderhersteller Nest Labs, der ausgeklügelte Haushaltsgeräte baut. »Wir sehen, wenn Leuten ihr Toast verbrennt oder Kohlenstoffmonoxid austritt«, gab dessen Mitbegründer Tony Fadell bekannt.
Google träumt auch von selbstfahrenden Autos, während Apple mit seiner Smart Watch nicht nur Bewegungsdaten, sondern in Zukunft auch Biodaten des Endverbrauchers erfassen kann. Ein NFC-Chip soll das mobile Bezahlen revolutionieren und uns das Hotelzimmer von selbst öffnen, während die Filialen von McDonald’s und Starbucks erfahren sollen, wenn ein markenaffiner Endverbraucher Hunger hat. Die hochtrabenden Phrasen, die mit diesen Gimmicks und den zugehörigen Apps verbunden werden, erinnern an die Phase des Aufblähens der sogenannten New Economy um die Jahrtausendwende: Revolution, neues Zeitalter! Darunter macht es die zu einer Kapital­blase passende Ideologie nicht mehr, zumal höchste Verwertungsnot zu bestehen scheint.
Einen weiteren Schritt in dieses neue Zeitalter machte Wirtschaftsminister Gabriel Ende November. Im Triumvirat mit dem BDI-Präsidenten Ulrich Grillo und dem IG-Metall-Vorsitzenden Detlef Wetzel trat er vor die Kameras und kündigte die Gründung des »Bündnisses Zukunft der Industrie« an. Deutschland brauche eine »konzertierte Aktion«, verkündeten die drei Männer, denn das Land stehe »an der Schwelle eines neuen Industriezeitalters«.
Kritiker wie die Organisation »Gemeinwohl in BürgerInnenhand« befürchten, dass hier mit der Parole »Stärkung von Investitionen in Deutschland« eine neue Bonanza der Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) vorbereitet wird, die eine langfristige und finanziell desaströse Verpfändung staatlicher und kommunaler Objekte und Aufgabenbereiche an privatwirtschaftliche Konglomerate mit sich bringen dürfte. So beabsichtigt der Versicherungskonzern Allianz Autobahnen zu finanzieren – was die Diskussion um die Autobahnmaut erklären würde, die von der CSU vorangetrieben wurde.
Es gibt im Aufruf zum »Bündnis Zukunft der Industrie« allerdings einen weiteren interessanten Aspekt: Die Rede von der »modernen Dienstleistungsgesellschaft« wird offenbar aufgegeben. Die Industriearbeiterschaft in Deutschland wurde seit Jahrzehnten systematisch kleingerechnet, indem etwa das anwachsende Heer der Subunternehmer, Leiharbeiter und sogenannten Werkvertragsunternehmer als Dienstleister verbucht wurde, auch wenn es klassische Industriearbeit verrichtete. Ziel dieses Manövers, das seinen Widerhall in soziologischen Diskursen über die »Tertiarisierung« hatte, war es, das Selbstbewusstsein von Arbeitern und Gewerkschaften zu untergraben und ihnen eine Rolle als aussterbende Gattung zuzuweisen, mit der auch Klassenkonflikte, kollektive Organisationsformen und Arbeitskämpfe verschwinden würden.

Nun gibt man mehr oder weniger offen zu, dass die »Dienstleistungsgesellschaft« offenbar eine Chimäre war. Zusammen mit den produktionsnahen Dienstleistungen hingen knapp 60 Prozent der deutschen Wirtschaft direkt oder indirekt von der industriellen Produktion ab, so ist im Material des »Bündnisses Zukunft der Industrie« zu lesen. Zudem setzt sich bei deutschen Wirtschaftspolitikern offenbar die Erkenntnis durch, dass die systematische Deindustrialisierung, die in den USA und Großbritannien seit den Zeiten von Reagan und Thatcher brachial gegen die Gewerkschaften durchgeboxt wurde, diesen Volkswirtschaften erheblich geschadet hat. In beiden Ländern würden »inzwischen intensive Debatten über eine Reindustrialisierung geführt«. Wie das jedoch mit der Panikmache in Einklang gebracht werden soll, nach der Deutschland durch seinen angeblichen Investitionsstau den Anschluss zu verlieren drohe, bleibt rätselhaft.