Wie die Wüste lebt

Heißer Sand

Zum Bauen und Beachen braucht der Mensch den Sand. Die Wüste ist für ihn jedoch eine lebensfeindliche Umgebung. Für manche Tiere ist sie ein Lebensraum.

Dass die Wüste lebt, weiß man, seit Walt Disney in einem Film davon erzählte. Weniger bekannt ist, dass die darin so putzig nach Feinden Ausschau haltenden Präriehunde keine Hunde sind, sondern Nagetiere, die in langen und tiefen unterirdischen Gangsystemen leben. Deren oberirdische Eingänge wurden ihnen zum Verhängnis, als die weißen Siedler nach Amerika kamen und Kühe oder Rinder mitbrachten, die im Unterschied zu Bisons so dämlich waren, immer wieder in die Eingänge zu treten und sich die Füße zu brechen. Was die Siedler, die sich selbst als »Bebauer des Bodens« verstanden, gar nicht mochten und deshalb die Präriehunde mit derselben Kraft verfolgten, mit der sie schon die Indianer vernichtet hatten. Ein Prozess, der sich überall wiederholt, wo die Siedler aus Wäldern Wiesen oder Äckern machen, bis auch diese durch die Erosion des Bodens versandet und Wüste geworden sind. Erst wenn der Sand keine Gräser oder anderen Pflanzen mehr zu binden vermag, ziehen sich auch die Menschen aus dem Sand als Wüste zurück und überlassen ihn anderen Lebensformen.
Denn das Leben im trockenen Sand, um vom feuchten Sand im Meer und an den Küsten mal zu schweigen, ist extrem: heiß, trocken und nährstoffarm. Und wenn sich die Sandflächen zu großen Wüsten und Halbwüsten ausdehnen, kommen durch die Wolkenarmut über ihnen noch extreme Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht dazu. In der Mittagshitze können sich der Sand und die bodennahe Luft auf über 60 Grad Celsius erwärmen, während die Temperatur nachts bis auf wenige Grad über dem Gefrierpunkt absinken kann. Tägliche Temperaturunterschiede von 40 bis 50 Grad sind demnach keine Seltenheit.
Wie man unter diesen Bedingungen leben kann, zeigen auf bestimmte Art die Wüstenameisen, von denen Cataglyphis bicolor die bekannteste ist. Die Ameisen haben relativ lange Beine, so dass sie den direkten Bodenkontakt mit dem Körper vermeiden. In der Sahara, wo diese Ameisen ausschließlich vorkommen, kann der Temperatur­unterschied zwischen dem Sand und der Luftschicht direkt darüber bereits zehn Grad betragen. Woraus sich eine erste Tendenz des Lebens im heißen Sand ableiten lässt: Wenn möglich, sollte man den direkten Körperkontakt mit dem heißen Sand meiden oder zumindest minimieren. Eine zweite Tendenz zeigen die Ameisen dann mit ihren Nestern, die sie unterirdisch anlegen und in denen sie in Kolonien leben. Verlassen müssen die Nester zumindest die Arbeiterinnen der Kolonie natürlich, um Nahrung zu sammeln. Die Nahrung der Wüstenameisen besteht hauptsächlich aus toten Insekten und anderen Gliederfüßern, die die Arbeiterinnen im weiten Radius um ihr Nest herum sammeln müssen. In der Wüste können sich die Ameisen dabei aber nicht wie Wald- und Wiesenameisen auf ihren Geruchssinn verlassen. Nicht nur Wasser bindet und hält der Sand nicht, auch die Geruchsstoffe bleiben in den ständig von großen und kleinen Winden verschobenen Sandkörnern nicht hängen und hinterlassen so kaum Spuren. Wüstenameisen orientieren sich deshalb am Polarisationsmuster des Sonnenlichts am Himmel, was ihnen durch die Wolkenarmut erleichtert wird. Bei ihren Sammelausflügen zählen sie zudem mit einer Art innerem Schrittmesser die zurückgelegten Schritte auf dem Weg vom Nest weg und können sich so immer fast perfekt verorten und den Weg zurückfinden.
Ungefährlich sind ihre Ausflüge aber trotzdem nicht. Die Schweizer Insektenforscher Paul Schmid-Hempel und Rüdiger Wehner konnten zeigen, dass sich etwa 15 Prozent aller Arbeiterinnen ständig auf langen und gefährlichen Suchexpeditionen abseits des Nestes befinden. Viele von ihnen werden dabei von Spinnen und Raubfliegen gefressen. Im Durchschnitt leben die Futter suchenden Arbeiterinnen nicht länger als eine Woche. In der kurzen Zeit gelingt es ihnen aber, das 15- bis 20fache ihres eigenen Körpergewichts an Futter für die Brut im Nest zu sammeln. Manche Ameisenforscher bezeichnen diese Leben in ihrer Bilanz als selbstmörderisch, man kann aber auch weniger wertend feststellen, dass extreme Mangelgebiete nicht nur in feuchten Regenwäldern, sondern auch in sehr trockenen Gebieten die Lebensprozesse extrem beschleunigen können.

Allerdings ist auch das Gegenteil, die extreme ortsgebundene Langsamkeit ein Effekt des Wüstenlebens. Dafür steht exemplarisch einer der direkten Gegner der Wüstenameisen, der Ameisenlöwe. Ameisenlöwen sind die Larvenform der Ameisenjungfern, einer zu den Netzflüglern zählenden Familie in der Ordnung der Insekten. Erwachsene Ameisenjungfern sind mit an die 2 000 Arten die evolutiv erfolgreichste Familie unter den Netzflüglern, als durchweg nachtaktive Insekten allerdings wesentlich unbekannter als ihre Larvenform. Am Erfolg orientierte Evolutionsbiologen führen die weite Verbreitung der Ameisenjungfern denn auch vor allem auf die Lebensweise der Ameisenlöwen zurück. Durch die Eroberung des lebensfeindlichen heißen Sandes hätten die Ameisenlöwen ein Biotop für sich erschlossen, in dem sie sich relativ konkurrenzlos entfalten konnten, lautet das Standardargument zum Erfolg dieser Insektenfamilie.
Was für diese Sicht spricht, ist die Tatsache, dass es kaum andere Insekten gibt, die sich im Sand eingerichtet haben. Die eher an mutierte Hirschkäfer mit zu kleinem Geweih als an Löwen erinnernden, leicht bizarren Larven graben sich nämlich einen Trichter in den Sand, der ihnen nicht nur die Beute zuführt, sondern sie auch vor der Hitze schützt. Die schrägen Trichterwände werden deutlich weniger von der Sonne erhitzt als die ebene Erde und im beziehungsweise unter dem Trichter halten sich die Larven oft an jenen Stellen auf, an denen es gerade am kühlsten ist. Als fast bewegungslos im Sand lebende Räuber, die nur darauf warten müssen, dass eine Ameise oder irgendein anderes Tier in ihre Falle fällt, sind sie so etwas wie die biologische Antwort auf die extremen Anforderung des heißen Sandes, bei minimaler Bewegung und damit dem geringsten möglichen Wasserverlust der direkten Sonneneinstrahlung auf den Körper zu entgehen.

Wozu der schier unüberwindliche Konflikt zwischen viel zu heißem Sand und brutal direkter, nicht mal durch eine Wolke gedämpfter Sonneneinstrahlung führen kann, das zeigen am besten die Schlangen, die sich seitenwindend fortbewegen. In der Namibwüste in Namibia oder auch in amerikanischen Sandwüsten kann man zeitweilig viele einzelne parallele, aus fast geraden Linien bestehende Kriechspuren finden. Die stammen von Zwergpuffottern oder Seitenwinderklapperschlangen. Dabei verläuft die Bewegung der Schlangen schräg zur Längsachse der Spuren. Eine Bewegung, die nicht leicht zu verstehen und noch schwerer genau zu beschreiben ist. Kurz könnte man sagen, die Seitenwinderschlangen bewegen sich nicht mit dem Kopf voran, sondern eben seitlich mit Kopf und Schwanz auf gleicher Höhe und erreichen dabei trotzdem immense Geschwindigkeiten. Der Witz bei dieser Fortbewegungsform ist, das sich immer nur zwei kurze Abschnitte des Körpers vorübergehend in Kontakt mit dem Untergrund befinden. Tagsüber wird dadurch der Kontakt mit heißem Sand gegenüber einer Fortbewegungsweise, die den ganzen Körper über den Boden zieht, extrem vermindert. Eine Methode, die allerdings nur von kurzen, unter einem Meter langen Schlangen genutzt werden kann. Die Größeren bekämen die dafür nötigen Drehungen der Wirbelgelenke nicht unter Kontrolle.
Der heiße Sand der Wüsten führt aber nicht nur zu Vermeidungsstrategien. So gibt es regelrechte Brutbewegungen von Wasservögeln in die Sandregionen. In der Colorado-Wüste brüten zum Beispiel Regenpfeifer, Säbelschnäbler und Seeschwalben. Dem Problem, dass die Eier, die die Vögel auf den Boden legen, tagsüber sehr schnell überhitzen können, wodurch die Embryonen zerstört würden, weichen die Vögel durch schnelle Brutwechsel der Paarpartner aus. Während der eine brütet, verbringt die andere ihre Zeit auf entfernten Gewässern und bringt zum Brutwechsel kühlendes Wasser im Gefieder mit. Wenn es trotzdem zu heiß wird, brüten die Vögel nicht mehr, sie stellen sich schattenspendend über die Eier oder behecheln sie zusätzlich und schaffen es so, deren Temperatur unter der der Umgebung zu halten.
Während Vögel leicht zu entfernten Wasserquellen fliegen können, gilt dies für Säugetiere nicht. Die Größeren unter ihnen, wie Esel, Antilopen, Kamele oder in Namibia auch Wüstenelefanten, sparen einfach Wasser, indem sie konzentrierten Harn und trockenen Kot abgeben. Da ihre auf hohen Beinen stehenden Körper die heißeste Luftschicht am Boden überragen, können sie bei entsprechend sonnenneutraler grauer Fellfarbe auch am Tage wandern. Für die kleineren Säugtiere wie Spring- und Rennmäuse und die australischen Hupfmäuse gilt dies aber nicht. Sie weichen wie viele Tiere in Sandgegenden in die Nacht aus und verbringen den Tag häufig in Erdhöhlen, in denen die Lufttemperatur im Vergleich zu den Außentemperaturen relativ konstant und die Luftfeuchtigkeit hoch ist. Da auch die in den Bau eingetragene Nahrung die Luftfeuchtigkeit annimmt, erhöhen die baubewohnenden Nager, die ihr Wasser hauptsächlich aus der Nahrung beziehen, dadurch auch ihre Wasserzufuhr.
Auf diese Weise schafften es denn auch die eingangs erwähnten Präriehunde in den Wüsten Nordamerikas, ihr Überleben buchstäblich zu gestalten. In für die Viehweidewirtschaft unattraktiv gewordenen Steppen und Halbwüsten schützen sie ihre Bauten vor der extremen Hitze des Tages, dienen ihnen als Nahrungs- und Wasserspeicher und als Fluchtort vor Füchsen und Kojoten. Wobei gerade Kojoten in einem der schönsten Momente der amerikanischen Filmgeschichte jene Tiere sind, die kommen, wenn die Menschen die Wüste verlassen. In Sam Peckinpahs wunderbarem Film »The Ballad of Cable Hogúe« ist es ein Kojote, der ganz ruhig und souverän über die Leinwand geht, nachdem die Menschen die sandige Gegend ohne gewinnbringende Fruchtbarkeit verlassen haben.