Sigmar im Wunderland

Wenn Sie in Zukunft noch einen Feierabend haben wollen, sollten Sie auf keinen Fall SPD wählen. »Arbeit von ›nine to five‹ dürfte für viele Menschen eher zur Ausnahme als zur Regel werden«, drohen Sigmar Gabriel und Andrea Nahles in einem gemeinsamen Artikel in der Süddeutsche Zeitung zum zehnten Jubiläum der Hartz-Gesetze. Nahles gehört einem Flügel der SPD an, der aus nicht ganz ersichtlichen Gründen als links gilt. Der Artikel soll verdeutlichen, dass die Sozialdemokraten geschlossen hinter den Hartz-Gesetzen stehen, vor allem aber, dass sie sich für weitere patriotische Maßnahmen zur Veredelung des deutschen Humankapitals bereithalten. Schließlich lässt sich die »neue Ökonomie« angeblich »nicht mehr mit dem Instrumentenkasten der klassischen Industriegesellschaft« wie tarifvertraglich geregelter Arbeitszeit und anderen steinzeitkommunistischen Relikten »steuern«. Neue Ökonomie? Das klingt ein wenig nach der New Economy, die durch die »grundlegende Veränderung der Wirtschaft durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien über alle Bereiche hinweg« (Gabler Wirtschaftslexikon) gekennzeichnet war und sich 2001 mit einem Börsencrash verabschiedete. Wenn »wir« nun »unsere traditionellen Stärken im Bereich der materiellen Produktion klug mit der Revolution im Bereich der IT-Entwicklung kombinieren«, ist das aber etwas ganz anderes, nämlich eine »Transformation zu Industrie 4.0 und Smart Services« (siehe auch Seite 7).
Die Aufgabe der modernen Sozialdemokratie besteht nun darin, dafür zu sorgen, dass »unsere Sozialsysteme« nicht von »der kalten Hand regelloser Märkte zerstört werden«, sondern Gabriel und Nahles mit ihren warmen, aber zum Zupacken bereiten Händen »den Prozess der moderierten Anpassung des Sozialstaats« fortsetzen können. Schließlich ist Deutschland dank ihrer Reformen »wieder zum Wirtschaftswunderland geworden«. Der reaktionäre Bezug auf das durch die nationalsozialistischen Raubzüge und die anschließende Schuldenstreichung ermöglichte »Wunder« ist hier allein als patriotische Mahnung zu verstehen, »dass Deutschland es schaffen kann«. Eine Steigerung des Wohlstands der Lohnabhängigen und eine Verlängerung ihrer Freizeit werden nicht einmal mehr versprochen. Beim Wunder 2.0 soll Ihnen genügen, dass Sie den Chinesen gezeigt haben, wo der Industriehammer 4.0 hängt. Und machen wir uns nichts vor: Nach dieser Transformation kommt schnell die nächste »neue Ökonomie«, die Transformation zu Industrie 5.0 und, nun, wahrscheinlich irgendetwas mit Life Sciences, die werden von der Wirtschaftsesoterik derzeit etwas vernachlässigt. Aber zum Glück für den Standort hat sich die Sozialdemokratie, einst Krankenschwester am Bett des Kapitalismus, zu dessen Motivationstrainer fortgebildet.