Die Verschwörungstheorien über die Anschläge in Paris

Eine Welt für sich

»False Flag«, »Inside Job«, Mossad und die USA: Im Repertoire der Verschwörungstheorien, die in der vergangenen Woche durch die sozialen Medien kursierten, hat sich seit 9/11 kaum etwas geändert.

Vermutlich nur ein Zufallsopfer. So ungefähr lautete die Erklärung nicht nur deutscher Medien dafür, dass Chérif und Saïd Kouachi zwar eine Mitarbeiterin von Charlie Hebdo mit den Worten zu beruhigen versuchten, dass sie keine Frauen erschießen würden, aber mit Elsa Cayat sehr wohl eine Frau ermordet hatten.
Dabei hatte Sophie Bramly, eine Cousine Cayats, schon einen Tag nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitung im Interview mit CNN erklärt, warum die Psychologin umgebracht wurde: Sie war Jüdin. Die späteren Opfer waren von den Terroristen namentlich aufgerufen worden, Bramly ist sicher, dass auch Cayat gezielt ermordet wurde: »Sie war schließlich die einzige Jüdin vor Ort und die einzige Frau, die getötet wurde.« Elsa Cayat habe zudem in den Wochen vor der Tat mehrere anonyme Drohanrufe erhalten, in denen sie nicht nur als »dreckige Jüdin« beschimpft, sondern auch aufgefordert worden sei, die Arbeit für Charlie Hebdo umgehend einzustellen, weil man sie sonst töten werde.
»Es war eben nicht nur ein Anschlag auf die Pressefreiheit«, sagte Bramly und beklagte, dass die Religionszugehörigkeit Cayats in den meisten Medienberichten nicht als Mordmotiv genannt worden war.
Nun sind Fakten ohnehin nicht das, was Social-Media-Nutzer vordringlich interessiert, auf Twitter und Facebook werden Terroranschläge entsprechend häufig als willkommene, nur notdürftig – wenn überhaupt – mit Solidaritätserklärungen an die Opfer versehene Anlässe betrachtet, die eigene Weltsicht zu verbreiten.
Dieser Hang, jedes Ereignis sofort als Beleg fürs Rechthaben zu benutzen, zeichnet nicht nur Verschwörungstheoretiker aus – obwohl sie in aller Regel diejenigen sind, die ihre Thesen am schnellsten verbreiten. Aber nicht nur diejenigen, die sich selbst nicht als Konspiratisten, sondern eher als politisch Engagierte sehen, wussten nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo schnell, wer die eigentlichen Täter sind. Greta Berlin etwa, eine Organisatorin der Gaza-Flotilla, schrieb auf Facebook umgehend: »Der MOSSAD griff soeben die Büros von Charlie Hebdo an, in einem unbeholfenen Versuch, die Beziehungen zwischen Palästina und Frankreich zu beschädigen.« Sie hoffe, dass die französische Polizei in der Lage sei zu erkennen, dass der »gut ausgebildete israelische Geheimdienst« hinter dem Anschlag stecke und »Muslime keinesfalls Frankreich attackieren würden, denn Frankreich ist ihr Freund«. Auch der für die Berliner Piratenpartei im Abgeordnetenhaus sitzende Gerwald Claus-Brunner twitterte am 8. Januar: »#CharlieHebdo was a plot but not one from islamists. Its as clear as mud thats from the secret services. they want to devide us to govern us« (Rechtschreibfehler im Original). Auf Nachfragen bestätigte Claus-Brunner, der in seiner Twitterbiographie angibt, »Halbjude« zu sein, mehrmals, dass er dies tatsächlich so meine.
In Verschwörungstheorie-Foren wurde seine Erklärung gefeiert, dort machte man sich ohnehin gerade daran, das vorhandene Videomaterial auf Belege für die Verwicklung von Staaten oder Geheimdiensten abzusuchen. Und wie üblich war auch diesmal kein Detail zu winzig und keine Frage zu blöd, als dass sie nicht begeistert verbreitet werden würden.
Verschwörungstheoretiker sehen in Terroristen je nach Bedarf übermenschliche, perfekte Wesen, die vollkommen fehlerlos agieren, oder Leute, die sich keineswegs vorausschauend auf Anschläge vorbereiten. Dass Chérif und Saïd Kouachi auf ihrer Flucht ein anderes Auto rammten, kann in der Vorstellung derjenigen, die die USA für jeden Vorfall auf der Welt verantwortlich machen, nicht etwa daran liegen, dass sie womöglich aufgeregt und nervös waren, sondern wurde umgehend zum Teil einer ganzen Indizienkette. Wie auch der im Auto liegengebliebene Pass – wahrscheinlich mitgenommen, um bei einer zufälligen Verkehrskontrolle keinen Verdacht zu erregen und während der Tat im Auto gelassen, damit die Identifizierung erschwert wird – ebenfalls schon kurz nach den Anschlägen zum Grundgerüst jeder Theorie gehörte.
Dass kein Blut aus dem Kopf des getöteten Polizisten spritzte – Verschwörungstheoretiker schauen sich offenbar mit großer Begeisterung selbst Mordszenen akribisch an –, gilt ebenfalls als Beleg für einen inside job, da können Experten noch so oft erklären, die Auswirkungen moderner Präzisionswaffen hätten nichts mit dem sattsam bekannten Splatter in Hollywoodfilmen zu tun.

Diesmal suchten allerdings nicht nur die einschlägig bekannten Verschwörungstheoretiker nach Gründen, die Opfer nicht wenigstens zu bedauern. Auf Twitter empörten sich Feministinnen während der Geiselnahme im koscheren Supermarkt darüber, dass in den Medien Worte wie »Terroristen« und »Täter« nicht ordnungsgemäß gegendert wurden und der zu diesem Zeitpunkt noch am Tatort vermuteten Hayat Boumeddien lediglich eine Gehilfinnenrolle zugesprochen werde: »›Terror-Komplizin‹ Nicht mal eigenständige Terroristin darf eine Frau hier sein«, twitterte User oder Userin @drayenim am 10. Januar. Andere bastelten an selbstgemachten Rassismus-Definitionen, um zu beweisen, dass die Zeichner von Charlie Hebdo Rassisten gewesen seien und der Solidaritäts-Hashtag #JeSuisCharlie nichts anderes als ein Gemeinmachen mit Nazis sei.
»Weiße können töten, indem sie Sachen ­›schreiben‹ oder zeichnen«, schrieb eine in Berlin lebende Twitter-Userin mit dem Nick @baum_glueck in einem Tweet und fuhr fort: »Die Karikaturen von Charlie Hebdo sind das ideologische Futter für die ›echten‹ Kanonen, die im Nahen Osten andauernd braune Menschen töten.«
Das Opfer Elsa Cayat wurde dagegen ignoriert: »Wenn weiße Männer sterben, gehen europa-(welt-?)weit Hunderttausende auf die Straße. Erinnert mich an 9/11.« twitterte etwa die Frankfurterin @_anima_I über die Solidaritätsdemonstration in Paris nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo.
Jegliche Behauptung, wonach Charlie Hebdo im Grunde nichts anderes getan habe, als rund um die Uhr die religiösen Gefühle von Muslimen zu verletzen, wurde freudig aufgenommen. Besonders ein Artikel von Abdullah al-Arian, der auf der Website des Senders Al Jazeera erschienen war, wurde vielfach geteilt, im Text geht es darum, dass der Islam seit Jahrzehnten im Westen unfair kritisiert und lächerlich gemacht werde.
Charlie Hebdo habe dies auch getan, und dazu einen Mitarbeiter wegen eines als antisemitischen Beitrags gefeuert, schreibt al-Arain unter anderem. Der Versuch, dem Satiremagazin nachzuweisen, dass es einseitig nur Witze über den Islam mache, kam nicht von ungefähr, wie in englischsprachigen Medien veröffentlichte geleakte E-Mails aus der Redaktion zeigen. Nach der Attacke hatte Salah-Aldeen Khadr, der geschäftsführende Produzent des englischsprachigen Ablegers des Senders, eine E-Mail an seine Mitarbeiter mit dem Betreff »Wir sind Al Jazeera« versandt. Darin wurden die Journalisten nicht nur angeregt, wie über die Terroranschläge von Paris zu berichten sei, sondern auch ermuntert, »die Frage zu stellen, ob es sich wirklich um einen Angriff auf die Meinungsfreiheit und europäische Werte handelte« und ob der Slogan »Je suis Charlie« nicht in Wirklichkeit eine »fremdenfeindliche Parole« sei.