Auszug aus: »Wenn das Leben kein Ponyhof ist, warum liegt dann Stroh in der Ecke?«

Italien soll schön sein

Der Metal-Kolumnist Michael Goehre erzählt ostwestfälische Geschichten.

Glücksmomente

Seitdem ich neulich entdeckt habe, dass die chinesische Küche mehr zu bieten hat als »kochendes Wasser drüberkippen, einmal umrühren und runterschlingen«, bin ich Stammgast im China-Restaurant. Dabei geht es mir weniger um Peking-Enten, Glasnudeln oder Reiswein als vielmehr um die Glückskekse.
Glückskekse sind die einzigen Kekse, bei denen es egal ist, dass sie schmecken wie Verpackungsware, weil sie ja auch Verpackungsware sind. Bei ihnen kommt es auf den Inhalt an, womit Glückskekse auf einer Stufe mit guten Filmen, Wodkaflaschen oder dem Playboy stehen. Sie sind die Urgroßeltern der Überraschungseier, die Vorstufe zu Spiel, Spaß, Spannung und Schokolade.
Man ist nach dem Chinamahl satt und zufrieden und hat statt eines fettigen Vanillepuddings mit einer Haut wie an schwieligen Elefantenfüßen das spannende Erlebnis einer kleinen, persönlichen, positiven Prophezeiung.

Ich saß also da bei Herrn Wong und freute mich auf das Brechen des asiatischen Brotes und sann darüber nach, wie sehr ich diese Glückskeksmomente liebe. Momente, in denen Gutes passiert, obwohl oder gerade weil man es nicht erwartet:
Wenn du zum Beispiel eine Frau anhimmelst und dich dann endlich traust, sie anzusprechen, und es läuft alles gut, du fragst sie nach ihrer Telefonnummer, sie lächelt dich an und flüstert in dein Ohr: »Die habe ich schon in deinen Kotflügel geritzt«, und du denkst, wie praktisch es ist, sich heute das Auto deiner großen Schwester ausgeliehen zu haben.
Ein Glückskeksmoment ist, wenn du das erste Mal die Stützräder von deinem allerersten Fahrrad abnimmst und mit zittrigem Lenker die ersten Meter wackelst, dann sicherer wirst, in die Pedale trittst und fährst und fährst, und du hörst deinen alten Herrn hinter dir applaudieren und rufen: »Siehst du, wer hat gesagt, mit Mitte dreißig kann man nichts mehr lernen?!«
So ein Glückskeksmoment, in dem du auf der Mauer einer hohen Burg stehst, und über dir kackt eine Taube. Aber sie verfehlt dich, der Schiss fällt in die Tiefe, und du denkst: »Jetzt aber!« und spuckst hinterher, und deine Spucke gewinnt.
Es ist ein Glückskeksmoment, wenn du auf einer knallgelben Luftmatratze den Mittellandkanal hinuntertreibst, die Melodie von »Love Me Tender« pfeifst und es einfach mal drauf ankommen lässt, ob dich der Wärter an der nächsten Schleuse ernst nimmt.
Wenn du an einem schönen Sommerabend mit Freunden im Biergarten sitzt, und du lehnst dich zurück, hörst und siehst ihnen zu, wie sie schwatzen und lachen, und du grinst, bis dir fast die Ohren vom Kopf fallen, weil du mit diesem tollen Haufen befreundet bist und jetzt in diesem Moment alles passt, und du willst ihn nehmen und zusammenrollen und auf ein kleines Stück Teig legen, welches du faltest und zu einem Glückskeks verbackst; und wenn es dir mal dreckig geht, dann kannst du den Keks brechen und den Moment einfach noch mal erleben, und alles ist tofte.
Es ist ein Glückskeksmoment, wenn du von einem Arschlochtypen blöd angemacht wirst, nur weil du ihn nach der Uhrzeit gefragt hast und er in seinem Kleingeisthirn dachte, du wolltest ihn anschnorren, und er sieht schwer zufrieden aus, es diesem Punk mal so richtig gezeigt zu haben, dann bleibt er mit dem rechten Augenlid am Außenspiegel eines vorbeifahrenden Schulbusses hängen.
Wenn du Fußball guckst, die Arminia Bielefeld führt 2:0 und kassiert dann in den letzten fünf Minuten noch drei Gegentore, und du verlässt das Stadion und denkst, wie praktisch es doch ist, dass du überhaupt nicht auf Fußball stehst und jetzt nicht wie die anderen Telefonzellen anzünden und die Fans der gegnerischen Mannschaft verkloppen musst. Stattdessen spielst du entspannt eine Runde Minigolf und lieferst 18 Hole-in-ones ab, und du weißt: So geht echter Männersport!
Ein Glückskeksmoment ist, wenn beschlossen wird, dass man doch eine elfte Staffel von »Friends« drehen wird.
Ein Glückskeksmoment ist, wenn sich der Fallschirm nicht öffnet und du feststellst, dass du exakt auf die geöffnete Dachluke der weltgrößten Daunenfederkissenfabrik zusteuerst.
Ein Glückskeksmoment ist, wenn die Leute in ihren Köpfen zu deinen Worten tanzen.
Glückskeksmomente sind die Streusel auf dem Kuchen des Lebens, und ich liebe Streusel, auch wenn ich nicht genau weiß, was Streusel eigentlich sind.

Ich saß also bei Herrn Wong und zerbröselte meinen Keks und kam mir dabei sehr superkräftemäßig vor. Ich entrollte den kleinen Zettel darin und war schon flitzebogenmäßig gespannt, was für eine Botschaft die chinesische Orakelbackware für mich und meine Zukunft enthalten würde, da las ich den folgenden Satz: »Du wirst qualvoll sterben.«
Na ja.
Da stand immerhin nicht, dass mir sofort und auf der Stelle jemand bei lebendigem Leib kochend heiße André-Rieu-CDs in den After schieben würde, was mein persönlicher Favorit unter den vorstellbaren unvorstellbaren Todesqualen ist.
Außerdem tröstete mich der Gedanke, dass diese kleinen Botschaften oftmals schauerlich übersetzt sind und es ja auch durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dass ein bestimmtes, selten benutztes unter den vielen tausend chinesischen Schriftzeichen sowohl »qualvoll sterben« bedeutet, als auch als »volle Kanne reich, beliebt und mit unverwüstlichen Zähnen ausgestattet« gelesen werden kann.
Und da ich bis heute nicht zu Tode zerrieben wurde, bleibt mir immer noch Zeit zu lernen, die Melodie von »Love Me Tender » fehlerfrei zu pfeifen, mir eine knallgelbe Luftmatratze zu kaufen und es dann darauf ankommen zu lassen.

Unpeinlich berührt

Da stand ich also da, etwa zwei, drei Meter abseits des Parkweges im Gebüsch, und ich hätte ja vorher drauf wetten können: Keine dreißig Sekunden steh ich da, schon keift mich eine alte Dame von hinten an: »IGITT! Muss das sein, dass Sie hier in aller Öffentlichkeit pinkeln? Das ist ja wi-der-lich!«
Ohne mich umzuwenden, weil das in dieser Situation irgendwie unpassend gewesen wäre, entgegnete ich: »Au contraire, werte Dame, ich pinkle gar nicht. Ich wichse.«
»Um Himmels willen!« kreischte die Frau wieder. »Das konnte ich ja nicht ahnen. Ich dachte, Sie urinieren, hier, wo Sie alle sehen können. Das war ein Missverständnis meinerseits, tut mir sehr leid.«
»Ach«, sagte ich abwinkend. »Das macht nix, so ein Irrtum kann ja jedem mal unterlaufen.«
Die Frau entschuldigte sich noch einmal, wünschte mir gutes Gelingen und ging ihres Weges. Ich konnte meine Masturbation in Ruhe weiterführen, bis ich mit einem sehr entspannenden Orgasmus eine erkleckliche Anzahl Buschblüten mit meinem Samen bestäubte.

Holger, ein Mädchen wie alle anderen auch

Ich bin unterwegs mit meiner kleinen Lieblingsnichte väterlicherseits. Sie heißt Holger, ist fünf Jahre alt und sehr goldig. Von all meinen Verwandten hasse ich sie am wenigsten, und sie mag mich wohl auch sehr gerne, denn wenn sie mir gegen das Schienbein tritt, trägt sie nie ihre Hello-Kitty-Stiefelchen mit den Stahlkappen. Wie auch immer, what the fuck und weiter im Text: Holger und ich gehen durch den städtischen Park spazieren und frönen unseren Hobbys: Vögel beobachten, über Hindernisse hopsen und andere Leute übelst fertigmachen.
Wir sitzen gerade auf einer Bank und schlecken Eis, als ein Typ an uns vorbeistolziert, dessen DNS sich nicht zwischen Mensch und Pfau entscheiden konnte. Obwohl dichter Wald uns überdacht, es generell nicht das beste Wetter ist und die Sonne sich erfolglos wie eine Bielefelder Fußballmannschaft müht, die Verteidigung des FC Wolkenheim zu durchbrechen, trägt der Kerl passend zu seinem rosa Ed-Hardy-Shirt, der glitzerversteinerten Ed-Hardy-Jeans und seinem Ed-Hardy-Gesicht eine riesige Pilotenbrille. Ich finde die Dinger jenseits eines Flugzeugcockpits schon bei gleißendem Sonnenlicht recht albern, aber als rein modisches Accessoire fernab seiner praktischen Bestimmung ist so ein Teil nur noch erbärmlich. Ich lauf ja auch nicht im Winter mit meiner Badehose rum, nur weil ich das Ctulhu-Paisley-Muster so schick finde. Also stupse ich Holger an und sage: »Guck mal, Holgi, der arme Kerl wurde von seiner Freundin verprügelt, und jetzt schämt er sich für sein Veilchen.«
Holger gackert lauthals, und der Typ bleibt stehen. Holger und ich betreiben Hardcore-Lästering, das heißt, wir ziehen laut genug über Leute her, damit die es auch klar und deutlich hören. Fred Hardy kommt auf uns zugestapft und baut sich mit seinem Hulk-Hogan-Gedächtniskörper vor uns auf. Er packt mich am Shirtkragen und zieht mich zu sich hoch. Dann nimmt er die Brille ab. Natürlich hat er kein Veilchen, seine Augen sind trotzdem bemerkenswert blau und stechend.
»Hast du ein Problem, Alter?« grunzt er.
Ich versuche, meinen Blick abzuwenden. »Entschuldige«, sage ich kleinlaut. »Ich wusste ja nicht, dass du ohne Brille noch hässlicher bist.« Der Typ grunzt verblüfft. Sein Griff wird fester, und mein Kragen gräbt sich tief in meine Haut. Er zieht mich noch näher zu sich ran. Ich kann seinen Atem spüren und vor allem riechen, eine widerwärtige Mischung aus Döner und Douglas-Filiale. »Wie? War? Das?« keucht der Wutentbrannte.
»Na ja«, sage ich. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass du Gesichtskrebs hast. Tut mir leid«, entschuldige ich mich aufrichtig gelogen.
Er reißt seine Augen so weit auf, dass ich beim Anblick der blutunterlaufenen Glubschbälle Lust auf eine Runde Minigolf kriege. Er lässt mich los, allerdings nur mit einer Hand und leider auch nur, um auszuholen und mir eine zu kacheln. Doch bevor er zuschlagen kann, springt Holger von der Bank herunter, erklettert das Hosenbein von Fred Hardy und kraxelt an dem vollkommen Verdutzten und Erstarrten hoch, bis sie seinen Hals erreicht. Sie angelt mit einer Hand eine vorgebundene Krawatte aus ihrer Powerpuff-Girls-Handtasche, legt sie ihm um und lässt sich dann fallen, während sie den Schlips weiter fest in ihrer kleinen Hand hält. Der Typ lässt mich frei und wird heruntergezogen. Das erstaunt vermutlich, aber man muss dazu sagen, dass Holger vielleicht der sprichwörtliche laufende Meter ist, aber da sie zur Hälfte Deutsche, einem Viertel Holländerin und einem Viertel Neutronenstern ist, verfügt sie über eine extreme Körperdichte. Fred Hardy kann dem nichts entgegensetzen. Jetzt wird er an ein Gesicht herangezogen, das zwar sehr klein und putzig ist, aber auch gerade sehr böse guckt.
»Hör mal zu«, lispelt Holger. »Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du verpisst dich jetzt, oder ich rufe meine Freunde, die Eichhörnchen, und lasse dich von ihnen mit ihren Eicheln zu Tode vergewaltigen, du Blödi.«
Aus dem eben noch blutwurstdunklen, solariumgestählten Gesicht des Trottels ist sämtliche Farbe gewichen. »’tschuldigung … geh ja schon … «, stammelt er und windet sich.
Holger guckt ihn finster an. Sie sieht dabei wirklich zum Knuddeln aus. Sie zieht unseren neuen Feind zu sich, bis sie Nase an Näschen dastehen. Soll heißen, sie steht, und Fred versucht, nicht auf alle Viere zu fallen. Sie nimmt dem Typen die Sonnenbrille aus der Hand und isst sie auf. »Hasta la vista, Baby«, raunt Holger, natürlich völlig akzentfrei, schließlich war einer ihrer deutschen Vorfahren Mexikaner.
Sie lässt los, und der Typ verhastalavistat sich, so schnell er kann. Wir lachen lauthals los. Holger klettert behende auf die Bank, damit wir uns High-five geben können, dann setzen wir uns und lassen unserer Heiterkeit freien Lauf, bis sie peu à peu verebbt. »Mann«, sage ich. »Für ein kleines Mädchen bist du echt ein cooler Typ.«
Sie wird rot, was sehr süß aussieht. »Danke.«
»Das müssen wir feiern«, sage ich, krame in meinem Rucksack und halte ihr eine Dose 5,0 hin. Sie sieht mich kritisch an. »Ich trinke kein Bier. Ich bin erst fünf.«
Ich sehe auf die Dose in meiner Hand. »Hm, hast recht«, gebe ich zu.
»Aber wenn du was zu rauchen hättest, wäre ich dabei«, sagt Holger.
»Was zu rauchen? Im Sinne von Kiffen? Ernsthaft?«
Sie zuckt mit ihren kleinen Schultern: »Ich hab gesagt, ich bin fünf. Ich hab nicht behauptet, dass ich straight edge bin.«
Da hat sie natürlich recht. Wir teilen uns einen Joint, betrachten die Bäume und vorbeigehende dumme, kopfschüttelnde Leute.
»Sag mal, Holgi«, unterbreche ich nach einer Weile unser Schweigen. »Wie fühlt man sich eigentlich so als erfundener Charakter?«
Sie sieht mich an und überlegt kurz. »Na ja, eigentlich wie jeder andere auch. Nur ausgedachter. Du solltest mich übrigens baldmöglichst rechtlich schützen lassen. Andere Autoren haben auch schon ein Auge auf mich geworfen.«
»Echt?«
»Na klar. Wann findet man schon eine coole Fünfjährige mit einer Dichte von 1 015 Gramm pro Kubikzentimeter, die sich gerne prügelt und kifft? Du hättest mal sehen sollen, wie Patrick Salmen mich neulich angeguckt hat.«
Ich nicke. »Alles klar. Gleich morgen früh lasse ich dich eintragen, dann müssen die anderen sich ihre eigenen Nichten ausdenken.«
Sie drückt die Reste des zweiten Joints an der Bankkante aus. »Mach das«, sagt sie.
Ich stehe auf und klatsche in die Hände. »So, wir sollten los. Ich muss dich in einer halben Stunde bei deiner Mutter abliefern, sonst macht sie sich noch Sorgen.«
Sie nickt, legt den Kopf schief und macht ihre Pupillen ganz weit. »Kriege ich denn noch ein Eis?«
Ich muss lächeln. Sie mag vielleicht kein Bier, verprügelt gerne Vollidioten, die zwei Elefantenköpfe größer sind, und könnte sich eventuell irgendwann zu einem schwarzen Loch weiterentwickeln, aber im Grunde ist Holger ein fünfjähriges Mädchen wie alle anderen auch. Ich nehme sie bei der Hand, und wir machen uns auf den Weg.
»Alles, was du willst«, sage ich. »Alles, was du willst.«

Tag im Meer

9:41 Uhr
Ich betrete den Sandstrand von Badalona. Der Vorort Barcelonas ist eine relativ touristenbefreite Zone, und es gibt Platz satt für mich und mein Badetuch. Die Sonne brennt bereits kräftigst, und ich mache mich auf ins Wasser, um mich abzukühlen. Ich bin kein großer Schwimmer, aber ich kann super planschen. Hatte ich schon als Drei-Fleischkäse-Hoch drauf, das Planschen. Zwei kleine spanische Mädchen sehen zu, wie ich etwas zögerlich in die leichte Brandung stiefele. Sie lachen keckernd, und ich frage mich, was es da zu keckern gibt. Es liegt wohl daran, dass ich der einzige Nichteinheimische hier bin und hauttechnisch als leuchtendes Beispiel diene. Was in Ostwestfalen noch als fesche Bräune durchgeht, nennt man hier 1,90 Meter Frischkäsezubereitung. Jaja, keckert nur, denke ich. Ein Tag hier am Strand, und ich gehe glatt als Südwestfale durch.

9:43 Uhr
Ich bin hart erfrischt.

9:45 Uhr
Fröhlich hopse ich hoch, wenn eine größere Welle anrollt. Hopsen und Planschen, da macht mir keiner was vor. Bei einer Welle vertue ich mich aber ein bisschen und werde herumgewirbelt. Spaßig, denke ich, doch die Welle wollte wohl mehr von mir und hat an meiner Hose gezuppelt. Ich will den Sitz des James-Bond-mäßigen Beinkleids korrigieren, da bemerke ich den Grund für das Keckern der Kinder. Da habe ich doch glatt meine Badehose auf links angezogen. Und weil für die Herstellung des Kleiderschilds inzwischen mehr Stoff benutzt wird als für die Klamotte selbst, hat es für die belustigten Blagen wohl ausgesehen, als hätte ich arschwärts die weiße Fahne gehisst. Kein Problem, bin ja nicht auf den Kopf gefallen, zumindest nicht öfter als ein-, zweimal. Ich schwimme ein paar Meter Richtung Ägypten, versichere mich, dass gerade keiner guckt, und beginne dann, mir unter Wasser die Buxe auszuziehen. Bei dem Auf und Ab der Wellen ist das gar nicht so einfach. Bin untenrum ganz frei und denke: Hi hi, wenn ihr wüsstet, ihr Menschen am Strand und im Wasser. Dann friemele ich die halb geknüllte Hose unter Wasser auseinander und dreh sie wieder auf rechts, was keinerlei politische Aussage beinhalten soll.

9:47 Uhr
Ich lerne etwas über die lokale Meeresfauna. Es gibt hier zwar keine Krokodile oder Haie, aber auf jeden Fall Fische, die groß genug sind, um einem ausgewachsenen Ostwestfalen seine James-Bond-mäßige Badehose aus der Hand zu reißen.

9:48 Uhr
Ich hasse es, Salzwasser in die Augen zu bekommen, aber es geht nicht anders. Ich tauche unter und suche nach dem dreisten Dieb, aber der hat sich schon aus dem Schlick gemacht. So eine Sau, so eine dumme! Von meiner James-Bond-mäßigen Badehose, die mein Gemächt stets so schön betonte, keine Spur. Mein Gemächt treibt unschön frei im Wasser und betont meine Nacktheit. Mit brennenden Augen tauche ich wieder auf. Verzweifelt sehe ich zu dem sich mit Menschen füllenden Strand. Die einzigen anderen Nackten sind Kleinkinder, die dürfen so was. Wenn ich jetzt so bloß und blass zu meinem Badetuch und meiner Jeanshose spurte, keckern nicht nur die Kinder. Mein Urlaub hat gerade erst angefangen, da möchte ich nicht schon zum Gespött der Einheimischen werden. Zumal solche Ereignisse schnell mal den Weg auf YouTube finden. Ich will nicht bekannt werden als der fahle Flitzer von Badalona.

10:01 Uhr
Ich überlege, einfach aus dem Wasser zu spazieren und mich vor versammelter Mannschaft damit rauszureden, dass ich aus der ehemaligen DDR komme und dass man im Nudisten- und Bauernstaat halt am Strand so rumlief. Mit kulturellen Hintergründen kann man viel erklären und entschuldigen.

10:03 Uhr
Überlege es mir anders.

11:35 Uhr
Der Strand füllt sich langsam, aber sicher mit Menschen. Sehnsüchtig sehe ich einem jüngeren Typen in rosa Shirt und grüner Hose hinterher. Nicht weil mir sein Outfit so gut gefiele oder ich mich sexuell umorientiert hätte, sondern weil er gerade meine Sachen klaut und sich damit aus dem Strandstaub macht. Damit hat sich auch mein Plan erledigt, völlig erstaunt irgendwo in den Himmel zu zeigen, mit weit aufgerissenen Augen »Boah!« zu brüllen, und wenn alle am Strand dann in die gleiche Richtung starren, mit einem schnellen Spurt zu meiner Decke und in meine Hose zu gelangen.

12:irgendwas Uhr
Meine angeblich wasserdichte Uhr ist nicht wasserdicht.

Später
Eine Gruppe bleicher Touristen kommt an den Strand und wagt sich zaghaft ins Wasser. Ich paddle etwas näher heran und sperre die Lauscher auf. Die Ü40er-Truppe unterhält sich auf Deutsch. Ich sage: »Huhu, sind Sie aus Deutschland?«, und sie gucken, wie Deutsche so gucken, wenn sie im Urlaub auf Deutsch angequatscht werden, ob sie Deutsche sind. Antworten tun sie natürlich nicht, der nächste Satz könnte schließlich die Bitte um Geld beinhalten. »Ich bräuchte mal Ihre Hilfe«, versuche ich es, und sie gucken, wie Deutsche gucken, wenn sie im Ausland im Wasser paddeln und sich denken: »Hab ich’s mir doch gedacht.« Einer von ihnen sagt: »Der sieht aus wie Jesus. Ey, bist du Jesus?« Die anderen lachen. Ich spare mir den Hinweis, dass ich dann wohl weniger im, sondern vielmehr auf dem Wasser unterwegs wäre, und entferne mich mit einigen Schwimm­zügen von der Truppe. Sie fahren damit fort, zu paddeln und laut und unangenehm zu sein. Ich gucke, wie ein Deutscher so guckt, wenn er sich für seine Landsleute fremdschämt und keine Badehose anhat. Ich bin froh, dass die Bleichgesichter schnell wieder verschwinden.

Noch später
Es ist ein feiner Unterschied, ob man im Wasser strampelt und weiß, dass man jederzeit wieder ans Ufer schwimmen kann und dort von der Sonne in Nullkommanichts wieder auf Betriebstemperatur hochgefahren und von einer Caprisonne erfrischt wird, oder ob einem dieser Luxus versagt wird. Mir wird langsam kalt, und ich bin müde. Das Mittelmeer entpuppt sich als unsympathischer Schulhofrüpel und döppt mich ständig.

Sehr viel später
Langsam wird es ernsthaft unangenehm. Ich habe ziemlich viel Salzwasser geschluckt und was da drin sonst noch so rumschwimmt, und mir wird schlecht. Eine Welle schüttelt mich durch, und es kommt, wie es kommen muss: Es kommt mir hoch. Peinlich berührt betrachte ich den auf der Wasseroberfläche treibenden Göbelteppich. Ich möchte nicht gemeinsam mit ihm gesehen werden, vor allem, da er unweigerlich Richtung Ufer treibt und es mir sehr unangenehm wäre, sollte ein einheimisches Kleinstkind weinend zu seinen Eltern traben, während es aussieht wie eine Werbefigur für Wagner-Steinofenpizza. Es kommt nicht so gut, wenn man Kinder vollkotzt, da werden die dazugehörenden Eltern schnell mal kritisch. Ich tauche unter und schwimme ein paar Züge, bevor mich meine miese Kondition zum Auftauchen zwingt. Ich checke die Lage und stelle fest, dass ich nicht sehr weit gekommen bin. Gerade so weit, um inmitten meines eigenen Göbelteppichs wieder aufzutauchen. Ich sage: »Uäh«, und eine weitere Welle beschert meiner Kotze und meinem Magen eine deutsche Wiedervereinigung. Ich überlege, mich noch einmal zu erbrechen, stattdessen lasse ich meiner Traurigkeit freien Lauf und mache das Mittelmeer noch ein bisschen salziger.

Nachmittags, irgendwann
Alles egal. Der Strand ist rappelvoll, aber ich kann nicht mehr. Mit Wackelpeterbeinen, brennenden Augen und übelkeiterregender Übelkeit krieche ich an den Strand. Ich richte mich auf, präsentiere den staunenden Spaniern mit ausgebreiteten Armen meine ganze Pracht und rufe in bestem Google-Translator-Spanisch: »Sí, estoy desnudo. ¿Cómo hacer eso nos detenga en la DDR?«
Mit einem Schlag ist es ruhig am Strand. Eine Möwe lässt eine Stecknadel fallen. Ich überlege gerade, einfach wieder zurück ins Meer zu stiefeln und es drauf ankommen zu lassen, ob ich es bis zu irgendeiner menschenleeren Küste Afrikas schaffe. Da erblicke ich den Typen, der meine Klamotten stibitzt hat. Ich sehe zwar nur noch schemenhaft, aber das rosa Hemd und die grüne Hose sind unverkennbar. Die Sau! Ich renne auf den Kerl zu und springe ihn an.

Heute
Die spanische Presse war nicht sehr erbaut darüber, dass ein offensichtlich geistesgestörter, nackter Deutscher am Strand von Badalona durchgedreht ist und scheinbar grundlos die 82jährige Esmeralda Martinez niedertackelte. Die ehemalige Direktorin eines Waisenheims und ehrenamtliche Leiterin des lokalen Kirchenchores erholte sich gerade erst von einer Hüftverletzung, die sie sich zugezogen hatte, weil sie drei Küken vor einem heranrasenden Auto rettete. Drei Küken und einen Labradorwelpen. Ich habe mit meiner Aktion nicht unbedingt zum Genesungsprozess beigetragen. Mein Argument, dass ich vom Salzwasser halb blind war, ließ man auf der Polizeiwache ebenso wenig gelten wie meinen Einwand, dass ich der Jesus von Karl-Marx-Stadt sei und somit quasi diplomatische Immunität genösse. Man behielt mich über Nacht da, bevor man mich von Esmeraldas siebzehn Enkeln vertrimmen ließ und ins Flugzeug nach Hause setzte mit der Auflage, mich nie wieder in Spanien blicken zu lassen.
Nun überlege ich, wohin es im nächsten Urlaub geht. Italien soll ja sehr schön sein.

Hauptsache, die Kinder sind happy

Als ich meinen Großvater zum Müllrunterbringen überreden wollte, gab er mir keine Antwort. Das lag weniger an altersbedingter Bockigkeit oder dem Unwillen, sich an den Pflichten in einem Familienhaushalt zu beteiligen, als vielmehr an seinem Zustand. Er war nämlich tot. Einfach so, ohne was zu sagen, war er uns weggestorben. Saß in seinem Sessel, guckte »Barbara Salesch« und stellte mal eben sämtliche Vitalfunktionen ein. Machte keinen Piep, sondern strullerte sich nur still und heimlich ein letztes Mal ein.
Natürlich war ich traurig und wie betäubt, während ich die Dinge erledigte, die es in so einem Fall zu erledigen gilt, aber vornehmlich machte ich mir Sorgen. Ich machte mir Sorgen, wie ich meinen beiden Kindern beibringen sollte, dass ihr Lieblingsuropa futsch war. Sie konnten mit solchen Verlusten nur schwer umgehen. Mit Schaudern dachte ich an das Drama zurück, als man »Sailor Moon« abgesetzt hatte. Das wollte ich nicht noch mal erleben.
Ich erinnerte mich daran, was mir ein Kneipenkumpel erzählt hatte: Nachdem er die Lebensspanne des Familienmeerschweinchens rapide verkürzt hatte, als er das Kleintier aus Versehen mitsamt der Kochwäsche in die Waschmaschine stopfte, wollte er vermeiden, seinen Kindern die traurige Nachricht zu überbringen. Also stiefelte er in die nächste Zoohandlung und kaufte ein mehr oder weniger identisch aussehendes Exemplar, und alles war in Butter. Ich wollte auch alles in Butter haben, also folgte ich seinem Beispiel und erwarb im lokalen Altersheim einen mehr oder weniger identischen Ersatzopa. Ich musste ihn zwar etwas umfrisieren und ihm seinen bayrischen Dialekt austreiben, aber im Großen und Ganzen lief alles astrein. Meine Kinder merkten keinen Unterschied, selbst dass er plötzlich nicht mehr von der Hölle in Stalingrad, sondern vom lauen Leben an der Westfront erzählte, irritierte die Kleinen nicht weiter. Ach, Kinder sind etwas Wunderbares. So unschuldig. So doof.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Micha-El Goehre: Wenn das Leben kein Ponyhof ist, warum liegt dann Stroh in der Ecke? Geschichten, Satyr-Verlag, Berlin 2014, 160 Seiten, 11,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.