Repression gegen Journalisten in der Türkei

Jäger und Gejagte

In der Türkei wurden wieder Dutzende Journalisten verhaftet, viele davon arbeiteten für der Gülen-Bewegung nahestehende Medien. Sie hatten sich allerdings selbst schon durch Hetze auf vermeintliche Verschwörer hervorgetan.

Das vergangene Jahr war ein schlechtes Jahr für Journalistinnen und Journalisten in der Türkei, da ist man sich bei der Journalistengewerkschaft TGS einig: Über 200 wurden bei der Arbeit geschlagen, über 500 wurde gekündigt, 83 traten von ihren Posten zurück. Sowohl für Kündigungen wie für Rücktritte gab es oft politische Gründe. Zudem wurde bei über 30 Ereignissen ein Berichterstattungsverbot verhängt. Dazu gehörte auch die Arbeit eines Untersuchungsausschusses des türkischen Parlaments, der die Korruptionsvorwürfe gegen vier ehemalige Minister aufklären sollte.
Der schlimmste Monat war der Dezember. ­Allein wegen ihrer Berichterstattung über die Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder vor einem Jahr wurden gegen neun Zeitungen und 60 Journalistinnen und Journalisten über 100 Verfahren eröffnet. Am 14. Dezember wurden 25 Journalisten der Zeitung Zaman (Zeit) und des Fernsehkanals Samanyolu TV (STV, zu Deutsch: Milchstraße-TV), die der Gülen-Bewegung nahestehen, zusammen mit einigen weiteren Personen in einer Großaktion festgenommen. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer »bewaffneten Terrororganisation« vorgeworfen.

Diesmal hagelte es ungewöhnlich harsche Kritik aus dem Ausland, was vermutlich ein Grund dafür war, dass die Festgenommenen, bis auf vier, nicht in Untersuchungshaft blieben. Der Prominenteste unter den Freigelassenen ist zweifellos der Chefredakteur der Zaman, Ekrem Dumanlı. Er schlug mit einem Artikel in der Washington Post unter dem Titel »Hexenjagd auf Medien in der Türkei« zurück. In diesem Artikel wirft Dumanlı dem »Erdoğan-Regime« vor, es reiche in der Türkei aus, über Korruptionsvorwürfe zu schreiben, um als Terrorist etikettiert zu werden. Den Untersuchungsrichter habe er gefragt, ob denn wirklich alle Beweise gegen ihn aus zwei Kommentaren und einer Nachricht bestünden, die er geschrieben habe, und dieser habe das bestätigt. Im Interview mit der FAZ präzisierte Dumanlı kurz darauf, was er mit Hexenjagd meint: »Nun diffamieren zunächst die Regierungsmedien gezielt (Journalisten), dann verhaftet sie die Polizei, und Staatsanwälte und Richter ermitteln gegen sie.«
Indessen fällt die Solidarität mit Dumanlı und den anderen Journalisten von Zaman und STV in der Türkei nicht jedem leicht. An Hexenjagden, wie sie Dumanlı nun beklagt, beteiligten sich früher nämlich auch Zaman und STV. Jahrelang war es in regierungsnahen Medien, zu denen Zaman und STV einst gehörten, Usus, hinter jeder missliebigen Person ein Mitglied der angeblichen Ergenekon-Verschwörung zu wittern. Eine Unschuldsvermutung gab es ebensowenig wie jemals einen wirklichen Beweis für die Existenz einer Organisation Ergenekon. Diese hatte Erol Mütercimler, Leiter eines Marinemuseums in Istanbul und Autor zahlreicher Bücher über die verschiedensten Verschwörungen, 1997 in einer Fernsehshow behauptet. Ein – zum Zeitpunkt der Fernsehshow bereits verstorbener – General habe ihm davon erzählt. Mütercimler hatte sich wohl nicht träumen lassen, dass sich später eifrige Staatsanwälte gerade auf diese seiner Storys stürzen und ihn als Propagandachef von Ergenekon ins Gefängnis stecken würden. Tausende Seiten der Anklageschrift wurden mit Nonsens gefüllt. Das war möglich, weil die regierungstreuen Medien jede Verhaftung als einen Sieg der Demokratie über das Militär feierten. Dass die angeblichen Ergenekoncu am Ende aus den unterschiedlichsten politischen Lagern kamen, störte sie nicht.

Zu den »Verdiensten« von STV gehört es, diese Art der Beschuldigungen, die politisch benutzt wurden, auch auf soziale Kämpfe ausgedehnt zu haben. So erschien im Frühjahr 2009 in STV Haber, dem Nachrichtenkanal von STV, ein Feature über einen Streik in der Lederfabrik Desa Deri. Es ging um die Forderung nach Wiedereinstellung entlassener Gewerkschaftsmitglieder. In dem Feature wird behauptet, der Streik werde von der Terrorgruppe Ergenekon gesteuert. Und das zu einem Zeitpunkt, als angebliche Ergenekon-Mitglieder zu Hunderten in den Gefängnissen verschwanden. Als Zeugen treten ein leitender Angestellter und ein Mann mit Maske auf, der als verdeckter Zeuge ausgegeben wird. Der Mann mit der Maske wird nur gezeigt, seine Aussagen übernimmt der Sprecher. Dieser erzählt nun, Ergenekon verfolge mit Hilfe der von ihr gesteuerten Gewerkschaft das Ziel, die Beschäftigten arbeitslos zu machen. Besonderes Augenmerk wird darauf gerichtet, dass der Streik sogar von Gewerkschaften im Ausland unterstützt werde, was ja nur Ergenekon organisiert haben könne. Die Sendung endet mit den Worten: »Nur die Wahrheit«.
Auch mit anderen Medienschaffenden waren Zaman und STV häufig nicht solidarisch. Das stimme, meint der Generalsekretär der Journalistengewerkschaft TGS, Mustafa Kuleli. Jene Medien hätten oft geschwiegen oder sogar applaudiert, wenn andere Journalisten ins Gefängnis mussten. Doch das sei kein Grund, jetzt nicht solidarisch zu sein. Journalismus sei nie Terrorismus, es gehe um das Prinzip der Pressefreiheit.

Wie die einstige Hexenjagd auf die Chimäre Ergenekon sind auch die Vorwürfe gegen die der Gülen-Bewegung nahestehenden Journalistinnen und Journalisten abstrus. Nicht nur Journalisten wurden wegen ihrer Nachrichten und Kommentare verhaftet und verhört, sondern auch die Schreiber von Fernsehserien. Sie wurden nicht etwa zunächst vorgeladen, sondern gleich festgenommen und befragt. Dahinter steht der gelegentlich auftauchende Vorwurf, Fernsehserien würden benutzt, um in ihnen versteckte Nachrichten zu verbreiten oder die Gesellschaft auf bestimmte Ereignisse vorzubereiten.
Kurz nach den Festnahmen wurde behauptet, dass diese gar nichts mit den Korruptionsskan­dalen vor einem Jahr zu tun hätten. Es gehe um eine Intrige Fethullah Gülens gegen eine andere islamische Sekte, die Tahşiyeciler. Vor fünf Jahren hatte Gülen in einer Rede auf eine angebliche Terrorgruppe der Tahşiyeci aufmerksam gemacht, was seine Medien aufgriffen. Verbindungen zu al-Qaida wurden vermutet und die Polizei begann eine Untersuchung. Schließlich kamen mehrere Mitglieder von Tahşiyeci in Untersuchungshaft, am längsten ihr Anführer Mehmet Dogan, nämlich für 17 Monate. Die Existenz einer Terrorgruppe ließ sich nicht nachweisen, nur die einer besonders konservativen islamischen Sekte, die mit Gülen im Streit lag.
Die Affäre um die Tahşiyeci zeigt Gülen und seine Mitstreiter – Frauen spielen in seiner Sekte eher Nebenrollen – nicht gerade in einem guten Licht. Doch niemand glaubt im Ernst, dass das bei der Festnahme der Journalisten eine Rolle spielte. Am 12. Dezember hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Drohung wiederholt, er werde die Verantwortlichen für die Korruptionsuntersuchungen vor einem Jahr »bis in ihre Höhlen« verfolgen. Am gleichen Tag, einem Freitag, unterschrieb er ein Gesetz, das die Rechte der Betroffenen bei Festnahmen und Hausdurchsuchungen einschränkt, und am Sonntag darauf bei der Massenfestnahme der Journalisten das erste Mal angewendet wurde. Zufall?
Im Istanbuler Stadtteil Çağlayan steht seit 2011 der größte Justizpalast Europas, ein riesiger Turm mit über 300 000 Quadratmetern Innenfläche. Ganz oben hat die Staatsanwaltschaft für »Pressevergehen« eines von sieben Stockwerken dieser ungeheuren Behörde ganz für sich. Journalistinnen und Journalisten dürften in der Türkei weitere schlechte Jahre bevorstehen.