Viele der ideologischen Grundlagen des Jihadismus werden von mit dem Westen verbündeten Regierungen geteilt

Peitsche und Terror

Jihadisten entscheiden nach strategischen Gesichtspunkten, wann es sich lohnt, beleidigt zu sein. Sie präsentieren sich als konsequente Vollstrecker von Regeln der Sharia, die auch von mit dem Westen verbündeten Regierungen propagiert werden.

Wer die ideologische Spur der Mörder von Paris verfolgt, landet in Saudi-Arabien. Am Mittwoch voriger Woche verurteilte das Königshaus pflichtgemäß den Terroranschlag, zwei Tage später wurde der Blogger Raif Badawi nach dem Freitagsgebet vor der al-Jafali-Moschee in Jeddah öffentlich ausgepeitscht. Die Bestrafung erfolgt in Raten, jede Woche bis zum 22. Mai sind 50 Peitschenhiebe vorgesehen, überdies muss Badawi eine zehnjährige Haftstrafe absitzen. Er war Gründer einer Website liberaler Dissidenten und wurde wegen »Beleidigung des Islam« verurteilt.
Das Rechtssystem Saudi-Arabiens beruht auf dem Hanbalismus, einer der vier anerkannten sunnitisch Rechtsschulen, die auch die Grundlage des Salafismus, der Ideologie des sunnitischen Jihadismus ist. Die Mörder von Paris haben Regeln der Sharia vollstreckt, die in saudischen Schulen gelehrt werden, allerdings bestehen die Prediger des Regimes darauf, dass nur eine staatliche Autorität solche Strafen verhängen darf. Bei ihrem Streit mit den Jihadisten geht es vor allem um die Frage der legitimen Obrigkeit, der einzig bedeutende Unterschied zwischen der saudischen Gesetzgebung und dem Regeln des »Islamischen Staates« ist, dass dem Königshaus eine offizielle Legalisierung der Sklaverei dann doch zu gewagt erschien.
Die nun wieder gestellte Frage, ob der Jihadismus etwas mit dem Islam zu tun hat, ist damit beantwortet. Viel weiter hilft das allerdings nicht. Schließlich hat der Ku Klux Klan auch etwas mit dem Christentum zu tun, dennoch muss nicht jeder Christ als potentieller rassistischer Gewalttäter betrachtet werden. Weniger als fünf Prozent der Muslime sind Hanbaliten, noch wesentlich geringer ist der Anteil der Jihadisten und ihrer Unterstützer, und selbst wenn man die im globalen Jihad kaum aktiven, aber ebenso gefährlichen schiitischen Jihadisten unter Führung des Iran – dort droht dem Blogger Soheil Arabi die Hinrichtung wegen »Beleidigung des Propheten« – hinzurechnet, ist der Anteil der Gewalttäter an der muslimischen Bevölkerung minimal.

Dennoch sind die Jihadisten nicht gänzlich isoliert. Direkte Unterstützung erhalten sie derzeit von Saudi-Arabien und den anderen Golfmonarchien – möglicherweise mit Ausnahme Katars – wohl nicht. Sie profitieren jedoch von den ideologischen Gemeinsamkeiten mit deren Staatsdoktrin, den Lehren anderer reaktionärer Kleriker und dem Unwillen der orthodoxen Gelehrten, mit der überlieferten Theologie zu brechen, die es nicht erlaubt, aus Koran und Überlieferung abgeleitete Regeln zu historisieren und für ungültig zu erklären. Diese Regeln können relativiert oder stillschweigend übergangen werden, aber auch mit dem Westen verbündete Regierungen wenden einige an. So kann für Blasphemie auch in Pakistan, Afghanistan, Ägypten und Kuwait die Todesstrafe verhängt werden. Die Vollstreckung im Ausland ist nicht vorgesehen, die Ansicht aber, dies sei an sich notwendig, ist angesichts des universalen Anspruchs des Islam schlüssig, wenn nicht zwingend.
Was aber ist eine zu rächende Blasphemie? Islamisten und muslimische Reaktionäre entscheiden nach politischen und strategischen Gesichtspunkten, wann es sich lohnt, beleidigt zu sein. So reisten im Dezember 2005 dänische Imame mit drei Monate zuvor in der Zeitung Jyllands-Posten abgedruckten Karikaturen im Gepäck zu Repräsentanten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und arabischer Staaten. Die Regierungen Ägyptens, Saudi-Arabiens und Libyens entschlossen sich als erste, sich zu empören, Syrien und der Iran wollten dann nicht zurückstehen. Die Proteste wurden von Verbündeten des Westens initiiert, erst später beteiligten sich islamistische Organisationen und noch später entdeckten die Jihadisten das Thema für sich.
Die arabischen Machthaber wollten damals ihrer Bevölkerung vermitteln, dass Demokratisierung in Gottlosigkeit mündet, und im Westen den Eindruck erwecken, dass ihre Herrschaft der einzige Schutz vor dem fanatischen Mob ist. Seit dem Beginn der arabischen Revolten erscheinen den Regierungen solche Mobilisierungen als zu riskant, nichts geändert hat sich jedoch am Zusammenspiel der feindlichen Brüder, der muslimischen Reaktionäre und der Jihadisten.
Warum traf es Charlie Hebdo? Hier spielt möglicherweise ein psychologisches Motiv eine Rolle. Auf der Todesliste des al-Qaida Magazins Inspire werden neben aus dem Zwangskollektiv ausbrechenden Dissidenten (Salman Rushdie, Ayaan Hirsi Ali) auffallend viele Menschen aufgeführt, die sich über Islam, Islamismus und Jihadismus lustig gemacht haben. Terror und Gewaltherrschaft beruhen auf pathetischer Ernsthaftigkeit, umso mehr, je grotesker sie sind – und sowohl Abu Bakr al-Baghdadi, der Kalifendarsteller mit Rolex, als auch König Abdullah, der Ölgroßhändler mit Säbel und Beduinenkostüm, sind grotesk. Der Spott kann da eine gefährliche Waffe sein. Ob die Attentäter von Paris die Karikaturen überhaupt kannten, ist indes unklar. Die abgehörten Äußerungen Amedy Coulibalys deuten darauf hin, dass die Anschläge eine Abkehr von französischen Militäreinsätzen gegen jihadistischen Gruppen erzwingen sollten.

Indem Jihadisten jenseits der islamischen Welt Karikaturisten ermorden, üben sie als Weltpolizisten der Sharia globale Macht aus. Dies ist eine punktuelle Vorwegnahme der angestrebten Weltherrschaft, zugleich präsentieren sie sich als konsequente Vollstrecker dessen, was andere für richtig befinden, aber nicht zu tun wagen. Es geht um die Einschüchterung von Gesellschaft und Medien, und in dieser Hinsicht, da sollte man sich keine Illusionen machen, werden die Morde von Paris eine Wirkung haben, schon weil die Presse ein Gewerbe und radikale Kritik eine Risikoinvestition ist, die sich nicht rentiert. Nicht zu Unrecht können Medienunternehmen zudem darauf verweisen, dass sie dem Schutz ihrer Mitarbeiter verpflichtet sind.
Der Anschlag auf Charlie Hebdo verbreitet ein Gefühl der Bedrohung, das tatsächliche Risiko ist kaum zu kalkulieren. Angst ist daher legitim. Sie sich einzugestehen und zu lernen, damit umzugehen, ist hilfreicher, als einander wie Kinder im dunklen Wald mit zu viel lauter Stimme zu versichern, man habe gar keine. Persönliche Entscheidungen müssen respektiert, geschäftliche hingenommen werden, doch sollte man wenigstens den Mut aufbringen, sich nicht hinter faulen Ausreden zu verstecken.
Von diesen ist die Behauptung, man wolle die Gefühle von Muslimen nicht verletzen, die faulste – und dies nicht nur, weil die Jihadisten nachweislich strategisch handeln und die Ansicht, Muslime seien zur Reflexion unfähige, emotional instabile Gewalttäter, rassistisch ist. Hinter den Mahnungen zur Selbstzensur verbergen sich meistens eigene Interessen. Der rechtskatholische Schriftsteller Martin Mosebach wollte im Juni 2012 »nicht verhehlen, dass ich unfähig bin, mich zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen«. Es werde »das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird«. Für viele christliche und nationalistische Rechte sind die Jihadisten insgeheimes Vorbild und Hilfstruppen im Kampf gegen die Freiheit.
Drei Monate später, nachdem Jihadisten den Angriff auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi mit einem obskuren antiislamischen Film begründet hatten, der bereits seit einem Jahr im Internet stand, sagte aber auch der damalige Außenminister Guido Westerwelle, dass die Meinungsfreiheit »nicht grenzenlos« und »der Respekt vor Religionen selbstverständlich« sei. Mit Beteiligung der OIC wurde auf UN-Ebene sogar über ein globales Abkommen gegen Blasphemie verhandelt, zum Glück bislang ohne Ergebnis. Die meisten westlichen Regierungen, deren Repräsentanten am Sonntag an der Demonstration in Paris teilnahmen, haben die Veröffentlichungspolitik von Charlie Hebdo in der Vergangenheit vehement kritisiert. Sie betrachten reaktionäre islamische Regierungen sowie islamische Verbände in ihren Ländern als Verbündete, deren Interessen berücksichtigt werden müssen. Mit einer Parteinahme für radikale Kritik sollte der Aufmarsch der Regierungschefs jedenfalls nicht verwechselt werden, und auch jenseits der staatlichen Ebene wird die »Ich bin Charlie«-Welle schnell verebben.
Erst recht dürfte das für die Bekundung »Ich bin Jude« gelten. Juden müssen keine Karikaturen zeichnen, ihre Existenz ist für die Jihadisten Beleidigung genug. Auch der antisemitische Terror folgt einem strategischen Plan. Die Ermordung von Juden ist über den engeren Kreis der Jihadisten hinaus populär, auch hier präsentieren sich die Attentäter als konsequente Vollstrecker dessen, wovon andere nur reden. Die weite Verbreitung antisemitischer Ressentiments auch unter Christen und Atheisten sorgt zudem dafür, dass der Terror von vielen zwar nicht als legitim, aber als zwangsläufige Reaktion auf die Politik Israel betrachtet wird. So trägt der antisemitische Terror zur Isolierung Israels bei. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Anschlag auf Charlie Hebdo, den Attentätern dürfte die antisemitische Botschaft ebenso wichtig gewesen sein.
Islamistische Anschläge dieser Größenordnung sollen einem von al-Qaida etablierten Modell folgend mehrere Forderungen vermitteln: Abkehr von Israel und der Interventionpolitik gegen ­Jihadisten sowie die Bereitschaft, sich Regeln der Sharia zu unterwerfen. Doch auch die gesellschaftliche Polarisierung dürfte beabsichtigt sein. Rassismus, Diskriminierung und härtere Repression sollen bei der Rekrutierung helfen. Die feindlichen Brüder der nationalistischen und rassistischen Rechten des Westens sind hier willkommene Hilfstruppen.

Die Antwort sollte aber nicht »nationale Einheit« sein. Vielmehr brauchen wir mehr Streit, ausgehend allerdings von der an sich selbstverständlichen Voraussetzung, dass ein Muslim – ob Migrant oder Konvertit – das gleiche Recht hat, ein reaktionärer Ignorant zu sein, wie ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft. Für Selbstgerechtigkeit besteht insbesondere in Deutschland kein Grund. Wer als Deutscher, gar als bekennender Patriot, nicht gegen den NSU-Terror demonstriert hat, hat keinen Anlass, nun Bekenntnisse von Muslimen oder islamischen Verbänden zu fordern. Dass manche muslimische Funktionäre sich vor allem um das Ansehen ihrer Community sorgen, hat sein Pendant im Kommentar Westerwelles zur Enthüllung des NSU-Terrors, dies sei »vor allem sehr, sehr schlimm für das Ansehen Deutschlands in der Welt«. Der Unterschied ist allein, dass rassistische Gewalt gegen Muslime und Menschen, die dafür gehalten werden, eine reale Gefahr ist, während der NSU-Terror keine Racheaktionen nach sich zog.
Streiten wir also. Streiten wir über die besten Wege zur Bekämpfung des Rassismus, aber auch über den notwendigen Bruch mit der Tradition der islamischen Theologie und erheben wir uns bei dieser Gelegenheit wenigsten ein bisschen über das intellektuell erbärmliche Niveau dessen, was heutzutage Islamkritik genannt wird. Der globale Jihad kann nur global bekämpft werden. Streiten wir also darüber, wie der Terror des »Is­lamischen Staates« beendet werden kann – dass den Jihadisten weite Gebiete des Nahen Ostens fast kampflos überlassen werden, hat dem Terrorismus mehr Auftrieb gegeben als alles andere. Und streiten wir darüber, ob Repräsentanten eines Staates, der einem Dissidenten wöchentlich 50 Peitschenhiebe verabreichen lässt, weiterhin umschmeichelte Staatsgäste sein sollten. Wenn wir nun alle Charlie sind – sind wir auch Raif Badawi? Das wird sich an jedem Freitag bis zum 22. Mai zeigen.