Volksgemeinschaftliches Denken bei den Anti-Pegida-Protesten

Volk gegen Volk

So wichtig es ist, sich gegen Pegida zu stellen, so wenig sinnvoll ist es, sich mit der Anti-Pegida-Volksfront gemein zu machen.

»Die Islamisten, vor denen Pegida seit nunmehr zwölf Wochen warnt, haben heute in Frankreich gezeigt, dass sie eben nicht demokratiefähig sind, sondern auf Gewalt und Tod als Lösung setzen! Unsere Politiker wollen uns aber das Gegenteil glauben machen. Muss eine solche Tragödie etwa erst in Deutschland passieren???« Das postete Pegida auf Facebook nach dem Attentat in Paris. Ganz offen spekulieren in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden die Organisatoren der Pegida-Proteste auf die politische Dividende eines brutalen Anschlages. Hinter dem bewussten Kalkül, den Angriff auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris für eigene Zwecke zu missbrauchen, steckt aber auch eine gewisse Verzweiflung. Nach jedem sich bietenden Strohhalm wird gegriffen, um die Montag für Montag vorgetragenen Ressentiments plausibel erscheinen zu lassen. Ein makaberes Spiel mit der völlig berechtigten Trauer.
Eigentlich wissen die meisten Organisatoren und Demonstranten unbewusst, dass sie nicht »das Volk« repräsentieren. Umso inbrünstiger aber rufen sie die Parole »Wir sind das Volk«, umso irrationaler halten sie daran fest, dass »der Mohammedaner« der Auslöser ihrer Probleme darstelle. Der ist nicht nur »fremd«, sondern »anders«, »natürlich« können solche Personen nicht zur Volksgemeinschaft gehören. Doch die bundesdeutsche Realität ist längst eine andere. Und das nicht erst seit der Rede eines gewissen Bundespräsidenten.

Hinter dem Ruf »Wir sind das Volk« steckt die tiefe Sehnsucht nach jenen Tagen, als »das Volk« noch ein »Wir« war und die »Bonzen«, sprich »die da oben«, aus ihren Ämtern jagte. Die Freiheit, die man sich vor 25 Jahren nahm, wird nun einigen zu viel. Zähneknirschend wurde vor allem im Osten der Bundesrepublik die neu dazu gekommene osteuropäische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt hingenommen, die Aufnahme von christlichen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien akzeptiert und die finanziellen Hilfen für Griechenland als »alternativlos« geschluckt, aber dass nun die Sicherheitslage in Deutschland gefährdet wird, weil sich ein »Religionskrieg« wegen der Aufnahme von Flüchtlingen hierher verlagern könnte, das ist zu viel des Guten.
Ordnung und Sicherheit ist nicht nur für diese Zeitgenossen östlich der Elbe essentiell. Deshalb hatten sie ja alle so großen Gefallen an Angela Merkel gefunden, doch allmählich bröckelt das Vertrauen in die Allmächtige. Sie wirkt schwach, in der NSA-Affäre knickt sie vor den USA ein, was die Annexion der Krim betrifft, kuscht sie vor Putin, und der CSU lässt sie die Maut durchgehen. Doch damit nicht genug. Die Bundesregierung musste sich im vorigen Jahr in vielen internationalen Konflikten positionieren. Damit widersprach man dem allgemeinen Bedürfnis nach »Frieden«, besser gesagt, dem Heraushalten aus Konflikten aus wirtschafts- und sicherheitspoli­tischen Gründen. Der Auslöser für die Gründung von Pegida war eine Demonstration von PKK-Sympathisanten in der Dresdner Innenstadt, die lautstark Waffenlieferungen als Unterstützung im Kampf gegen den »Islamischen Staat« forderten.
Ein wirrer Mix aus linken wie rechten Ressentiments, zusammengewürfelt nach einer ganz spezifisch deutschen Rezeptur, macht den speziellen Dresdner Montagscocktail aus. Wenn sich die Talkshow-Experten fragen, weshalb ausgerechnet die sächsische Residenzstadt der Kristallisationspunkt für solch eine Bewegung ist, dann liegt es genau daran, dass sie diese eigentümliche Querfrontmischung regionaler Prägung nicht kennen. Über Jahrzehnte hinweg ist hier ein ideologisches Amalgam aus nationalsozialistischer und staatssozialistischer Ideologie entstanden, gegen die das postnationalsozialistische Westdeutschland wie ein Paradies der Freiheit erscheint.

»Lügenpresse«, »Islamisierung des Abendlandes« oder »Asylflut«, die Dramatisierung gesellschaft­licher Veränderungen ist kein neues Phänomen. Aber derzeit wird wieder am ganz großen Rad gedreht. Ein Grund dafür ist, dass der gerade stattfindende »Kampf der Kulturen« ungleicher kaum sein könnte. Mit dem letzten Mut eines Verzweifelten versuchen derzeit jene durchaus unterschiedlichen politischen Strömungen, deren Vorstellung von einer deutschen Leitkultur völkisch definiert ist, die Massen in den sozialen Netzwerken wie auf der Straße zu mobilisieren. Dabei entstand in den vergangenen Monaten – hauptsächlich im Osten der Bundesrepublik – ein Konglomerat, welches von bekennenden Nationalsozialisten bis weit hinein in nationalliberale und sozialkonservative Milieus reicht. Aber selbst dieses übergreifende Bündnis schaffte es jenseits von Dresden nicht, regelmäßig eine relevante Masse zu mobilisieren.
Demgegenüber steht eine Allianz, die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel, der deutschen Exportwirtschaft, selbstverständlich den Gewerkschaften, der Bild-Zeitung sowie der gesamten relevanten Presse bis hin zu allen Medien- und Kulturschaffenden dieses Landes reicht. Selbst die radikale Linke ist zumindest als Fußtruppe dabei. Angela Merkel warnte in der Neujahrsansprache ihre Schäfchen davor, nicht dem falschen Hirten zu folgen, »denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen«. Statt der Bundeskanzlerin für diese dreiste Heuchelei zu danken, gilt es, die Gegenfrage zu stellen, ob die deutsche Bundesregierung aus lauter Herzenswärme dem italienischen Rettungseinsatz »Mare Nos­trum« die finanzielle Unterstützung verweigerte.
»Deutschland tut qualifizierte Einwanderung richtig gut«, setzt BDI-Präsident Ulrich Grillo beim Prominentendefilee in der Bild-Zeitung ein starkes Zeichen für die so typisch deutsche Gastfreundschaft. Grillo ist der Meinung, dass man »gegen jede Fremdenfeindlichkeit deutlich angehen« müsse, aber bei der Frage, ob ein Mensch nach Deutschland einwandern darf, sollte aus volkswirtschaftlichen Gründen doch hauptsächlich seine Qualifikation eine Rolle spielen. Der Volkswagen-Konzern wirbt in einer Stellungnahme zu den Dresdner Montagsdemonstrationen für eine »of­fene, freie und demokratische Gesellschaft«. Eine offene, freie und demokratische Gesellschaft, die aber bitte jedes Mal ein Auge zudrückt, wenn in China, Nigeria, dem Iran oder Russland die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
»Notleidende Menschen, gleich welcher Herkunft und Religion, brauchen unsere Hilfe. Auch Dresden lebt von dieser Weltoffenheit«, lässt sich der sächsische Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Stumph von der Bild-Zeitung zitieren. Er bemüht dabei einen weitverbreiteten Humanismus, der zwar die unzähligen ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer bedauert und sich dafür einsetzt, dass jene, die es bis hierher geschafft haben, menschenwürdig behandelt werden, der aber ansonsten, wie zum Beispiel zum weiteren Ausbau der Festung Europa, schweigt.
Radikale Antifaschisten rufen »alle antifaschistischen, zivilgesellschaftlichen und antirassistischen Kräfte auf«, nach Dresden zu kommen und dort »mit uns gegen die menschenverachtenden Einstellungen dieser Gesellschaft zu demonstrieren«. Deutlich zeigt sich hier ein beinahe hilfloser Antifaschismus, der auf das Bündnis mit der sächsischen Zivilgesellschaft angewiesen ist und sich ansonsten im Rufen von »Nazis raus« erschöpft.
Die Anschlagsserie in Frankreich wird allen regionalen Mobilisierungen gegen die »Islamisierung des Abendlandes« noch einmal Zulauf bescheren. Letztlich wird aber ein Großteil der ­Demonstranten, selbst in Dresden, irgendwann dieser wöchentlichen »Spaziergänge« überdrüssig. Was nicht bedeutet, dass deshalb die »menschenverachtenden Einstellungen« verschwunden wären. Aber den Transformationsprozess der deutschen Volksgemeinschaft können die anachronistischen Autochthonen nicht aufhalten. Sie kämpfen auf verlorenem Posten. Trotzdem gilt es, kein Auge zuzudrücken: Der irgendwann ausbleibende Erfolg wird in einigen Teilen der Pegida-Bewegung mit einer weiteren Radikalisierung einhergehen. Daher ist vermehrt mit militanten Aktionen zu rechnen. Und genau in dieser Zeit steckt die Antifa in der Krise.
Anstatt mit dem sächsischen Innenminister gegen Pegida zu demonstrieren, ist es notwendig, eine dezidiert fortschrittliche Islamkritik sowie eine materialistische Kritik an Staat, Nation und Kapital zu vertreten, ansonsten werden die Überbleibsel der radikalen Antifa-Bewegung als Schwungmasse für die Volksgemeinschaft 2.0 enden. In dieser Situation helfen auch erfolgreiche Blockaden in Dresden nicht weiter. Solange die Kritik am Islamismus der politischen Rechten überlassen wird, solange Boko Haram hierzulande für eine im Islam verbotene Eissorte gehalten wird, solange die gesellschaftlichen Marginalisierung des Zentralrates der Ex-Muslime fortbesteht, solange … eine schier endlose Reihe ließe sich hier fortsetzen. Es handelt sich schließlich um Deutschland, und ganz speziell um Dresden.