Die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung nach den Anschlägen in Paris

The Walking Dead

Nach den Anschlägen in Paris diskutiert man in Deutschland erneut über die Einführung der Vorratsdatenspeicherung.
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Ein Zombie geht um in Europa. Der Untote heißt Vorratsdatenspeicherung und erwachte nach den islamistischen Anschlägen in Paris, bei denen 17 Menschen ermordet wurden, zu neuem Leben. Nur Stunden nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo wurden die ersten Rufe laut, auch in Deutschland wieder die Kommunikation aller Bürger zu überwachen: wer wann mit wem kommuniziert – sei es telefonisch oder über das Internet. Mittlerweile treibt die große Koalition unter Führung von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) das Projekt wieder energisch voran: Nur so lasse sich Terrorismus wirksam bekämpfen. Dabei wird vollkommen ignoriert, dass in Frankreich eine ähnliche Regelung seit 2006 besteht – und die Anschläge weder verhindern konnte noch dabei hilft, sie aufzuklären.
Die ursprüngliche Idee ist so alt wie das Internet: Wer eine physische Straftat wie einen Raubüberfall begeht, geht dabei ein großes Risiko ein, von Zeugen gesehen oder bei der Tat erwischt zu werden. Taten wie Kreditkartenbetrug, die über das Internet verübt werden, scheinen hingegen spukhaft, weil ein Täter sie aus sicherer Distanz begehen kann. Die Ermittlungsbehörden wünschen sich deshalb schon lange eine Art »Internet-Nummernschild«, um Waffengleichheit in physischer und virtueller Welt herzustellen.
Mit der Bekämpfung von Online-Kriminalität hatte die Vorratsdatenspeicherung jedoch nicht mehr viel zu tun, als sie vor knapp zehn Jahren unter dem Eindruck der Terroranschläge von Madrid und London in Form einer EU-Richtlinie Gesetz wurde. Wer heute davon spricht, meint die Speicherung der Rufnummer des Anrufers und des Angerufenen samt Datum, Uhrzeit und Gesprächsdauer einschließlich internationaler Kennungen; des Aufenthaltsorts von Handy- und Smartphone-Nutzern anhand der Mobilfunkzelle; wann und wo Prepaid-Karten aktiviert wurden; bei Internet-Telefonaten geht es um die IP-Adressen der beteiligten Geräte; bei E-Mails um die Absender und Empfänger samt Datum und Uhrzeit von Versand und Abruf der Mails; und schließlich um die IP-Adresse, wann immer jemand mit einem Computer oder mobilen Gerät online geht, sowie Name und Anschrift der betreffenden Teilnehmer.
All diese so genannten Metadaten fallen bei den Internet-Providern, Telefon- und Mobilfunkanbietern sowieso an. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, werden sie aber nach einigen Tagen wieder gelöscht – manchmal auch später, wenn die Daten zur Erstellung der Telefonrechnung benötigt werden. Die EU-Richtlinie sah vor, dass diese Daten mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre vom Provider gespeichert und staatlichen Ermittlungsbehörden auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden.
Da der eigentliche Inhalt von E-Mails und Telefonaten nicht abgehört wird, klingt die Speicherung von Metadaten zunächst relativ harmlos, jedoch konnten Forscher der Stanford University 2013 zeigen, dass sich aus solchen Daten ein ziemlich genaues Profil einer Person gewinnen lässt: Zum Beispiel die sexuelle Orientierung, die Alltagsgewohnheiten, die Liebesbeziehungen, religiöse Einstellungen und Gesundheitsprobleme. Besonders gefährlich ist aber, dass aus solchen Daten auch falsche Schlüsse gezogen werden können, beispielsweise wenn jemand sich verdächtig macht, weil er oder sie regelmäßig mit einer Person Kontakt hat, die im Visier der Ermittlungsbehörden steht.
Der Verabschiedung der EU-Richtlinie 2005 ging eine lange Debatte voraus. Bürgerrechtler und Netzaktivisten kritisieren, dass sie einer umfassenden staatlichen Überwachung aller Bürger ohne jeden Anlass oder Verdacht gleichkommt, was unter anderem gegen das deutsche Grund­gesetz verstoße. Außerdem hinkt die Beweiskraft an allen Ecken und Enden: Beispielsweise gewährt die IP-Adresse keinen Aufschluss darüber, wer zur fraglichen Zeit an einem Computer saß. Die Vorratsdatenspeicherung führte sogar zur Gründung von NGOs wie dem »Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung«. Die später europaweite Großdemonstration »Freiheit statt Angst« wurde 2006 ins Leben gerufen, im selben Jahr wie die Piratenpartei.

All das konnte nicht verhindern, dass die Vorratsdatenspeicherung 2007 auch in Deutschland eingeführt wurde – nur um schon 2010 wieder vom Bundesverfassungsgericht gekippt zu werden. Die Richter fanden zahllose Punkte, in denen die damalige Regelung gegen das Grundgesetz verstieß. Ganz oben standen das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Schutz personenbezogener Daten. Auch wurde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet: Das Gesetz kannte keine Einschränkungen, wer eigentlich auf all die gespeicherten Daten zugreifen darf und wie sie vor unrechtmäßigen Zugriffen abzusichern seien. Es gab keinen Richtervorbehalt und keine Ausnahmen für Geheimnisträger wie Ärzte, Pfarrer, Juristen und Journalisten. Seit die Vorratsdatenspeicherung 2014 auch vom Europäischen Gerichtshof kassiert wurde, galt das Vorhaben als gestorben, obwohl – zumeist konservative – Politiker immer mal wieder eine erneute Einführung verlangen.
Die Anschläge in Frankreich haben alles verändert. Angela Merkel forderte am 14. Januar 2015 die Wiedereinführung als »wirksames Mittel gegen den Terror«. Zwar trat Justizminister Heiko Maas (SPD) in die Fußstapfen seiner Vorgängerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die Jahre zuvor versucht hatte, die Einführung der Vorratsdatenspeicherung zu verhindern. Er wird aber keine Chance haben, sich gegen das Gesetzesvorhaben zu stellen: Die SPD-Innenminster haben sich bereits auf Merkels Seite gestellt und vom Vizekanzler und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel ist bekannt, dass er die Vorratsdatenspeicherung unterstützt und wenig von Anonymität im Netz hält. Er war sich 2013 nicht zu schade zu behaupten, die Vorratsdatenspeicherung habe sehr bei der Aufklärung der Breivik-Morde 2011 in Norwegen geholfen – dabei gab es zu der Zeit dort gar keine Vorratsdatenspeicherung.
Angesichts der großen Mehrheit der schwarzroten Koalition im Bundestag dürfte es also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Vorratsdatenspeicherung erneut eingeführt wird. Selbst die winzige Opposition enttäuscht hier. Zwar spricht sich die Linkspartei klar gegen eine Wiedereinführung aus: »Was nützt es, wenn die Geheimdienste im Nachgang zu einem solchen Anschlag sagen, was sie alles über die Attentäter wussten?« fragt die Innenpolitikerin Martina Renner in der Taz. Die Grünen hingegen legen einen seltsamen Eiertanz hin. So kann sich Cem Özdemir eine Wiedereinführung durchaus vorstellen, wenn diese grundgesetzkonform geschehe. Er wolle »überzeugt werden«, sagte er in der ZDF-Sendung »Maybrit Illner«, wohl um sich bei möglichen Koalitionsverhandlungen alle Türen offenzuhalten.

Dabei ist völlig klar, dass das nächste Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht gegen das Grundgesetz verstoßen wird. Immerhin haben die Richter genau aufgeschrieben, was der Gesetzgeber alles zu beachten hat, bei einem neuen Entwurf. Vielleicht bekommen wir dann eine Vorratsdatenspeicherung mit mehr Datenschutz und Richtervorbehalt. Das Verfahren wird nicht mehr »Vorratsdatenspeicherung« heißen, sondern »Mindestdatenspeicherung« oder »Mindestspeicherfrist« und eventuell werden Verfahren wie »Quick Freeze« verwendet. Dabei werden zwar Verbindungsdaten im Normalfall bald gelöscht, aber auf den Zuruf von Ermittlungsbehörden von der Löschung ausgenommen, bis die Behörde entweder Entwarnung gibt oder sich die Daten aushändigen lässt, was im Endeffekt auf dasselbe hinausläuft wie eine vollständige Vorratsdatenspeicherung, nur technisch etwas komplizierter ist.
Die erneute Einführung der Vorratsdatenspeicherung scheint also kaum noch aufzuhalten zu sein. Selbst wenn es dieses Mal doch nicht klappen sollte, wird sich bald der nächste Anlass finden. Dann laufen wir Gefahr, in die Mühlen von Ermittlungsbehörden zu geraten, nur weil wir zur falschen Zeit mit der falschen Person telefoniert haben, während wirklich Kriminelle sich wie in vergangenen Zeiten konspirativ an einer Parkbank treffen können. Terroristische Anschläge wird die Vorratsdatenspeicherung nicht verhindern.