Der Roman »Unterwerfung« von Michel Houellebecq

Zärtliche Islamisten

Michel Houellebecqs Zukunftsroman »Unterwerfung« handelt von der Rückkehr der Religion in die Politik.

Die Realität hat die Fiktion eingeholt. Nehmen wir an, diese Zeitung hätte in ihrer Weihnachtsausgabe einen Text veröffentlicht, in dem folgendes Szenario ausgemalt worden wäre: Am 7. Januar 2015 erscheint ein Buch von Michel Houellebecq. Es handelt, leicht vergröbert ausgedrückt, von einer muslimischen Machtübernahme in Frankreich durch eine islamis­tische Partei. Am Vormittag desselben Tages erscheint die Satirezeitung Charlie Hebdo mit einem Bild Houellebecqs auf dem Cover. Bei der Redaktionssitzung kurz vor Mittag greifen zwei mit Kalaschnikows bewaffnete radikal-islamistische »Gotteskämpfer« an und ermorden die Redakteure, weil die Zeitung den Propheten beleidigt habe. Nicht Michel Houellebecq, sondern Mohammed. Eine Stunde später meldet die Nachrichtenagentur AFP: »Die Zeichner Charb, Cabu, Tignous, Wolinski wurden ermordet.« In der darauffolgenden Woche werden die Opfer beigesetzt, zwei von ihnen auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, jenem legendären Friedhof, auf dem die Opfer der Niederschlagung der Pariser Kommune begraben sind.
Wahrscheinlich hätte man über den Frankreichkorrespondenten dieser Zeitung und seinen Bericht nur den Kopf geschüttelt. Und doch ist alles Wirklichkeit. Am Tag, als der zehnfache Mord in der Redaktion von Charlie Hebdo begangen wurde, hatte das Blatt mit einer Karikatur Houellebecqs aufgemacht. Der 57jährige Autor orakelt: »2015 fallen mir alle Zähne aus. 2022 mache ich Ramadan.«
Am 7. Januar erschien Houellebecqs neuer Roman unter dem Titel » Soumission« (Unterwerfung), eine Anspielung auf den Begriff »Islam«, der im Arabischen »Unterwerfung« – unter Gott – bedeutet. Der Roman beschreibt Frankreich im Jahr 2022. Es ist ein Land, das am Ende einer katastrophalen zweiten Amtszeit des derzeit wenig beliebten Staatspräsidenten François Hollande kurz vor dem Abgrund steht. Zusammenstöße zwischen rechtsextremen und islamistischen Gruppen häufen sich. Das Land ist sozial und politisch ausgezehrt. Bei der Präsidentschaftswahl kommt es zur Stichwahl zwischen der rechtsextremen Marine Le Pen (FN) und dem eloquenten Kandidaten der Muslimbrüder (Fraternité musulmane) namens Mohammed Ben Abbes. Er ist ein machtpolitisch orientierter Pragmatiker, der vor allem geopolitische Pläne verfolgt: Er will Frankreichs Gewicht in Europa stärken und die Euro-Zone nach Süden erweitern. Houellebecq spricht in Interviews von der Vision eines »erneuerten Römischen Reichs«, allerdings mit ­einer Art Pax Islamica.
Die meisten Romanschriftsteller hätten wohl Marine Le Pen gewinnen lassen und die Vision eines Frankreich unter der rechtsextremen Regierung ausgemalt. Doch bei Houellebecq heißt der Sieger Mohammed Ben Abbes. Wegen seiner proeuropäischen Orientierung unterstützen Sozialdemokraten, Parteien der Mitte und Konservative seine Wahl. Premierminister wird der Christdemokrat und Mitte-rechts-Politiker François Bayrou, der bei den letzten und vorletzten Präsidentschaftswahlen 2007 und 2012 kandidiert hat. Frankreich wird von oben islamisiert, aber mit großen Abstrichen. Alkohol wird nicht verboten. Die meisten Ministerien gehen an die alten Mitte-rechts-Parteien, nur das Erziehungsministerium sichern sich die Islamisten, um ihren Einfluss auf die Jugend auszubauen. Die negativen Folgen der neuen Politik bekommen vor allem die Frauen zu spüren. Sie ziehen sich aus dem Berufsleben zurück; die Arbeitslosigkeit sinkt; an den islamisch-korrekten Universitäten studieren vorwiegend Männer, nur ein paar verschleierte Studentinnen finden den Weg in die Hörsäle. Es formiert sich eine widerständige »Bewegung der europäischen Eingeborenen«.
Houellebecqs Protagonist heißt François, ein Hochschullehrer an der Sorbonne, der den Weg des geringsten Widerstands im Leben sucht. Um seinen Job zu behalten, konvertiert er zum Islam. Der französischen Variante des ­Islam kann Francois nicht zuletzt wegen der nunmehr erlaubten Polygamie durchaus po­sitive Seiten abgewinnen.
In Frankreich hat sich die Aufregung über das Buch inzwischen wieder gelegt. Die Debatte darüber wurde durch die Anschläge verdrängt. Zunächst hatte es nicht an Kritik gemangelt. Der Autor nähre Ängste vor einer »islamischen Invasion« in Frankreich, wie sie in den Kampagnen gegen »Überfremdung« von der erstarkten extremen Rechten beschworen wird. Verwiesen wurde auf entsprechende Äußerungen Houellebecqs. Im Jahr 2002 musste sich der Schriftsteller vor einem Gericht in Paris für den Satz »Der Islam ist die dümmste aller Religionen« verantworten. Er wurde freigesprochen worden, weil er versichern konnte, er missachte »alle Monotheismen«.
Die erste Lesart des Romans, dessen Aufbau und Handlung in seinen Grundzügen seit dem 17.  Dezember bekannt waren, lautete: Es handelt sich um eine Warnung vor der islamischen Überfremdung. Edwy Plenel, Gründer und Leiter der Internetzeitung Mediapart, vergleicht Houellebecq mit dem Fernsehjournalisten und rechten Hetzer Eric Zemmour: Houellebecq sei für den Roman, was Zemmour für den politischen Essay sei. Zemmour hatte kürzlich die Verbrechen des Vichy-Regimes relativiert.
Pierre Assouline schreibt in der Literaturzeitschrift La République des Livres, Houellebecq sei »subversiver und verantwortlungloser« geworden; in der Literaturbeilage von Le Monde nannte Raphaëlle Leyris ihn »zweideutig und pervers«. Schwer begeistert zeigt sich der Herausgeber der Literaturbeilage des konservativen Le Figaro, Etienne de Montety, und lobte das »Marketingtalent« des Autors. In derselben Ausgabe befand der Rektor der Moschee von Bordeaux, Tareq Oubrou: »Houellebecq ist die Softvariante von Zemmour.«
Wenig überraschend war das große Interesse Marine Le Pens, die am 5. Januar erklärte, die ­Vision von Houellebecq »könnte Wirklichkeit werden«. Sie wolle das Buch unbedingt lesen. Ihr Parteikollege Gilbert Collard pflichtete ihr bei, die Machtübernahme durch eine muslimische Partei sei »aus demographischen Gründen« möglich. Der außerparlamentarische rechtsextreme Bloc identitaire, den Houellebecq im Buch zitiert – als möglichen Urheber von Gewalt – schrieb einen offenen Brief an den Autor. Houellebecq kenne die Gruppierung zu wenig, heißt es im Brief, man fordere ihn zu einem Treffen auf. Zugleich »beruhigt« der Bloc identitaire den Schriftsteller, unter anderem mit Verweis auf die Pegida-Demonstrationen in Deutschland: Sein Horrorszenario werde »nie« Wirklichkeit werden, die autochthonen Europäer würden der Bedrohung widerstehen, das gemeinsame Handeln »einer aktiven Avantgarde und einer Volksmehrheit« führe zum »his­torischen Sieg« über »Islamisierung und Immigration«.
Dabei ist fraglich, ob Houellebecq überhaupt vor den Gefahren des religiösen Fundamentalismus warnen will. Houellebecqs Protagonist François führt seine Positionen wenig aus, vielmehr kommen vor allem seine Diskussionspartner in ausführlichen Dialogen und Mono­logen zu Wort. Houellebecq legt sich in Interviews ungern auf eine bestimmte gesellschaftliche Position fest, sondern redet sich auf Nachfragen gern darauf hinaus, ein Schriftsteller zu sein, der zwar die Polemik nicht suche, ihr allerdings »auch nicht angestrengt ausweiche«, wie er in einem Fernsehgespräch erklärte und relativierend anführt: »Es ist mir kein Beispiel bekannt, dass ein Roman den Weltenlauf verändert habe. Essays vielleicht, ja, das ›Kommunistische Manifest‹ – aber keine Romane.«
Aber manchmal äußert er doch deutlichere Positionen. Bei seinem Auftritt in den Abendnachrichten des Fernsehsenders France 2 am 6. Januar widersprach Houllebecq in seinen Schlussworten, als er zur Pointe kam, dem für einen »weltoffenen Islam« eintretenden Islamforscher Malek Chebel, der Houellebecq vorgeworfen hatte, dem Publikum ein »Angstgemälde« vorzusetzen und furchtgenährte Phantasmen zu schüren: »Ich finde überhaupt nicht, dass es sich bei dem Islam in meinem Buch um einen radikalen Islam handelt, es handelt sich im Gegenteil um eine der sanftesten Varianten, die man sich vorstellen kann. Ich finde nicht, dass es sich dabei um einen Islam handelt, der Angst macht. Nein, da bin ich nicht mit Malek Chebel einverstanden.«
Gingen manche Kritiker davon aus, dass Houellebecq ein Horrorgemälde herbeibeschwören wollte, wenn er Frankreich unter der Regierung der Fraternité musulmane beschreibt, so sieht der Verfasser selbst dies anscheinend anders. Er betreibt also im Grunde eher Apologie, als dass er den Schrecken an die Wand malt. Houellebecq fügte im Fernsehgespräch hinzu, aus seiner Sicht sei es eigentlich »der erste Teil des Buches, der Angst macht«. Das sind jene Abschnitte vor der Schicksalswahl von 2022, in denen ein desorientiertes Frankreich mit gewalt­tätigen Auseinandersetzungen, deren Urheber eher unklar bleiben, geschildert wird.
Aber er dementiert auch, dass es ihm etwa darum gehe, über »Überfremdung« und die Zusammensetzung der französischen Wohnbevölkerung zu schreiben – also über das, was Rechte aller Schattierungen umtreibt, wenn sie die Chiffre »Islamisierung« und die angebliche fremdländische »Überflutung« ihres Landes meinen. Houllebecq vertritt jedenfalls die Auffassung, dies sei nicht sein Thema, weder vom einen noch vom anderen Standpunkt aus.
Im Wochenmagazin L’Obs (früher Le Nouvel Observateur) führt er aus: »Es ist in meinem Buch quasi überhaupt nicht von Einwanderung die Rede. Die Einwanderung ist ein leichter Beschleuniger, aber die Islamisierung kommt aus dem Inneren. Marine Le Pen kann die Einwanderung aufhalten, doch sie kann nicht die Islamisierung aufhalten: Das ist ein spiritueller Prozess, ein Paradigmenwechsel, eine Rückkehr des Religiösen. Also, ich glaube nicht an diese These vom ›Bevölkerungsaustausch‹.« Den Begriff prägte der rassistische Schriftsteller Renaud Camus, der unter dem Titel »Le grand remplacement« von einem Plan zum Austausch einheimischer durch fremdstämmige Bevölkerungsgruppen spricht, eine Behauptung, die von verschiedenen rechten Strömungen aufgegriffen wird. Houellebecq fährt fort: »Es ist keine Frage der rassischen Zusammensetzung der Bevölkerung, sondern es geht um die Frage ihres Wertesystems und ihrer Glaubensvorstellungen.«
Houellebecqs Thema ist die »Wiederkehr des Religiösen«, eine Entwicklung, die er in Interviews auf ein menschliches Bedürfnis nach Sinn zurückführt. Houllebecq galt bislang als Atheist, der aber zugleich ein Unbehagen an der angeblichen Sinnentleertheit der westlichen, liberalen, individualistischen Gesellschaftsordnung verspürt. Dieses brachte er in mehreren seiner Bücher zum Ausdruck.
In »Elementarteilchen« (1998) stellt sich der Protagonist Michel die Frage, ob er Anschluss an den rechtsextremen Front National suchen soll. Er verwirft diese Idee jedoch im Buch: »Sauerkraut essen mit Bier trinkenden Idioten, was soll mir das bringen?« Rettung bringen damals im Schlussteil des Romans die Gentechnik, weil diese es erlauben wird, die sexuelle Fortpflanzung und damit das individuelle Begehren auszuschalten, und eine Art New-Age-Ideologie. Houellebecq wurde daraufhin im Winter 1998/99 scharf angegriffen, weil er die Ideale der bürgerlichen Revolution für Makulatur erkläre. Und er antwortete damals darauf, er finde etwa rechtsextreme katholische Fundamentalisten »sympathisch«, von denen ihn jedoch eine Sache unterscheide: »Ich glaube nicht an Gott.« In »Die Karte und das Gebiet« von 2010 ließ Houellebecq sich ebenfalls über die gottesferne Sinnentleertheit der Gesellschaft aus und stellte christliche Priester als tragische Helden dar, die niemand mehr versteht. Abhilfe brachte hier zum Abschluss eine Überwucherung der Überreste dieser Zivilisation durch dichte Vegetation.
Welches seine persönlichen Überzeugungen in Bezug auf Religion sind, ist schwer zu beurteilen, denn sehr viel verrät Houellebecq über sein Innenleben nicht. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens in der westlichen Gesellschaft ist ihm aber dringlicher geworden. In einem Interview in der Welt nannte er dafür auch biographische Gründe. Er habe festgestellt, sagte er in Anspielung auf den Tod seiner Eltern, dass sein »Atheismus die Reihe von Todesfällen nicht gut verkraftet hat«, die er in der letzten Zeit erleben musste. »Das wurde verstärkt durch die Tatsache, dass ich entgegen meiner Überzeugung nicht wirklich Atheist bin, sondern eigentlich Agnostiker. Normalerweise verbirgt sich dahinter Atheismus, aber in meinem Fall glaube ich das nicht. Als ich die Frage, ob es einen Schöpfer gibt, eine kosmische Ordnung, so etwas in der Art, in neuem Licht betrachtet habe, ist mir klar geworden, dass ich nicht in der Lage war, sie zu beantworten.«
In seinem ausführlichen Interview für das konservativ-reaktionäre Wochenendmagazin Le Figaro Magazine, das dort am 9. Januar unter dem Titel »Es ist das Abendland, das Selbstmord begeht!« publiziert wurde, erklärt Houellebecq: »Nicht nur der Islam prosperiert. Auch dem Katholizismus geht es nicht so schlecht. Die Bewegung gegen die Homosexuellenehe (in Frankreich) war sehr beeindruckend und eine authentische Generationenbewegung.« Und an anderer Stelle: »Die Wiederkehr der religiösen Tatsache ist eine weltweite Bewegung, ein Tiefenphänomen. Der Atheismus ist zu traurig. Ich glaube, dass wir in diesem Moment dem Ende einer historischen Bewegung beiwohnen, die am Ausgang des Mittelalters begonnen hat. Die einzige Theorie, die im Augenblick als echter Verlierer dasteht, das ist diejenige Ideologie, die mit dem Protestantismus begonnen hat, ihren Höhepunkt im Jahrhundert der Aufklärung hatte und zur (Französischen) Revolution führte, und die auf die Autonomie des Menschen und die Macht der Vernunft gegründet ist. Das ist eine Ideologie, die schlecht aufgestellt ist; ich habe sie übrigens in meinem Roman nicht zu Wort kommen lassen.«
Rassistische Tiraden im Sinne etwa des Bloc identitaire sind das nicht. Beruhigend ist diese Vorstellung Michel Houellebecqs jedoch auch nicht.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. DuMont, Köln 2015, 270 Seiten, 22,99 Euro