Frédéric Jaeger im Gespräch über Filmkritik

»Filmkritik ist eine Haltung«

Am 5. Februar beginnt das größte Filmfest der Welt, die Berlinale. Zum ersten Mal kuratieren auch die Filmkritiker eine Reihe. Frédéric Jaeger, Geschäftsführer des Verbandes der deutschen Filmkritik (VDFK) und Chefredakteur des Internetportals critic.de, spricht über Ziele und Inhalte dieser Reihe, das Kino und die Filmkritik.

Herr Jaeger, haben Sie heute schon einen Film kritisiert?
Schriftlich nicht. Ich habe an der Universität ein Seminar über den Zusammenhang von Filmproduktion und Filmästhetik abgehalten, und in dem Kontext haben wir Filme kritisiert. Nicht für das große Publikum, sondern bei den Studierenden.
Sie sehen bestimmt viele Filme im Jahr.
So um die 400, 500, davon zwei Drittel im Kino. Und davon wiederum 80 Prozent auf Festivals.
Was sind das für Menschen, die sich der Filmkritik widmen?
Ich glaube, man muss schon Lust zum Streit haben.
Also eher die Nörgelfraktion?
Eher in dem Sinne, dass man eine Position hat, die man auch verteidigen möchte. Das kann für oder gegen den Film sein. Ich habe allerdings den meisten Spaß damit, wenn ich mich mit Filmen auseinandersetze, die ich liebe. Dazu gehört auch, dass man erklärt, wieso man etwas mag oder ablehnt. Ich denke nicht, dass jede Meinung die gleiche Berechtigung hat.
Der Verband der deutschen Filmkritik und seine internationale Dachorganisation, die FIPRESCI, vergeben Filmpreise auf Festivals. Sagen die Regisseure nicht: »Ach, danke, der Kritikerpreis. Jetzt geht keiner in den Film. Ich hätte doch lieber den Publikumspreis bekommen!«?
Das habe ich noch nie erlebt. Filmemacher sind ungemein scharf darauf, den Kritikerpreis zu bekommen. Die Anerkennung des Publikums ist für viele eher eine Last. Da kommen die Regisseure in Bedrängnis, sich zu rechtfertigen. Wenn man sieht, welchen Aufwand zum Beispiel Til Schweiger betreiben muss, um zu rechtfertigen, dass seine Filme relevant sind, dass sie von der Kritik anerkannt werden … Da scheint irgendwas schief gelaufen zu sein für ihn.
Interessiert die Kritiker nur ein spezielles Kino?
Mir ist es schon wichtig, das Kino allgemein zu lieben. Wenn ich zu viel vom einen Kino sehe, dann sehne ich mich nach einem anderen. Spartentrennungen finde ich ungemein langweilig. Jeder, der was Professionelles macht, langweilt sich mit dem Vorhersehbaren.
Mit Ausnahme der Filme mit Matthias Schweighöfer!
Die sind besser als die Til-Schweiger-Filme. Für mein Seminar habe ich das Gesamtwerk der beiden ansehen müssen. Im Zentrum steht die Frage, welche Filme wie viel Förderung bekommen. Schweigers »Schutzengel« wurde schließlich zugeschüttet mit Förderung, die sicherlich nicht zurückgezahlt wurde.
Ist der Filmkritiker neidisch auf den Regisseur?
Ich bin umso glücklicher, je besser der Film ist. Ich ärgere mich aber schon über das, was so gemacht wird, wo überall Geld einfließt. Aber das ist weniger Neid als Interesse daran, wie solche ökonomischen Zusammenhänge entstehen und warum sie hingenommen werden. Wenn das deutsche Kino gefeiert wird für seinen hohen Marktanteil, aber in Wirklichkeit kaum ein Film auf international relevanten Festivals läuft, dann frage ich mich: Warum gibt sich die Filmbranche mit sowas zufrieden? Naja, wir haben immerhin noch Werner Herzog.
Welches Image haben Filmkritiker in der Öffentlichkeit?
Sie lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Sie sind schwer greifbar, denn sie sind darum bemüht, sich voneinander zu unterscheiden. Und sie versuchen, sehr genau zu sein. Deshalb findet man nie, wenn man mit den Kritikern in einer Gruppe redet, irgendetwas Homogenes bei ihnen. Es sind immer die Unterschiede, die im Vordergrund stehen.
Ist dies ihre Möglichkeit, Politik zu machen?
Kritiker bemühen sich noch zu sehr, Filme zu zähmen, sie ziehen sie runter auf ein einfach zu verstehendes Modell. Insgesamt gilt: Sie sind viel zu wenig politisch. Weil die allermeisten Politik als rein ästhetische Aufgabe begreifen.
Würde es dem Verband der Filmkritiker gut stehen, den neuesten islamkritischen Charlie Hebdo-Titel auf seine Homepage zu stellen?
Haben wir ein Verhältnis zu Karikaturisten? Wir können gern plakativ arbeiten. Aber sollte es nicht die Arbeit des Kritikers sein, eigene Positionen zu formulieren?
Das müsste man sich mal anschauen. Im vergangenen Jahr jedenfalls hatten Sie und ihr Verband selber die Faxen dicke. Sie und Ihre Mitstreiter haben ein Flugblatt zur »Aktivistischen Filmkritik« veröffentlicht. Was will die?
Wir glauben, dass wir gezwungen sind, etwas an der Situation der Kinokultur zu ändern, dass wir nicht weiter in der Beobachterrolle bleiben dürfen. Der Kritiker muss sich einmischen, auch wenn es nicht gefordert ist. Wir müssen uns mit den Filmproduktionsbedingungen auseinandersetzen: Womit werden Filme produziert, dank wem? Wie werden sie herausgebracht? Wer kann sie überhaupt sehen? Was machen die verschiedenen Akteure, die die Filme präsentieren, wie funktioniert das? Denn das sind auch gesellschaftliche Fragen. Wir dürfen es nicht akzeptieren, wenn es heißt: Geht ja nicht anders. Denn dann bringen Verleiher, die so tun, als würden sie für das Programmkino stehen, Filme wie »Monsieur Claude und seine Töchter« oder »Ziemlich beste Freunde« heraus. Und halten das für einen Akt der cinephilen Leidenschaft. Verlogener geht’s ja nicht!
Die Programmkinomacher sind böse auf Sie.
Das spricht doch für einen wahren Kern in unserer Kritik.
Es scheint, Filmkritiker seien die letzten Unangepassten der Branche. Ist es da überhaupt zeitgemäß, sich in einer Art Verein zu organisieren – etwas so Urdeutschem, das ausschließlich der Organisation des Pragmatischen dient?
Eigentlich wirkt so ein Verbandswesen etwas antiquiert. Ich glaube aber, man kann einfach Strukturen, die bestehen, für seine Vorhaben nutzen. Bloß weil sie etwas behäbiger wirken, sollte man sich nicht abschrecken lassen.
Finden denn alle VDFK-Mitglieder gut, was der Vorstand so treibt?
Hoffentlich nicht. Grundsätzlich kann man ja nichts Gutes machen, ohne dass jemand dagegen ist. Eine aktivistische Filmkritik kann nicht alle zufriedenstellen. So was darf auch nicht die Rolle eines Vorstands sein. Die Mehrheit trägt uns. Wie das so ist, gibt es Wahlen, und da sind wir ja bestätigt worden. Letztlich haben wir ein Pamphlet geschrieben. Und da gehen Differenzierungen flöten. Das ist die offensichtlichste Kritik daran: Dass nicht alle das Programmkino aufgegeben haben, sondern es eine ganze Reihe sehr engagierter Kinomacher gibt. Auch die sind mit den gegebenen Vertriebsstrukturen unglücklich. So gibt es mögliche Verbündete. Wenn man so ein Papier aufsetzt, will man eine Diskussion anstoßen. Das ist nicht das Ende, sondern der Anfang.
Diskutiert werden soll bestimmt auch bei der Woche der Kritik auf der Berlinale. »Was andere Festivals längst haben, fehlt in Berlin: Eine Stelle, die nicht Massen von Filmen aufeinandertürmt, sondern ›das Kino‹ als Ganzes anschaut und es in einzelnen Filmen wiederfindet« – so steht es auf der Website. Was kann die Kritikerwoche mit zehn Filmen, was die Berlinale mit 400 nicht kann?
Einen Treffpunkt und ein Debattenforum schaffen, wo nicht rein affirmativ auf Filme geguckt wird, sondern eine Auseinandersetzung jenseits von Regieintentionen stattfindet: Darüber, welche Kinokultur wir da eigentlich haben. Bis wohin wir die unterstützen und was wir tun müssen, um sie zu verändern. Wir wollen Filme zeigen, die herausragen, die uns die Möglichkeit bieten, unsere Diskussion zu führen. Daher sollten sie sehr unterschiedlich sein. Die Filme haben wir auf Grundlage von Empfehlungen gesichtet, es waren etwas über 100. Was man wohl nicht von uns erwartet: Wir haben zwei romantic comedies im Programm, von Johnnie To. Nichts was im Mainstreamkino Europas vorstellbar wäre, aber eben in Hongkong. Filme, die dort sowohl über Genre-Mechanismen funktionieren wie auch über Action-Rollenklischees und ihre Demontage, über Dynamik und Liebesbeziehungen. Gleichzeitig bilden sie eine Kritik am Finanzkapitalismus, eine Kritik daran, wie wir die Figuren zuordnen und wo sie gar nicht reinpassen. Wir haben auch etwas, was komplett am anderen Ende steht: Als Weltpremiere konnten wir den neuen Film von Bernard Émond gewinnen. In dem gerade fertiggestellten »Le Journal d’un vieil homme« adaptiert er Anton Tschechows Novelle »Eine langweilige Geschichte«, unaufgeregt als Appell gegen Kulturpessimismus.
Die zehn Filme, die wir zusammengestellt haben, bilden ein breites Themenspektrum von Aktivismus, Widerstand und Provokation, über Genre, Status und Kontroverse ab. Man muss sich Zeit nehmen für die Woche der Kritik. Wir sind eine völlig unabhängige, autonome Reihe für alle, die intellektuelle Reflexion mit sinnlicher Lust am Filmerlebnis verbinden wollen. Wir wollen diskutieren: Wie sehen wir Filme? Welche Filme wünschen wir uns? Was macht Kino zu Kino?
Hatten die Verleiher großes Interesse an der Reihe?
Ja. Wir dachten ursprünglich, wir zeigen Filme, die für uns wichtig sind. Wir zeigen einfach, was wir wollen. Dass wir trotzdem drei Weltpremieren haben, hat sich ergeben, weil wir so viele Angebote hatten.
Muss die Filmkritik die Filmkunst retten?
Sie kann’s nicht allein! Wir können nur Impulse geben, und die müssen Widerhall bei anderen Akteuren finden.
Welchen Stand haben Filmkritiker bei der Berlinale? In der Hauptjury der Berlinale sitzt eher ein Maskenbildner als ein Filmkritiker.
Früher gab’s das mal … Das hat wohl mit dem Renommee zu tun, das die Berlinale den Filmkritikern zuerkennt. Das Verhältnis ist sicherlich nicht unkompliziert. Wir haben auch ein anderes Verständnis von Kultur. Unseres ist sicherlich enger als das von Berlinale-Chef Dieter Kosslick, der jetzt im Namen der Essenskultur einer Köchin und einem Slow-Food-Aktivisten die Berlinale-Kamera verleiht.
Ihr Kollege Rüdiger Suchsland hat gefordert, den Festivalchef auszuwechseln. Dieter Kosslick, seit 2001 im Amt, hat gerade seinen Vertrag bis 2019 verlängert. Sind sie auch der Meinung, die Spitze müsste mal erneuert werden?
Die Frage, die Suchsland nicht beantwortet, ist: Wer soll denn folgen? Kosslick ist wenigstens um Ausgleich bemüht und vermittelt zwischen sehr vielen unterschiedlichen Interessen. Das hat Vor- und Nachteile. Ob auf ihn jemand folgen würde, der sich verstärkt für Cinephile und Kritiker engagiert, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Also, ich habe den Eindruck, mit dem geht alles. Das kann gefährlich sein oder aber auch toll. Mehr Orientierung wäre wohl der erste Ansatzpunkt, man könnte den einzelnen Reihen mehr Profil geben. Zu viele Filme kann es aus meiner Perspektive nicht geben, nur zu viele schlechte oder falsche. Wen stören denn Filme?
Nochmal einen Blick mit Distanz: Ist Film nicht schrecklich unmoderner Frontalunterricht? Man sitzt drin und hält den Mund. Wie sieht der Verband das? Wie vertragen sich Film und Internet? Es gibt Filmkritiker, die lesen während der Vorführungen ihre Mails auf dem iPad …
Jedes Medium hat seine Eigenarten – und nur weil man still dasitzt, heißt das ja nicht, dass man passiv ist. Bei den richtigen Filmen ist man ja ungemein wach, hat ein lebhaftes Verhältnis zu ihnen. Bloß weil man physisch inaktiv ist, kann man ja doch sehr in Bewegung sein.
Was bleibt von der Filmkritik – braucht sie noch jemand?
Es macht einen Riesenunterschied, Zeit und Akribie darauf zu verwenden, sich mit Film auseinanderzusetzen. Dafür gibt es großen Bedarf. Ich sehe keine Konkurrenz der Filmkritik durch Filmportale, auf denen Zuschauer Filme bewerten. Im Gegenteil. Das ist ein anderes Bedürfnis, da wird sich ausgetauscht. Vorher hatte die Filmkritik auch kein Exklusivrecht auf die Deutung, das wäre eine nachträgliche Glorifizierung. Die Filmkritik war nie diejenige, die allein darüber entscheiden konnte, was Kino ist und was nicht.
Eine ökonomische Basis braucht sie trotzdem. Muss die Filmkritik ein zu schützendes Kulturgut sein, das etwa staatlich gefördert wird?
In Österreich ist es so. Eigentlich gehört die Deutung der Kultur zu unseren gesellschaftlichen Aufgaben. Wie sie wirtschaftlich abgesichert ist, über rein marktwirtschaftliche Mechanismen, Institutionen, Verlage, Medienhäuser, ist aktuell offen.
Es gibt natürlich bestimmte Positionen, die nicht nachbesetzt werden. Manche Redaktion spart sich den Filmkritiker. Etwa bei der Neuen Zürcher Zeitung in der Schweiz und auch bei Die Presse in Österreich. Die arbeiten da jetzt mit freien Autoren, machen weniger als vorher oder nehmen gleich Agenturtexte. Unabhängig davon gibt es aber viele Menschen, die ins Kino gehen, davon viel verstehen – und in der Lage sind, ihre Einsichten zu vermitteln. Filmkritik ist bestimmt nichts, was man in der Schule lernen kann. Und leider auch nichts, was geknüpft wäre an einen bestimmten Posten. Sie ist eine Form von Haltung, und die ist alterslos. Es ist die Grundwesensart des Kritikers, die Differenz zu leben und zu suchen.
Auch auf ihrem Portal critic.de bekommen Autoren kein Geld. Hilft der Filmkritik nur noch das bedingungslose Grundeinkommen?
Das wäre eine Antwort. Die andere lautet: Quersubventionen. Wenn man innerhalb der Filmkritik was Spezielleres machen will, ist es in der Regel so, dass zu wenig bezahlt wird, als dass man davon leben kann. Das heißt: Man investiert das Geld, das man in einem anderen Beruf verdient, in die Zeit, die man mit der Filmkritik verbringt. Dieses Modell hat früher viel besser funktioniert, weil man in anderen Bereichen, die nah am Film sind, heute schlechter verdient. Es wird immer schwieriger, solche quasi speziellen Nebenformen der Existenz für sich selbst zu ermöglichen. Das ist eine große Herausforderung.
Wo sehen Sie den Verband der deutschen Filmkritik in den kommenden Jahren: In der Rolle einer Gewerkschaft wie GDL und Cockpit? Würde es jemand merken, wenn die Filmkritiker streiken?
Ich glaube schon. Aber eine Gewerkschaft sind wir nicht. Da wir uns alle voneinander unterscheiden wollen, sind wir wahrscheinlich nicht in der Lage, kollektiv Politikziele zu verfolgen.
Wird die Woche der Kritik ein Erfolg?
Es ist schon ein Erfolg, dass die Woche der Kritik stattfindet.
Während der Berlinale findet auch immer die Mitgliederversammlung des Kritikerverbandes statt. Sind dort schwierige Debatten zu erwarten?
Die Diskussionen sind zum Glück bei uns vollkommen unvorhersehbar.

Informationen zur Berlinale auf www.berlinale.de, zur Woche der Kritik: http://wochederkritik.de, zur »Aktivistischen Filmkritik«: www.vdfk.de