Der Front National versucht, die Anschläge in Paris politisch für sich zu nutzen

Die Stunde der Profiteure

In Frankreich fragt man sich besorgt, ob der rechtsextreme Front National politisches Kapital aus den terroristischen Anschlägen in Paris schlagen kann.

Die Tageszeitung Libération widmete dem Front National (FN) am 19. Januar ein siebenseitiges Tagesthema. Der prominente Meinungsforscher Jérôme Fourquet urteilt darin, bis dato sei es nicht zu stärkeren Verschiebungen »zwischen den politischen Blöcken« gekommen, vielmehr fühle sich jede größere Wählergruppe in ihren bisherigen Grundüberzeugungen bestätigt. Fourquet schließt jedoch für die nähere Zukunft Veränderungen zugunsten der extremen Rechten nicht aus. Mitte Dezember, drei Wochen vor den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, eine Polizistin und einen koscheren Supermarkt in Paris, waren dem FN in Umfragen für die in knapp zwei Monaten anstehenden Wahlen in den französischen Départements durchschnittlich 28 Prozent prognostiziert worden.

Damit will sich der FN anscheinend nicht begnügen. Am Freitag vor zwei Wochen ging die Partei in die Offensive. Nach dem Verstreichen einer kurzen Schamfrist, in der die öffentliche Resonanz auf Versuche des FN zu polarisieren wohl verheerend ausgefallen wäre, präsentierte die Partei – vorgeblich als Antwort auf die Anschläge – eine Reihe innenpolitischer Forderungen.
In den ersten zehn Tagen nach den Pariser Anschlägen hatte eine andere Stimmung überwogen. Erste spontane Proteste und Reaktionen waren von Linken und einer linksliberalen Öffentlichkeit geprägt, die sich Charlie Hebdo stärker als die Rechte verbunden fühlte. Andererseits rief die Regierung zur »nationalen Einheit« (unité nationale) oder auch Union sacrée – so nannte man die »Burgfriedenspolitik« im Ersten Weltkrieg – auf. Die Regierung übernahm es, die zweite Welle von Demonstrationen ab dem zweiten Januarwochenende zu organisieren oder zumindest zu kanalisieren. Explizit appellierte Premierminister Manuel Valls an die konservative Rechte unter Nicolas Sarkozy, als Mitorganisator aufzutreten. Die UMP antwortete, indem sie bereits am Abend des 8. Januar lautstark forderte, auch der FN müsse am »Republikanischen Marsch«, der drei Tage später in Paris stattfand, teilnehmen dürfen.

Einige prominente Vertreter der Regierung hatten sich gegen die Teilnahme der Rechtsextremen ausgesprochen. Auch Teile der sogenannten Zivilgesellschaft und Freunde von Charlie Hebdo zeigten sich wenig begeistert. Die Vorsitzende des FN, Marine Le Pen, nutzte die Gelegenheit, um gegen die »Ausgrenzung« ihrer Partei durch die »Systemparteien« zu wettern. Sie behauptete, die Demonstration sei nun keine der »nationalen Einheit« mehr, sondern eine »sektiererische« Veranstaltung.
Nachdem sie anderthalb Tage lang Ungewissheit über eine mögliche Beteiligung des FN hatte walten lassen, rief Marine Le Pen schließlich ihre Anhänger zur Beteiligung an den Demonstrationen in ganz Frankreich auf – »überall außer in Paris«. In der Hauptstadt wäre der FN vermutlich schon aufgrund der Menge an Teilnehmern untergegangen. In Paris war deshalb die extreme Rechte nicht an der Demonstration beteiligt. Wohl aber kamen extrem rechte Minister aus Israel wie Naftali Bennett und der völkische Konservative Viktor Orban, der in Ungarn restriktive Mediengesetze durchgesetzt hat.
Marine Le Pen zog es vor, in der vom FN regierten Kleinstadt Beaucaire zu demonstrieren. Dort nahmen rund 1 000 Menschen an der Kundgebung gegen die islamistischen Anschläge teil, das war eine unterdurchschnittliche Zahl im Vergleich zu anderen Provinzstädten. In einigen Städten, in denen der FN regiert, wie in Marseille – dessen Nordbezirke seit einem knappen Jahr den rechtsextremen Bürgermeister Stéphane Ravier haben – und in Hénin-Beaumont, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt im Nordosten Frankreichs, war die Partei schon zuvor bei Demonstrationen präsent gewesen. Aber auf Landesebene gewannen viele Beobachter den Eindruck, der FN ziehe es vor, in der Stunde eines nationalen Schulterschlusses lieber abseits zu stehen. Dies dürfte seinen Einfluss vermindert haben.
Mit den zahlreichen innenpolitischen Forderungen, die Marine Le Pen einige Tage später präsentierte, versuchte die Partei wieder in die Offensive zu kommen. Wie man es von der Partei gewohnt ist, versuchte der FN einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und der angeblichen Masseneinwanderung herzustellen. Überraschend war diese These nicht, bereits im Herbst hatte es eine intensive öffentliche Debatte über die Agitation des FN gegeben, als es um französische Jihadisten ging, die für die Terrormiliz »Islamischer Staat« kämpfen. (Jungle World 48/2014) Durch Wiederholung werden die Behauptungen des FN nicht wahrer. Denn bei den drei Attentätern von Paris handelt es sich um französische Staatsbürger. Chérif und Said Kouachi sowie Amedy Coulibaly wurden in Frankreich geboren. Der soeben zum Held erklärte Lassana Bathily ist hingegen Einwanderer, ein vormals »illegaler« noch dazu. Der 26jährige Muslim aus Mali rettete 15 Menschen im koscheren Supermarkt Hyper Cacher, wo er arbeitet, bei dem Massaker das Leben. Er verschaffte ihnen Zutritt zum Kühlraum und schaltete die Kühlung aus. Am Dienstag voriger Woche wurde ihm von der Regierung zum Dank die französische Staatsbürgerschaft verliehen.

Marine Le Pen schlug als Reaktion auf die Terroranschläge vor, das Schengen-Abkommen auszusetzen, um nationale Grenzkontrollen wiedereinzuführen. Darüber hinaus solle Doppelstaatsbürgern bei Terrorismusverdacht umgehend die französische Staatsangehörigkeit entzogen werden können. Dies ist allerdings schon möglich, wenn auch unter engen rechtlichen Voraussetzungen. Vorige Woche bestätigte Frankreichs Verfassungsgericht einen entsprechenden Beschluss gegen den Franko-Marokkaner Ahmed Sahnouni. Ein solches Vorgehen verhindert zwar keine Attentate, soll aber die Grenze zwischen »eigen« und »fremd« umso deutlicher markieren. 59 Prozent der Französinnen und Franzosen haben sich in Umfragen bereits für dieses Vorgehen ausgesprochen.
Marine Le Pen will aber auch die seit 2000/01 ausgesetzte Wehrpflicht wiedereinführen, eine Forderung, die auch von Teilen der UMP gestellt wird – ebenso wie die nach obligatorischen Schuluniformen. Wie das Terroranschlägen entgegenwirken könnte, bleibt ihr Geheimnis.
Während Marine Le Pen vor allem von der in Teilen der Gesellschaft vorhandenen aufgeheizten Stimmung gegen Muslime und »Fremde« zu profitieren versucht, setzt ihr Vater und innerparteilicher Kontrahent, Jean-Marie Le Pen, auf Verschwörungstheorien. Der Senior merkte vorige Woche an, die jüngsten Anschläge trügen unverkennbar das Markenzeichen von nicht näher bezeichneten »Geheimdiensten«, seien also eine false flag-Inszenierung. Der 32jährige Vizepräsident der Partei, Florian Philippot, verbreitete daraufhin per Twitter, der Gründer und Ehrenvorsitzende des FN habe »vielleicht Wodka getrunken, bevor er sich äußerte«. Jean-Marie Le Pen erwiderte beleidigt, jedermann wisse doch, dass er keinen Alkohol mehr trinke. Am Sonntag legte der 86jährige dann nach und fabulierte von einer »Geheimgesellschaft«, die hinter den Attentaten stecke.
Wahrscheinlich wird der FN auch weiterhin mit beiden Flügeln schlagen und unterschiedliche Bedürfnisse zu bedienen versuchen: Verschwörungsgeraune für die Schmuddelränder der Partei und antimuslimischer Rassismus für den eher bürgerlichen Mainstream.