Muss der Islam schärfer kritisiert werden als andere Religionen? Nein, eine Kritik aller Religionen ist notwendig

Mehr Souveranität

Ein Plädoyer für eine Kritik aller Religionen.

Seit einem Vierteljahr geht nun Pegida auf die Straße. Die Demonstranten singen Weihnachtslieder, greifen auf Schlagworte wie die »christliche Leitkultur« oder das »Abendland« zurück und machen Front gegen »Salafisten«, »Islamisierung« oder schlicht Asylbewerber. Völkische und nationalistische Ideologen wie Jürgen Elsässer – der vor wenigen Jahren das »Vermischen« der Völker als »absolut tödlich« bezeichnet hat – bringt diese Bewegung von Wutbürgern, Hooligans und Neonazis in Entzückung. Zusammen mit dem wachsenden europäischen Rechtsextremismus stellt sie den feindlichen Bruder des Islamofaschismus von IS und Boko Haram dar. Mit dem Schein christlicher Traditionswahrung versehen, geht es ihr um einen ethnisch und kulturell definierten Identitätswahn, dem islamistischen Fanatismus um einen religiösen.
In weiten Teilen dieser Protestbewegung schwingt eine Vorstellung vom Islam als einer im Wesen fundamentalistischen Religion mit. Nicht gesellschaftliche und politische Umstände hätten dem islamistischen Fundamentalismus demnach in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr Zulauf verschafft, sondern seine innere, theologische Anlage. Muslime gehören in dieser Sichtweise nicht zu Deutschland, dieses sei eben »christlich«.

Einem solchen essentialistischen Bild muss eine materialistische Religionskritik entgegengesetzt werden, die im Gegensatz zum Kulturrelativismus weder islamische noch christliche Nebelbildungen naturalisiert. Wenn nun angesichts einer vermeintlichen Harmlosigkeit der christlichen Religionen in Westeuropa sogar manche Linke die Versuchung verspüren mögen, die jüdisch-christliche Tradition gegen einen sich radikalisierenden Islam aufzuwerten, ist auf die Reaktionen auf die Attentate in Paris zu verweisen.
Hier zeigt sich – wie schon beim Streit um die dänischen Karikaturen vor rund einem Jahrzehnt –, dass Muslime nicht das Monopol auf reaktionäre Einstellungen haben. Auch Christen brachten jüngst ein gerütteltes Maß an Empathie für die Empörung in muslimischen Ländern auf, was nicht nur der Furcht vor weiteren islamistischen Anschlägen geschuldet ist. Wie alle Religionen hat auch das Christentum die Tendenz, den Schutz seiner als allgemeingültig imaginierten Grundsätze über die Meinungsfreiheit zu stellen – wenn man es nur lässt. Explizit in dieser Richtung äußerte sich Papst Franziskus einen Tag nach der Veröffentlichung der Charlie Hebdo-Ausgabe der Überlebenden. Die Wut der Muslime rechtfertigte er, indem er sie mit einer Beleidigung seiner Mutter durch den neben ihm stehenden hypothetischen »Reisemarschall« verglich. Würde dieser sich eine solche Unverschämtheit herausnehmen, würde er eben eins mit der Faust bekommen, das sei »normal«. Der Papst fügte eindringlich hinzu: »Man darf nicht provozieren, man darf den Glauben anderer nicht beleidigen. Man darf sich über den Glauben nicht lustig machen.«

Ganz in diesem Sinn brachte in der Woche nach den Attentaten der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Mayer (CSU), eine Verschärfung des sogenannten Blasphemieparagrafen im Strafgesetzbuch ins Gespräch. Seit einer Reform im Jahr 1969 ist die »Beschimpfung« von Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften nur strafbar, wenn sie geeignet ist, »den öffentlichen Frieden zu stören«. Im Jahr 2012 gab es den bisher letzten konkreten Versuch der Union, diesen einschränkenden Nebensatz wieder zu streichen. Wolfgang Bosbach (CDU) hält diese Verschärfung auch im Januar 2015 für richtig, lediglich die fehlende politische Mehrheit macht ihm einen Strich durch die Rechnung.
Dass es keineswegs die Engelsgeduld der Katholiken war, die sie in den vergangenen Jahren davon abhielt, Gotteslästerer juristisch mundtot zu machen, zeigen die acht gescheiterten Klagen der Kirche gegen das Magazin Titanic. Lediglich das Fehlen eines ausreichend fanatisierten Fußvolks und der Gesetzesverweis auf den »öffentlichen Frieden« verhinderte in diesen Fällen wohl eine Verurteilung. 2012 musste sich der damalige Chefredakteur der Titanic, Leo Fischer, in einer Talkshow des Hessischen Rundfunks mit den »verletzten Gefühlen« eines Vertreters des Islamrats und eines Redakteurs der FAZ auseinandersetzen: »Das gehört zu einer gewissen Reife dazu«, setzte er ihnen geduldig entgegen, »dass man das aushält. Wir sind erwachsene Menschen und haben irgendwann einmal gelernt, uns dagegen abzuhärten.« Dass vielen Menschen – fanatischen Muslimen, radikalen Christen oder chauvinistischen Wutbürgern – diese »gewisse Reife« und Souveränität abgeht, lässt sich leider nicht so leicht ändern. Bis zu einem Zustand, in dem man ohne Angst verschieden sein kann, ist es ein weiter Weg, der über bornierte Religionen und Nationalismen hinausführt. Man könnte ganz klein mit der Streichung des Blasphemieparagraphen von 1871 beginnen.