Selbstzensur in den Medien nach dem Massaker von Paris

Es geht nicht um Solidarität

Nach dem Massaker an der Redaktion von Charlie Hebdo etabliert sich eine neue Qualität der Selbstzensur in deutschen und internationalen Medien.

Der erste Schock ist verflogen, die edle Wallung der Solidarität mit den Franzosen erstirbt, die Liveticker sind abgestellt. Hinter den Schwaden der Erregung zeichnen sich neue Strukturen ab: Der öffentliche Raum schrumpft. Neue Barrieren richten sich auf. Zum Teil waren diese Strukturen schon da und wir hatten es nur noch nicht gemerkt.
Natürlich kursierten in den Tagen nach dem Massaker überall die Zeichnungen von Charlie Hebdo. Dann stellte sich heraus, dass sehr viele Zeitungen und Fernsehsender eine »Linie« haben. In Deutschland stellte sich zwar Mathias Döpfner als Schutzpatron der Meinungsfreiheit dar, aber die Blätter seines Hauses haben eingelenkt. Die Bild-Zeitung hat offenbar die Linie, keine religiösen Gefühle zu verletzen. Neu ist, dass auch die Welt, die bei den dänischen Mohammed-Karikaturen noch keine Probleme kannte, diesmal meines Wissens ganz auf Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo verzichtete. Die Zeit ­illustrierte schon im vorigen Jahr eine Besprechung von Charbs Mohammed-Comic mit einem Bild aus dem Comic, in dem man die Mohammed-Figur schwärzte.

Aber das ist alles nichts im Vergleich zu einer Intervention der al-Azhar-Universität des westlichen Journalismus: Wenn die New York Times eine Fatwa erlässt, laut der es nicht opportun ist, Mohammed-Karikaturen und andere drastische Cartoons von Charlie Hebdo zu veröffentlichen, hat das Einfluss auf sämtliche Medien der westlichen Welt. Dies Kronjuwel der Meinungsfreiheit veröffentlichte nicht einmal den weinenden Mohammed der Ausgabe nach dem Massaker, und sei es um seines unbestreitbaren Nachrichtenwerts willen.
Times-Chefredakteur Dean Baquet erklärte, dass diese Entscheidung einem »seit langem gepflegten Standard« der Zeitung entspreche, als stünde irgendwo in den Redaktionsstatuten, dass man keine religionskritischen Zeichnungen bringt. Eine klar formulierte Linie scheint gar nicht zu existieren, wie die Huffington Post und Gawker recherchiert haben. Die New York Times brachte zuvor sehr wohl drastische Zeichnungen mit religiösem Kontext. Baquets Vorgänger, Bill Keller, bestreitet gegenüber der Huffington Post, dass es jemals eine solche klar formulierte Vorgabe gegeben habe. Er selbst, so Keller, hätte den weinenden Mohammed gebracht. Die dänischen Karikaturen hatte er seinerzeit aber auch nicht gedruckt.
Dem Spiegel sagt Dean Baquet ganz offen: »So sehr ich es liebe, Solidarität zu zeigen: Das ist erst meine zweite oder dritte Aufgabe als Chefredakteur. Meine erste Aufgabe ist es, den Lesern zu dienen – und ein großer Teil unserer Leser sind Menschen, die sich durch Satire über den Propheten Mohammed beleidigt fühlen. Dieser Leser, um den ich mich kümmere, ist kein IS-Anhänger, sondern lebt in Brooklyn, hat Familie und ist strenggläubig.« Dann wird es die New York Times demnächst sicher auch unterlassen, das Frauenbild des Islam oder die Regeln der Sharia in Frage zu stellen.
Baquet, aber auch moralische Autoritäten wie Theo Sommer, verbreiten gern den Irrtum, die Zeitungen sollten die Karikaturen aus »Solidarität« mit den ermordeten Kollegen abdrucken. Aber das ist nicht das Problem. Nach den Pariser Massakern wurden die Zeichnungen wie gesagt weithin gezeigt. Im jetzt folgenden Alltag jedoch werden solche Karikaturen immer seltener werden, immer gefährlicher wirken. Die New York Times hat mit dem Verzicht den Raum ihrer Berichterstattung schon verkleinert. Sie könnte etwa im New York Times Magazine weder ein Porträt über Kurt Westergaard noch einen Artikel über die französische Tradition der Karikatur bringen. Wie sollte sie ihn denn bebildern? Baquet wird auch den angeblich »seit langem geltenden Standard« befolgen müssen. Wenn schon kein Mohammed, dann auch kein Jesus. Von nun an werden religiöse Symbole gemieden. Religiöse Minderheiten und andere Identitätspolitiker wenden sich bitte an den Ombudsmann der New York Times.

Die neue Qualität nach den Pariser Massakern ist nicht, dass die Zeichnungen nicht gedruckt würden. Bei den dänischen Karikaturen vor acht Jahren war die Zurückhaltung eher noch größer. Neu ist, dass Redakteure und Intellektuelle geradezu programmatisch nach Argumenten für die Selbstzensur suchen. Der »Respekt vor Religion« ist jetzt ein Prinzip, das dem der Meinungsfreiheit zumindest ebenbürtig ist. Muslimische Lobbyorganisationen wie die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) können zufrieden auf ihr Werk blicken. Der von ihnen verlangte »verantwortungsvolle Umgang mit der Meinungsfreiheit«, das heißt ihre Einschränkung zur Schonung unklarer Sensibilitäten undeutlich definierter Bevölkerungsgruppen, ist aktiv verinnerlicht und wird von Chefredakteuren und Meisterdenkern mit wichtigen Mienen als die allerneueste Devise verkauft.
Eine der Strategien auf der Suche nach Argumenten für die Selbstzensur ist die ästhetische Kritik. Ich kenne diese ästhetizistische Reaktion auf die Wucht des Terrors seit den Diskussionen um Salman Rushdies »Satanische Verse« – dieselbe Diskussion seit über 25 Jahren! Man muss nur den Eingangssatz von Willi Winklers Kritik des Romans in der Zeit von 1989 lesen – »Sicher, es ist reichlich unfair, Einwände gegen ein Buch zu erheben, das seinen Autor das Leben zu kosten droht« – um zu verstehen, wie befreiend diese Worte in ihrem kultivierten Säuselton auf viele gewirkt haben müssen, die sich zuvor nur zu Solidarität aufgerufen sahen: Es gibt also Einwände gegen dieses Buch. Es ist nicht absolut, nicht ab­solut verteidigenswert. Es ist doch immer wieder die gleiche Situation der Schulhofschlägerei, in der wir nach Gründen suchen, dem Kleinen nicht zu helfen! Ästhetisches Gemäkel an den Zeichnungen von Charlie Hebdo hat dieselbe Funktion. Es handelt sich hier nicht um eine ästhetische Frage, sondern um eine existentielle. Das Pathos dieser Frage müssen wir aushalten. Niemand wird gezwungen, aus »politischer Raison« diese Zeichnungen gut zu finden, darum geht es gar nicht.
Neben ästhetischen Bedenken riefen Werke, deren Autoren von Islamisten ermordet oder bedroht wurden, oft auch moralische Zweifel der Feuilletonisten hervor. Wenn wir schon dabei sind und die Leichen gerade bestattet werden, müssen Feuilletonisten stets vor allem eines fragen: »Was soll Satire? Was darf sie?« Haben die Ermordeten richtig gehandelt? Sozusagen: »Die Grenzen der Satire – im Lichte der jüngsten Meinungsäußerungen betrachtet.« Edel sind die Seelen der Feuilletonisten. Es werden Karikaturisten, Polizisten und Juden umgebracht, aber sie solidarisieren sich erstmal mit den Muslimen und stellen die Frage, ob man ihnen diese Zeichnungen wirklich hätte zumuten sollen. Auch sollen die Muslime nicht gezwungen werden, sich zu der Sache zu verhalten. Die Deutschen sollen ihre Nazizeit aufarbeiten, die Amerikaner die Sklaverei, die Franzosen ihre Kolonialvergangenheit. Aber den Islam zur Selbstreflexion aufzufordern – das wäre Islamophobie.
Andreas Zielcke hat in der SZ geschrieben, was man einen »klugen Text« nennt, virtuos verschwurbelt, sich nach allen Seiten absichernd, mit schwer zu ermittelndem Standpunkt. Er weist darauf hin, dass Satire keineswegs »alles« dürfe, wie es der treudoofe Spruch fordert, sondern klare juristische Grenzen in der Integrität von Per­sonen oder Bevölkerungsgruppen habe. Auch in Frankreich mit seiner Tradition radikaler Religionskritik gelten solche Grenzen. Charlie Hebdo ging sehr nah heran an diese Grenzen – war aber juristisch genauso belangbar wie alle, wenn es sie überschritt.

Es geht also darum, was innerhalb dieser Grenzen geschieht und ob diese Grenzen enger gezogen werden sollen. Die eigentliche Spitze von Zielckes Artikel liegt darin, dass er ausgerechnet Anshuman A. Mondal zum akademischen Sittenrichter für die Grenzen der Satire erklärt, dessen gerade publiziertes Buch »Islam and Controversy« vielen in diesem Moment wie gerufen kommt. Mondal, Anglist an der Londoner Brunel-Universität, versucht explizit, den von Autoren wie Salman Rushdie und Kenan Malik verfochtenen universalistischen Begriff der Meinungsfreiheit, dem bisher auch westliche Medien anhingen, zu kassieren und durch eine Praxis religiösen Respekts zu ersetzen. Mondals Buch antwortet auf Kenan Maliks Studie »From Fatwa to Djihad«, die aus einer dezidiert linken und säkularen Position schildert, wie sich westliche Intellektuelle zusehends konservativen religiösen Diskursen fügten, angeblich im Namen des »Respekts«. Leute wie Malik, schreibt Mondal in der Zeitschrift The Conversation, »untergraben die moralische Unterscheidungskraft, auf der Freiheit beruht, indem sie blind auf dem Prinzip der Meinungsfreiheit beharren, statt die ethische Verantwortung zu akzeptieren, der sie unterliegt«.
Diesen Begriff der Meinungsfreiheit appliziert Zielcke nun auf Charlie Hebdo und kommt zu keinem guten Ergebnis für die Zeitschrift. Sofern ihre Karikaturen den Islam attackierten, attackierten sie zwar eine Figur der Macht und seien somit legitim. Aber Charlie Hebdo verkenne den Kontext dieser Zeichnungen: Innerhalb Frankreichs seien die Muslime eine Minderheit, also alles andere als mächtig, die Karikaturen seien somit illegitim. Nebenbei vollzieht Zielcke damit die Volte, die in der Intention der Erfinder des Begriffs »Islamophobie« lag: Er erklärt die Kritik an einer Religion (Zielcke spricht von »Verhöhnung«) zum rassistischen Akt.
Damit wären wir also wieder in bekannten Gewässern angelangt: Seit der Rushdie-Affäre arbeiten westliche Intellektuelle daran, die Schuld der Opfer auszubuchstabieren, um daraus Argumente für Selbstzensur zu gewinnen.

Der Text ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung einer dreiteiligen Serie des Autors im Kulturmagazin Perlentaucher.