Dresden, Hauptstadt von »Mitteldeutschland«

Die Mitte ganz rechts

Monatelang marschierte in Dresden eine rasch anwachsende Schar völkisch gesinnter Bürger gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes. Nun steht der 70. Jahrestag der Bombardierung der Stadt an, und man darf gespannt sein, wen es zu diesem Anlass wieder hinaus auf die Straßen treibt.

Knapp 100 Kilometer trennen das Dresdner Stadtzentrum von der polnischen Grenze und nur 50 Kilometer sind es bis nach Tschechien. Man kann der Stadt also mit Recht eine provinzielle Randlage attestieren, genau wie dem Freistaat Sachsen, dessen Hauptstadt sie ist. Die sturköp­figen Eingeborenen dieser Region aber wollen das bis heute nicht wahrhaben und werden nicht müde, ihr entlegenes Habitat als »Mitteldeutschland« zu bezeichnen. Sogar die gemeinsame Sendeanstalt mit Thüringen und Sachsen-Anhalt nennt sich »Mitteldeutscher Rundfunk«, was geographisch weder auf der Ost-West- noch auf der Nord-Süd-Achse so recht passen will und also auf vermeintlich bessere Zeiten verweist, als der Mittelpunkt des Deutschen Reiches noch in der Lausitz verortet werden konnte. Die Entscheidung, die Sendeanstalt nach dem 1924 gegründeten Vorläufersender Mitteldeutsche Rundfunk AG zu benennen, fiel im Jahr 1992, und es gab damals niemanden, der das ernsthaft skandalisiert hätte. Überall in Ostdeutschland brannten schließlich Asylbewerberheime, junge Nazis veranstalteten zünftige Menschenjagden und in Hoyerswerda hatte es bereits ein erstes handfestes Pogrom gegeben, bei dem die versammelte Bürgerschar dem blutrünstigen Mob applaudierte. In diesem gesellschaftlichen Klima erschien die Namensgebung des Senders bestenfalls als bizarre Rand­anekdote. Spätestens seit dem Auftreten von Pegida sollte jedoch klar sein, dass es mehr war als das.
Der nationale Anspruch, die Sehnsucht nach überregionaler Bedeutung, die in der Verwendung des Begriffs Mitteldeutschland mitschwingt, ist in Sachsen noch immer ungebrochen. Zwar verpasste die NPD 2014 den Wiedereinzug in den Landtag, aber dafür nahm die AfD mit satten 9,7 Prozent ihren Platz ein. Schon bei der Bundestagswahl im Jahr zuvor hatte dieses neue rechte Sammelbecken seine besten Ergebnisse in Sachsen erzielen können, insbesondere in Dresden selbst sowie in den angrenzenden Wahlkreisen entlang der polnischen und tschechischen Grenze. Mag also das Phänomen der Pegida-Demonstrationen noch so sonderbar erscheinen, die Tatsache, dass es ausgerechnet hier entstand, ist, mit Blick auf das rechte Wählerpotential in der Region, wenig verwunderlich. Und betrachtet man die Pegida-Bewegung als eine Art diffuses völkische Aktionstheater, kommt man auch nicht um die Erkenntnis herum, dass das Stadtbild Dresdens mit seinen auf lang vergangene Größe verweisenden monumentalen Herrschafts- und Sakralbauten ein durchaus stimmiges Bühnenbild ­dafür abgibt.
Die meisten der heute völlig überproportional wirkenden Prunkbauten am Dresdner Elbufer entstanden im 17. und 18. Jahrhundert während der Herrschaftszeit von Friedrich August I. (»August der Starke«) und seinem Nachfolger Friedrich August II., einer knapp 70 Jahre andauernden Phase voller Großmachtphantasien, die man in Sachsen gern »Augusteisches Zeitalter« nennt. Wenig ruhmreiches Agieren im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) beendete seinerzeit die Träumereien und verdammte alle nachfolgenden Generationen in Dresden dazu, in einem architek­tonischen Freiluftmuseum zu leben, dessen Stein gewordene Geltungssucht in der Realität nie wieder ausreichende Entsprechung finden sollte.
Im Deutschen Reich ab 1871 immerhin noch eine wirtschaftlich und kulturell nicht ganz unbedeutende Provinzhauptstadt, vergrößerte sich der Abstand zwischen gefühlter und tatsächlicher Größe für die Dresdner nach 1945 noch weiter. Die »Mitteldeutschen« fanden sich im äußersten südöstlichen Zipfel der DDR wieder, der als »Tal der Ahnungslosen« verspottet wurde, weil die Sendungen der Westmedien die Region nicht erreichten. Zudem mussten deren Bewohner mitansehen, wie große Teile der alten Bausubstanz, die den Krieg mehr oder weniger überstanden hatten, zugunsten sozialistischer Stadtplanung weggesprengt wurden.

Man kann sich den Schmerz vorstellen, den derlei Verheerungen dem traditionell stockkonservativen Dresdner Bürgertum bereitete, das es andererseits gerade dank der allem Konservatismus stets innewohnenden Obrigkeitshörigkeit schaffte, seine Existenz über 40 Jahre DDR-Sozialismus hinweg zu erhalten. Diese zwar staatsfixierte, aber doch DDR-untypische, weil noch im Kaiserreich wurzelnde Bürgerlichkeit bildete dann auch den Nährboden, auf dem der politische Westexport Kurt Biedenkopf 1990 seine zwölfjährige Herrschaft als »König Kurt« errichten und die bis heute andauernde Erfolgsgeschichte der sächsischen CDU begründen konnte. Erklärtes Ziel seiner Politik war der wirtschaftliche Aufschwung des Landes, und es gelang ihm, den Sachsen zu vermitteln, dass sich diesem Ziel alles andere unterzuordnen habe. Gesellschaftliche Diskurse und oppositionelle Haltungen wurden, wie schon zu DDR-Zeiten, konsequent aus dem öffentlichen Raum ins Private verdrängt. Das, was sich zuletzt in den Pegida-Märschen ausdrückte, ist ein lange im Verborgenen ausgebrütetes Konglomerat frei flottierender Versatzstücke nationalkonservativer Gesinnung, deren gemeinsamen Nenner nur die halluzinierte Überzeugung bildet, die Mitte oder gar die Mehrheit der Gesellschaft zu repräsentieren: »Wir sind das Volk!«
Inzwischen scheint dieser Spuk vorerst vorbei zu sein. Die Organisationsgruppe der Märsche hat sich weitgehend aufgelöst und die verschiedenen Pegida-Ableger in anderen deutschen Städten haben sich nicht recht durchsetzen können. Nachdem auch noch die für den 2. Februar geplante Demonstration abgesagt worden war, brachte die Bild am 1. Februar eine frohlockende Fotostrecke vom Semperopernball. Unter der Überschrift »Dresden tanzt Pegida weg« fanden sich die Konterfeis von Patrick Lindner, Simone Thomalla, Jürgen Drews, Nadja Auermann, Ulla Kock am Brink und – natürlich – Kurt Biedenkopf zu einer Art Dschungelcamp in historistischem Ambiente versammelt. Die Botschaft der unter dem Motto »Dresden jubelt und heißt die Welt willkommen« stehenden Veranstaltung: Jetzt ist es aber auch mal gut.

Dass es keineswegs gut ist, belegt eindrücklich Dresdens alljährlich wiederkehrende Verklärung der deutschen Opfer des Bombenkriegs. Sie bildet die Brücke zwischen der verlogenen und prunkenden bürgerlichen Ideologie des Semperopernballs und den völkischen Kleinbürgerressentiments, die sich in den Pegida-Märschen Luft machten. Das Bombardement vom 13. und 14. Februar 1945 ist – quasi als Negativbild zum »Augusteischen Zeitalter« – der zweite große Mythos, der die Mehrzahl der Dresdner bis heute fest im Griff hält. Zwar wurde die Opferzahl von anfänglich bis zu 400 000 gemutmaßten Toten inzwischen auf rund 25 000 korrigiert und simple Fotovergleiche mit den Zerstörungen etwa in Hamburg, Darmstadt oder Frankfurt/Main belegen, dass Dresden keineswegs den größten Schaden davontrug. Auch ist es nachweislich eine Mär, dass es in der Stadt keine »legitimen militärischen Ziele« gegeben hätte. Aber all das ficht die in Realitätsverweigerung bestens trainierten Dresdner nicht an.
Mit der Bombardierung ihres ach so schönen »Elbflorenz« sind sie – das ist hier bürgerlicher Konsens – allesamt von der Seite der Täter auf jene der unschuldigen Opfer gewechselt und als solche empfinden sie sich bis heute, Fakten hin oder her. Faszinierend daran ist, dass sie es geschafft haben, das Gedenken an den Jahrestag der Bombardierung trotz dieser offensichtlichen Verkehrung zu einem Staatsakt in der wiedererrichteten Frauenkirche zu entwickeln, an dem auch der Bundespräsident, der Erzbischof von Canterbury sowie diplomatische Vertreter aus den USA, Russland, Polen und anderen europäischen Ländern glauben teilnehmen zu müssen. »Aufklärungskritik und Romantizismus verbinden sich mit Verlogenheit« – dieses Urteil des Politikwissenschaftlers Dietrich Herrmann über Pegida trifft auch auf die Dresdner Gedenkkultur zu. Obschon sie sich mit einer Menschenkette »für Gewaltfreiheit, Frieden und Toleranz« schmückt, bleibt sie in ihrem Kern anschlussfähig für den rechten Rand.
Das will auch die SPD sein, insbesondere nachdem die Bundes-CDU in diesem Segment zuletzt etwas schwächelte und die Wählergunst weiter zu wünschen übrig lässt. Da reicht es natürlich nicht, dass man darauf verweisen kann, mit Thilo Sarrazin den ersten einer Reihe neuer rassistischer Bestsellerautoren des Landes hervorgebracht zu haben, einen echten Trendsetter, dessen Thesen von neuen identitär-völkischen Bewegungen, wie etwa den sogenannten Reichsbürgern oder eben Pegida, mit Begeisterung weitergetragen werden. Nein, da muss auch schon mal der Parteivorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel selbst an die Front. Der reiste zwar nur »als Privatmann« nach Dresden und auch nur zu einer Diskussionsveranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung, brachte von dort aber dennoch eine erstaunliche Erkenntnis mit: »Es gibt ein demokratisches Recht darauf, rechts zu sein oder deutschnational.« So fasste er es anschließend in einem Stern-Interview zusammen und lehnte sich lächelnd zurück, um seinem Beliebtheitswert dabei zuzusehen, wie er acht Prozentpunkte in die Höhe schnellte. Von Dresden lernen heißt in diesen Tagen wohl siegen lernen.

Gleiches könnte allerdings auch für die Gegner des neuen völkischen Nationalgeschwurbels gelten. Die Dresdner Antifa-Gruppe »No Excuses« jedenfalls hat kürzlich mit einer nachahmenswerten Aktion auf dem Heidefriedhof von sich reden gemacht. Dort erinnert seit 2010 die Skulptur »Trauerndes Mädchen am Tränenmeer« von Bildhauerin Małgorzata Chodakowska an die vorgeblich unschuldigen Opfer der Bombardierung Dresdens. Der Sockel ist zudem geschaffen aus »Schwarz-Schwedisch«, einem Material, das Erich Maria Remarque in seinem 1956 geschriebenen Roman »Der schwarze Obelisk« als »S.S.-Granit« bezeichnet und in dessen Verwendung sich für ihn die Kontinuität von Großmachtstreben und Rechthaberei des deutschnationalen Bürgertums vom Kaiserreich bis ins Nachkriegsdeutschland manifestiert. Die Gruppe »No Excuses« nun errichtete genau gegenüber Chodakowskas Mädchenskulptur ein deutlich weniger hübsch anzuschauendes »Schmuddelkind«-Denkmal, das mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die unschuldige Schönheit zeigt. In der dazu veröffentlichten Erklärung heißt es: »Die Dresdner*innen werden symbolisch mit einem Kind, insbesondere einem Mädchen, gleichgestellt, das naiv ist und nicht weiß, was es tut, (...) und so soll die betrachtende Person verstehen, dass von vornherein auszuschließen ist, dass es hier Schuldige gibt, die zur Verantwortung gezogen werden könnten.« Ihr Werk halte dem entgegen: »Du warst es!« Den Titel »Schmuddelkind« trage die Figur, weil es mit dieser Aussage in der Dresdner Erinnerungskultur eben als Nestbeschmutzer dastünde.
Meine Bitte an »No Excuses«: Reproduziert eure Skulptur! Ja, es kann gar nicht genug davon geben. Ihr Finger sollte auch auf die Semperoper zeigen, auf den Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig, das Willy-Brandt-Haus in Berlin und den Amtssitz des Bundespräsidenten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und gerne dürft ihr eurem »Schmuddelkind« noch die Gesichtszüge des Nestbeschmutzers Erich Maria Remarque geben, dem seine Staatsbürgerschaft 1938 von den Na­tionalsozialisten aberkannt und nach dem Krieg von niemandem wieder angeboten wurde, weder von der BRD noch von der DDR.