Ausprobiert«. Serie über Sportarten. Teil 3: Marathon

Dreißig plus zwölf

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange faszinieren. Teil 3: Wie kommt man eigentlich darauf, Marathon zu laufen? Wieso nicht, sagt unser Autor.

Die Wohnung gleicht einem Trümmerfeld, die Nachrichten verfolge ich nicht, meine Freunde hören nichts von mir. Alkohol meide ich wie der Teufel das Weihwasser. Das hat einen einfachen Grund. Langsam kommt der Herbst, also steht ein Marathon bevor. Der bestimmt jeden Tag. Wenn ich nachmittags merke, dass ich wohl erst spät aus dem Büro komme, steigt die Nervosität. Ich muss noch Kilometer reißen. Auf 65 will ich in dieser Woche schon noch kommen. Es ist Donnerstag und ich bin erst bei 17.
Von Juni bis Oktober gibt der Trainingsplan den Takt vor: Fünfmal Laufen in der Woche. Tempoeinheiten, lockere Dauerläufe und ein langer Lauf. Den mache ich sonntags. Quer durch die Felder zwischen Mannheim und Heidelberg. Ist der Lauf absolviert, haue ich stolz einen Facebook-Post raus: »31 km in 3:10h. Noch sieben Wochen bis Köln.« Alle drei bis fünf Wochen »Testwettkampf« statt langer Lauf. Anfang August geht es zum Beispiel immer zum 25-Kilometer-Sommernachtslauf in die Pfalz. Die meisten Wettkämpfe laufe ich zusammen mit einem Freund.
Er ist ein paar Jahre älter als ich. Unsere Wege kreuzten sich während des Studiums. Anfangs trafen wir uns nur, um ins Glas zu schauen. Ich hörte mal, dass er an einem Halbmarathon teilgenommen hatte, aber das interessierte mich nicht. Ich lief selbst, weil ich den Drang dazu hatte. Wenn ich irgendwas vergessen wollte. Wenn ich Ruhe suchte. Oder Erschöpfung. Irgendwann sah er von einer Brücke aus, wie ich den Neckar entlang trabte. Er rief runter: »Hey Mark, hey, hey.« Ich hätte mir nicht vorstellen können, was damit seinen Anfang nahm. Der Freund, nennen wir ihn Armin, erzählte von seinem ersten Marathon. Mehr als fünf Stunden hatte er gebraucht. Also sehr lange. »Peinlich war das fast. Hinter mir fuhr der Besenwagen«, berichtete er mit großen Augen. Beinkrämpfe hatten ihm in der folgenden Nacht den Schlaf geraubt. »Meld dich an für Köln«, meinte Armin wenige Monate später.
Für den Laien sind 42,195 Kilometer unvorstellbar lang. Ich fing an, lange Läufe zu machen, ohne die Kilometerzahl zu kennen. Wenigstens eine Stoppuhr legte ich mir zu. Und ein Laufbuch mit verschiedenen Trainingsplänen. Ernst nahm ich die Sache allemal: Auch wenn ich sicher mehr als fünf Stunden benötigen würde, müsste ich gut trainiert sein. Also orientierte ich mich am Plan für Vier-Stunden-Läufer. Die Strecken schätzte ich ab. Ich lief mal langsamer, mal schneller und war unterschiedlich lang unterwegs – zwischen 45 Minuten und drei Stunden. Nach zehn Wochen kam mein Marathondebüt: am 6. Oktober 2002.
»Das ist ja so bitter, was auf einen zukommt. Das ist ja so bitter«, meinte Armin auf dem Weg nach Köln. Am Rhein war es windig und regnerisch. In einer Kneipe am Deutzer Bahnhof, auf dem Bildschirm Olaf Thon als Erstläufer beim Köln-Marathon. Ich trank ein kleines Wasser. Mehr wollte ich nicht. »Es ist dein Körper, der austrocknet«, mahnte Armin. Kurz darauf standen wir im Startblock. Es schüttete. Irgendwelche Karnevalsmusik ertönte. »Und dann die Hände zum Himmel.« Ich wusste nur, ich würde jetzt laufen und lange nicht mehr mit dem Laufen aufhören. Was ich noch nicht ahnte: So richtig würde ich wohl nie wieder damit aufhören.
Ich lief los. Das Tempo konnte ich hier überprüfen, jeder Kilometer war ausgeschildert. Ja nicht zu schnell werden, das würde sich rächen. Bei Kilometer 7 griff ich das erste Mal nach Wasser. Die Hälfte davon landete auf meinem Hemd. »Nur noch 35«, rief ein kleiner Junge. Die ersten zehn Kilometer in 58 Minuten. Normaler Schnitt. Ich lief gemütlich vor mich hin. Die Hälfte in zwei Stunden und zwei Minuten. Langsam fing ich an, mich zu überraschen. In Nippes bei Kilometer 30 wurden meine Beine dann schwerer. Der eigentliche Marathon, sagt man, beginnt genau da. »34 – jetzt zeigt sich’s, jetzt zeigt sich’s«, stöhnte ein alter Mann hinter mir. Neben mir telefonierte ein Läufer in meinem Alter: »Läuft ganz gut bisher.« Das dachte ich auch – mittlerweile wurde ich bei jedem Blick auf die Uhr euphorisch. »Gleich habtas«, rief einer bei Kilometer 40 und klatschte. Von wegen: Die letzten zwei Kilometer wollten nicht enden. Als ich dann doch die Ziellinie überquerte, war ich komplett von der Rolle: 04:07:10 h. Krass. Immerhin durchfuhr mich ein stechender Schmerz, als ich stehenblieb. Aber »so bitter« war es nicht.
Jetzt wollte ich vor allem schneller werden. Als nächste Station würde Hamburg passen – Ende April. Obwohl ich diesmal zwischen Kilometer 28 und 33 ganz schön zu kämpfen hatte, verbesserte ich mein Ergebnis um knapp 20 Minuten. Das trieb mich nun richtig an. Ich wollte am liebsten jedes Wochenende irgendwo eine »Zeit« vorweisen können. Und durch hartes Training so schnell werden wie irgendwie möglich. Kurz Zeit später fuhr ich alleine zu meinem ersten Zehn-Kilometer-Lauf an die Weinstraße. 46 Minuten – trotz schwülen Wetters und Pfälzer Hügeln. Ha! Armin staunte am Telefon: »Wo holst du das auf einmal her?« Der nächste »Zehner« auf flacher Strecke: 42 Minuten. Ich war schnell. Aber da müsste noch viel mehr drin sein. Vielleicht wäre irgendwann unter drei Stunden drin – der Traum aller ambi­tionierten Freizeitläufer.
Bis zum Studium galt ich als unsportlich. »Bekommt ihr noch den Mark«, hieß es in der Schule ganz am Ende, wenn die Ballspielmannschaften zusammengestellt wurden. Und nun könnte ich Teil der Laufelite sein. Ich trainierte in jenem Jahrhundertsommer 2003 nach der Devise »Viel hilft viel«. Um mich richtig zu quälen, ging ich nun auch einmal die Woche zu einem Leichtathletikverein und versuchte, den Tempoläufern hinterher zu jagen. Ich drehte von Woche zu Woche die Kilometerzahl hoch. Gegen den Rat aller Experten absolvierte ich in einer Woche im September gleich mehrere lange Läufe und kam auf 140 Kilometer. Immer in Bewegung zu bleiben, war mein Ideal. So wie Forrest Gump. Wer läuft, lebt und würde sich möglichst lange am Leben halten. Immer wieder las ich von ehemaligen Drogenabhängigen, Krebs-, Diabetes- und HIV-Patienten, die mit dem Laufen ihre Lebensqualität verbesserten und Körper und Seele kräftigten. Ich war gesund, aber vielleicht lief ich aus den gleichen Gründen. So genau konnte ich das nicht sagen. Jedenfalls wurde ich umso unzufriedener, je mehr ich mich da reinsteigerte.
Die große Niederlage folgte: Beim dritten Marathon machte ich alles falsch. Frühmorgens aß ich noch eine Banane. Dann nichts mehr bis zum Start. Das würde auch so klappen, dachte ich. Ich legte los wie von der Tarantel gestochen. Mit den entsprechenden Folgen. Vor der Hälfte brach ich ein. Mit 03:36:09 h erreichte ich dann zwar eine neue Bestzeit, aber gratulieren brauchte mir dazu niemand. Das Schlimmste wusste ich glücklicherweise noch nicht: Für die nächsten fünf Jahre sollte das mein persönlicher Rekord bleiben. Inzwischen war Laufen ­irgendwie so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Freunde fragten mich oft »Läufst du?« oder »Warst du heute laufen?« »Herrschaftszeiten, ich laufe doch immer!« dachte ich oft. Jahre später kapierte ich erst, warum sie fragten. Sie wussten, dass mit mir alles in Ordnung sein würde, wenn ich lief. Das Laufen half mir durch jede schwere Phase, aber das Feuer ließ nach – zumindest vorübergehend. Von 2004 bis 2007 folgten fünf weitere Marathonläufe.
2008 zog ich berufsbedingt in den Schwarzwald. Jetzt trainierte ich gezwungenermaßen auch Höhenmeter – die hatte es vorher nicht gegeben. Sechs Jahre nach meinem ersten Wettkampf hatte ich mir nun auch eine GPS-Uhr mit Pulsmesser angeschafft. Vielleicht ­bewirkte beides eine Veränderung. Ich weiß es nicht. Am 5. Oktober startete ich meinen neunten Marathon. Ich lief durch Pfützen und meine Socken fühlten sich an wie kalt-nasse Klumpen an den Beinen. Und doch kam ich in schnellem Rhythmus voran. Bei Kilometer 25 Blick auf die Uhr: 02:02 h. Das war eigentlich viel zu schnell. Würde ich bald wieder einbrechen? Vor Kilometer 32 überholte ich sogar Armin. Automatisch zog ich mein Tempo nochmal deutlich an. Ich spürte, ohne mich umzuschauen, wie Armin mir auf den Fersen war. Der würde mich nicht entkommen lassen. Wir waren unter 5 min/km, also so schnell wie am Anfang der Strecke. Bei Kilometer 36 hatte Armin dann doch wieder die Nase vorne. Mein Tempo ließ ein wenig nach, doch ich blieb dran. Deutzer Brücke, Kilometer 41 lag hinter uns: Armin rief »Auf Mark« und setzte zum Sprint an. Ich wurde schneller, doch richtig sprinten konnte ich nicht mehr. Gleichzeitig überliefen wir die Ziellinie: 03:30:27 h. Geht doch!
Armin lief bald für einige Zeit allein. Im Frühjahr 2011 spürte ich so etwas wie einen Nagel im Schuh. Diagnose: Fersensporn. Die Schmerzen waren trotz zahlreicher Spritzen und Stoßwellen nicht zu therapieren. Vielleicht hätte ich in all den Jahren mehr dehnen sollen. Vielleicht streikte aber auch meine Psyche. Wirksame Hilfe erhielt ich bei einem Allgemeinmediziner. Der legte die Stirn in Falten, um meine psychischen Blockaden zu überwinden. Es half – 2013 gelang mir ein Comeback mit 03:51 h.
Den Traum von einer neuen Bestzeit (also unter 3:30 h) habe ich bis heute nicht aufgegeben. Trotzdem laufe ich längst nicht mehr so verbissen wie am Anfang. Ich laufe wahrscheinlich, weil ich dabei ganz bei mir bin. Die Welt draußen kommt zum Stillstand: Im Spätsommer beantworte ich kaum private Mails, meine wenigen Statusmeldungen kreisen um dasselbe Thema. Nicht mal der Saisonstart der Bundesliga bewegt mich groß. Wie das alles weitergeht, weiß ich nicht. Armin läuft 2015 in Köln.