Das Gedenkspektakel am 13. Februar

Friedhofsruhe für Kritik

Beim Dresdner Gedenken zum 70. Jahrestag der Bombardierung im Februar 1945 wird es erstmals keine Gedenkveranstaltung auf dem Heidefriedhof geben.

Das Mädchen ist traurig. Es hält den Kopf gesenkt, die Arme vor dem Körper verschränkt, vor ihm in der Schale steht das Wasser knöcheltief. Die Bildsprache ist nicht schwer zu entziffern, der Titel dieser Skulptur hilft auf die Sprünge: »Tränenmeer«. Warum das Mädchen weint, erklärt der Kontext: Sie steht auf dem Heidefriedhof, an der Gedenkstätte für die Opfer des 13. und 14. Februar 1945, dem Zentrum des jährlichen Gedenkens an die alliierten Luftangriffe auf Dresden.
Viel Kritik hat es im vergangenen Jahrzehnt an der Dresdner Erinnerungskultur gegeben. Keine andere Stadt in Deutschland hat nach dem Ende des Nationalsozialismus derart das eigene Opfer, die Verluste auf deutscher Seite an Stelle der deutschen Schuld in den Mittelpunkt gestellt, wie es beim offiziellen Gedenken in Dresden Tradition ist. Die Skulptur, oder besser ihre Urheberin, weiß um diese Kritik, doch sie weicht ihr aus. Ein junges Mädchen, maximal zwölf Jahre alt, steht da. Wie viel Schuld könnte man ihr an den Verbrechen des Nationalsozialismus, dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht und dem Holocaust zur Last legen? Überhaupt keine – natürlich. Und damit ist einer der maßgeblichen Einwände, die sich das Gedenken in Dresden seit Jahren vorhalten lassen muss, getilgt.

Das traurige Mädchen aus Bronze auf dem Heidefriedhof hatte vergangen Freitag kurz Besuch. Ein doch eher hässliches, betongraues Mädchen mit tief ins böse Gesicht gezogener Kapuze stand plötzlich da und zeigte mit dem Finger und ausgestrecktem Arm auf das liebe traurige Mädchen. »Schmuddelkind«, eine Plastik der Dresdner Gruppe »No Excuses«, die sagen soll: »Du warst es! Du und deine Stadt, ihr wart Nazis, Teil eines großen funktionierenden menschenvernichtenden Systems. Und als solches wurde Dresden bombardiert. (…) Und wenn ihr euch nicht mehr erinnern wollt, wir stehen hinter diesem Schmuddelkind, dem Nestbeschmutzer, das zeigt, was niemand sehen will, wir werden euch weiter daran erinnern: Dresden und seine Bevölkerung waren mehrheitlich nicht unschuldig, sondern Unterstützer bei der Umsetzung einer verbrecherischen Idee!« Das »Schmuddelkind« soll einen »erinnerungspolitischen Kontrapunkt« setzen und macht sich dabei alle schrillen dämonischen Vorstellungen, die man in Dresden lange vom barbarisch brutalen und herzlosen Bombenkrieg hegte, zu eigen. Es ist jetzt also fast so weit, dass man die Luftangriffe vor ihren Verteidigern in Schutz nehmen will: Die Bombenangriffe waren nie Vergeltungsaktionen für die Verbrechen des Nationalsozialismus, man wollte schlicht den Krieg gewinnen. »Wir bedauern diese Notwendigkeit«, hieß es in Flugblättern, die Briten bis Kriegsende aus der Luft abwarfen, um zu erklären, warum man beispielsweise die Zerstörung von Wohnhäusern in Kauf nahm.
Doch definitiv kommt »Schmuddelkind« zu spät. So oder so hätte das traurige Mädchen in diesem Jahr alleine weinen müssen. Denn erstmals in der Gedenkgeschichte wird es keine offizielle Trauerfeier auf dem Heidefriedhof geben. Die Begründungen dafür sind seitens der Stadt so vielfältig wie das Veranstaltungsprogramm rund um die Feierlichkeiten, das sich in seiner Gesamtheit nicht mehr sinnvoll zusammenfassen lässt: Theaterstücke, Komödien, Konzerte, Auftritte von Dresdner »Überlebenden«, Täterspaziergang, Menschenkette, Erinnerung, Frieden, Demokratie und Toleranz, das alles hält die »AG 13. Februar« in ihrem Rahmenprogramm bereit. Man habe dieses Jahr am 13. Februar auch gar keine Zeit, auf den Heidefriedhof zu gehen, heißt es von Seiten der Stadt. Vormittags spricht nämlich Bundespräsident Joachim Gauck in der Frauenkirche.

Das klingt irgendwie fadenscheinig. Hat man im Dresdner Rathaus nun vielleicht doch mitbekommen, dass man in der Vergangenheit das ein oder andere etwas einseitig betonte? Allein der Aufbau der Anlage: Das Rondell aus Sandsäulen, auf sieben stehen die Namen von Konzentrationslagern, noch mal so viele benennen Schauplätze des Bombenkriegs und mittendrin plötzlich, zwischen Conventry und Leningrad, steht »Dresden« – im Kreis der Opfer. Jahr für Jahr hat man im stillen Gedenken darüber geschwiegen, dass auch NPD-Mitglieder und andere Nazis hier mittrauerten. Jetzt sagt man, sie »missbrauchen« das Gedenken – und das ist für Dresdner Verhältnisse schon ein Fortschritt.
Die eigentliche Geschichte, die letztlich zu einer der tiefstengreifensten Veränderungen in der Dresdner Gedenkhaltung geführt hat, begann 2012 mit einem Transparent, das auf dem Heidefriedhof entrollt wurde und auf dem zu lesen war »Es gibt nichts zu trauern – nur zu verhindern. Nie wieder Volksgemeinschaft – Destroy the Spirit of Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden!« (Jungle World 6/2013) Wegen »Störung der Ruhe und Ordnung auf einem Friedhof« und »Belästigung der Allgemeinheit« wollte die Stadt den »Störer« mit einem Bußgeld von 150 Euro zur Ordnung rufen. Doch der blieb durch die verschiedenen Instanzen der sächsischen Justiz renitent und landete schließlich mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses gab ihm im August vergangenen Jahres recht. Wenn die Stadt zu einer offiziellen Gedenkveranstaltung auf den Heidefriedhof einlädt und hier auch ein politisches Zeichen setzen will, so das Urteil, lassen sich unliebsame Meinungen nicht einfach unter Berufung auf die Friedhofsordnung ausschließen. Versammlungs- und Meinungsfreiheit seien Grundrechte, die auch in Sachsen gelten.
»Sehr wenig« habe die Absage der offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem Heidefriedhof mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu tun – die Sprecherin der Stadt gibt sich keinerlei Blöße. Schon lange habe man etwas verändern wollen. Ohne offizielles Gedenken soll die »individuelle Trauer« im Schutz der Friedhofsordnung gepflegt werden. Das ist kein Wandel, sondern die einzige Möglichkeit, um sich letztlich doch unter den Konsequenzen der Meinungsfreiheit hinweg zu ducken.

So weit, so Dresden. Von Joachim Gaucks Rede in der Frauenkirche erwartet Bürgermeisterin Helma Orosz »neue Impulse« für die Gedenkkultur. Doch was wird er sagen? Die Latte liegt hoch. Der kürzliche Tod Richard von Weizsäckers, eines Amtsvorgängers Gaucks, hat dessen Rede von 1985 noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Damals sagte Weizsäcker, Deutschland sei vom Nationalsozialismus befreit worden. Das gilt heute als Binsenweisheit. Aber in Dresden hat es noch niemand gesagt. Die Luftangriffe werden hier bisher ja nicht mal als Konsequenz gedacht.
Jemand in Amt und Würden müsste mal sagen: Die notwendige Niederlage kam vor der Befreiung. Militärisch sinnvoll oder sinnlos, die Bombardierungen trafen auch Schuldige und sie waren die Konsequenz der Barbarei, die Deutschland in die Welt getragen hat. Das alles müsste Gauck sagen und wäre der erste, der in Dresden mit dem verfälschten Geschichtsbild aufräumt. Macht er wahrscheinlich nicht. Einerseits, weil es zu spät dafür ist. Der deutsche Opfermythos, der den zeitgenössischen Umweg über die Anerkennung des universellen Leidens gegangen ist, wurde im Land des Erinnerns längst assimiliert. Dresden war so gesehen schon immer Gedenken für Fortgeschrittene. Anderseits gefällt sich Gauck selbst so gut in der exaltierten Opferpose. Wir sind Auschwitz, hat er sinngemäß in seiner Rede zum Tag der Befreiung von Auschwitz gesagt. Eine Bürde der Vergangenheit, die keiner vor ihm mit so viel Stolz, Haltung und der typisch Gauck’schen Selbstgefälligkeit getragen hat. So etwas wie »Wir sind Dresden« wird er wohl am 13. Februar in der Frauenkirche sagen und ausführlich darüber sprechen, wie schwer es ist, Opfer und Täter zugleich zu sein.
Und ein Gericht müsste auch hier erst feststellen, dass rund um die Frauenkirche auch an diesem Tag das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit gilt. Anders als auf dem Heidefriedhof verlaufen die Feierlichkeiten in der Frauenkirche im wesentlichen deshalb ungestört, weil eine Bannmeile und ein riesiges Polizeiaufgebot vor unliebsamen Meinungen schützen.