Die Propaganda der Jihadisten gegen den Westen

Der Jihad kommt über das Meer

Der IS sieht Libyen als »Tor nach Europa«. Insbesondere Italien ist zum Ziel der Terrorpropaganda geworden.

Es war viel los vergangene Woche in der Meeresenge von Sizilien. Neben den vier Schlauchbooten mit afrikanischen Flüchtlingen, die in Libyen aufgebrochen waren – insgesamt mehr als 400 Menschen waren an Bord, von denen nur rund 100 lebend in Lampedusa angekommen sind –, waren auf derselben Strecke andere, schnellere Boote unterwegs. Eskortiert von der italienischen Marine und ständig aus der Luft beobachtet von einer Drohne, erreichten diese in wenigen Stunden den Hafen von Augusta an der sizilianischen Küste. Auch sie transportierten Menschen auf der Flucht: rund 100 italienische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in aller Eile Tripolis verlassen mussten. Als letztes westliches Land hat Italien die Botschaft geschlossen beziehungsweise »ihre Aktivitäten vorübergehend reduziert«, wie es offiziell heißt. Aber angesichts der Eskalation der Lage werden vermutlich auch die etwa 70 im Land verbliebenen Italiener, vor allem Angestellte des Energiekonzerns Eni, das Land bald verlassen.
Die Angst ist nicht nur in der ehemaligen italienischen Kolonie groß, sondern auch am anderen Ufer des Mittelmeers, das nur wenige hundert Kilometer entfernt ist. In den vergangenen zwei Wochen wurde Italien häufiger zum Ziel der medienwirksamen inszenierten IS-Propaganda.
Das Video der Enthauptung von 21 ägyptischen Christen an einem libyschen Strand, das am 15. Februar auf einer Website, die den IS unterstützt, erschienen war und über Twitter verbreitet wurde, war nicht nur eine – bemerkenswerterweise auf Englisch verfasste – Botschaft »an die Nation des Kreuzes«, womit die Anhänger der »feindlichen ägyptischen Kirche« gemeint waren. Auch Italien wird in dem Video von den IS-Mördern erwähnt: Kurz vor den Enthauptungen richtet einer der vermummten Jihadisten ein Messer auf die Kamera und verkündet: »Das Meer, in dem ihr die Leiche von Scheich Ussama bin Laden versteckt habt, wir schwören bei Allah, wir werden es mit eurem Blut mischen. Früher habt ihr uns auf einem syrischen Hügel gesehen, jetzt stehen wir südlich von Rom. Und das werden wir, so Gott will, erobern.« Dann richtet sich die Kamera auf das Blut der eben ermordeten Ägypter, das ins Meer fließt. Die medienwirksam inszenierte Bedrohung Europas in der Ästhetik eines billigen Horrorfilms.
Die Erwähnung Roms war nicht der einzige Bezug der Jihadisten auf Italien. Einige Tage zuvor war in einem Beitrag des IS-Internetradios al-Bayan, das aus dem nordirakischen Mossul sendet, der italienische Außenminister Paolo Gentiloni »Kreuzritter« genannt worden. Auch auf Jihadisten-Accounts in den sozialen Medien kursierten in den vergangenen Wochen Drohungen, in denen Italien als Ziel immer wieder genannt wird. Fotomontagen, auf denen die schwarze Fahne des Kalifats auf dem Petersplatz zu sehen ist, waren bereits vergangenes Jahr im IS-Magazin Dabiq veröffentlicht worden. Jüngst wurde via Twitter ein Bild verbreitet, das die wehende IS-Fahne auf dem Kolosseum zeigt. Die Nachricht dazu: »Jeder dumme Schritt wird das Mittelmeer in Brand stecken.« Schließlich meldete Rita Katz, Terrorexpertin beim Site Institute in Washington, das die Social-Media-Aktivitäten von Jihadisten auswertet, in einem Tweet vergangene Woche, der IS habe bereits unter dem Hashtag #We_Are_Coming_O_Rome mit einer Einschüchterungskampagne gegen Italien und Europa begonnen. Zwar sind unter diesem Hashtag bislang eher die sarkastischen Kommentare von Twitter-Usern aus Italien, die sich über die Drohung lustig machen, und kaum Tweets aus Jihadisten-Accounts zu finden. Doch Fakt ist: Wenn der IS in Libyen weiter an Macht gewinnt und in Nordafrika expandiert, dann ist der Jihad Europa so nah wie noch nie.

Die psychologische Kriegsführung mit Propagandavideos, in denen Italien wiederholt zum »Tor nach Europa« erklärt wird, zeigte in den vergangenen zwei Wochen Wirkung. Die Drohungen der Jihadisten lösten eine Debatte über einen Militär­einsatz in Libyen aus, nachdem Außenminister Gentiloni und Verteidigungsministerin Roberta Pinotti von einer »Kampfbereitschaft Italiens im Rahmen einer UN-Mission« gesprochen hatten. Doch die Forderung nach einer internationalen Militärintervention, für die sich insbesondere Ägypten nach der Ermordung der 21 christlichen Kopten stark gemacht hatte, sowie die von der libyschen Regierung geforderte Aufhebung des Waffenembargos wurden in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats vergangene Woche abgelehnt. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi relativierte im Laufe der vergangenen Woche die kämpferischen Aussagen seiner Minister und machte deutlich, Italien werde sich mit aller Kraft für eine diplomatische Lösung im Rahmen der Uno einsetzen.
Die Entscheidung, besondere Vorsicht walten zu lassen in der Debatte über eine mögliche von Italien geführte Militärintervention in Libyen lag vermutlich nicht nur an der Zurückhaltung der Vereinten Nationen. Eine Rolle könnten Informationen aus einem Dokument gespielt haben, das von einem unter dem Namen Abu Arhim al-Libim bekannten IS-Propagandisten verfasst wurde. Charlie Winter ist Mitglied des britischen antiislamistischen Think Tanks Quilliam Foundation, der diese Schrift mit dem Titel »Libyen: das strategische Tor für den Islamischen Staat« übersetzt hat. Am 17. Februar schrieb Winter im Daily Telegraph, in diesem inoffiziellen Papier, das nicht für Propagandazwecken verfasst worden sei, sondern der IS-internen Kommunikation und insbesondere der Rekrutierung neuer Kämpfer gedient haben soll, sei unter anderem die strategische Möglichkeit erwähnt, »die Ströme der Einwanderung über das Mittelmeer« zu nutzen, um Jihadisten »als Flüchtlinge getarnt« nach Süditalien zu transportieren.
Aus der Information fabrizierte die britische Boulevardzeitung Daily Mail die Meldung, die in den vergangenen Tagen in verschiedenen internationalen Medien zu lesen war: Der IS habe angekündigt, »500 000 Flüchtlinge gleichzeitig in hunderten Booten auf das Meer zu schicken«, um damit »Europa zu überfluten«.

Dass die Jihadisten es wirklich nötig haben, sich als Flüchtlinge zu tarnen und ihr Leben auf einem Schlauchboot zu riskieren, um den Terror nach Europa zu bringen, darf allerdings bezweifelt werden. Schließlich hat sich in Brüssel, Paris und Kopenhagen in den vergangenen Wochen und Monaten gezeigt, dass sie bereits in den europäischen Metropolen leben, bestens untereinander vernetzt sind und über Kontakte zu den Zentralen des Terrors in Syrien, im Irak und in Libyen verfügen.
Angesichts der Eskalation der Kämpfe in Libyen und der von der IS-Propaganda geschürten Angst vor einer Flüchtlingsinvasion ist zu erwarten, dass die EU sich in ihrer Abschottungspolitik bestärkt sieht. Denn wenn die Flüchtlingsboote jetzt die Jihadisten nach Europa bringen, dann sollen sie erst recht untergehen. Auch wird man dadurch die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex gerne vertretene These bestätigt sehen, allein kriminellen Schlepperbanden seien schuld daran, dass das Mittelemeer zum Meer des Todes geworden ist. Doch niemand, der die Wahl hat, setzt sich freiwillig in ein überfülltes Schlauchboot und riskiert, vom Meer verschluckt zu werden. Dass Tausende von Menschen diese Wahl nicht haben, dafür ist die EU verantwortlich.
Der Vormarsch der Islamisten in Nordafrika wird immer mehr Kriegsflüchtlinge produzieren, denen nur die Flucht über dieses Meer übrig bleibt, die tödlichste Route von allen, wie das UN-Flüchtlingswerk feststellte, dessen Angaben zufolge allein 2014 mehr als 200 000 Menschen die Überfahrt gewagt haben – dreimal so viele wie während des libyschen Bürgerkriegs 2011. Rund 3 500 von ihnen kamen im vergangenen Jahr ums Leben. Und das sind nur die offiziellen Zahlen.