Die Strategie des IS in Libyen

Erst die Käffer, dann nach Rom

Der Islamische Staat geht in Libyen mit einer ähnlichen Strategie vor wie in Syrien. Die Ausgangsbedingungen sind allerdings kaum vergleichbar.

Der »Islamische Staat« (IS) hat mit der Hinrichtung von 21 ägyptischen Christen in Libyen ein neues propagandistisches Zeichen gesetzt. »Eine Botschaft, mit Blut gezeichnet, an die Nation des Kreuzes« nannte der IS den Film dazu und drohte darin mit der Einnahme Roms. Nun zittert die Welt, dass nach Syrien und Irak auch in Libyen Region für Region an den selbsternannten Kalifen fallen könnte. Die gefilmte Tat an sich ist so feige wie grausam. Doch gerade darin liegt eine Stärke des IS. Seine Strategie funktioniert auch in Libyen, obwohl dort die Vorraussetzungen für den IS deutlich schlechter sind als in der Levante.
Libyen ist seit rund einem Jahr zweigeteilt. Antiislamistische Milizen kämpfen gegen islamistische. Die Islamisten haben sich eine eigene Regierung gewählt, die in der Hauptstadt Tripolis sitzt. Die vorher regulär gewählte Regierung ist aus der Hauptstadt nach Ostlibyen geflohen und residiert nun in Tobruk. Sie wird von den antiislamistischen Milizen, die der von Ägypten unterstützte General Khalifa al-Haftar anführt, anerkannt und geschützt.

Der IS hat bisher nur winzige Enklaven in Libyen erobert, die wichtigste darunter ist die kleine Hafenstadt Derna. Sie liegt nur 170 Kilometer von Tobruk entfernt – ein Grund für Ägypten, nun gemeinsam mit General Haftar die dortigen IS-Stellungen heftig anzugreifen. Doch auch die libyschen Islamisten jubeln keineswegs alle über die Eroberungen des IS. Ein islamistischer Kämpfer in Bengasi sagte vergangene Woche dem Wall Street Journal: »Ich wünsche mir heimlich, dass Haftar gewinnt.« Sein Feind möge siegen, weil die Jihadisten sonst jedes Dorf, das Haftar unterstützt hat, zerstören würden.
Seine Sorge mag berechtigt sein, aber zunächst muss er auch um seine eigene Miliz fürchten. Der IS wendet in Libyen eine ähnliche Strategie an wie in Syrien. Er kämpft nicht gegen den erklärten Feind, sondern nimmt erst einmal potentiellen Verbündeten Gebiete ab. Derna war, bis der IS die Stadt im Oktober einnahm, fest in der Hand der Miliz Ansar al-Sharia beziehungsweise ihrer lokalen Verbündeten der Abu-Slim-Brigade, beides al-Qaida nahestehende Gruppen. In Syrien hat diese Methode bestens funktioniert. Über ein Jahr lang nahm der IS, damals noch Isis, den Rebellen Dorf für Dorf ab, ohne eine einzige Kugel gegen die Regimetruppen von Bashar al-Assad zu verschießen. Der überwiegende Teil der Rebellen, denen der IS Gebiete abnahm, waren ebenfalls Islamisten.
In Libyen funktioniert diese Übernahme von Gebieten weitestgehend kampflos. Inzwischen sollen ganze al-Qaida-Brigaden schlicht übergelaufen sein. Das ist bemerkenswert. Denn der IS und al-Qaida befinden sich in direkter Konkurrenz. Ihre Ideologie unterscheidet sich zwar nicht nennenswert: Das Endziel ist ein allumfassendes Kalifat, aufbauend auf der grausamsten Interpretation der Sharia. Doch die Strategie ist eine andere. Al-Qaida kämpft weltweit gegen jene, die als Feinde des Islam ausgemacht werden: der Westen, Häretiker, Heiden, Dekadente und Säkulare in der islamischen Welt. Dabei bedient sich die Terrorgruppe spektakulärer Attentate und unterstützt ansonsten andere islamistische Kämpfer, wo immer sie kämpfen. Die Charlie Hebdo-Morde waren in diesem Sinne ein klassisches al-Qaida-Attentat.

Die Opfer des IS sind weniger prominent. An sie heranzukommen, ist keine große Leistung und die Auswahl der Ziele ist nicht sehr innovativ: Seit Jahren schon ermordet auch al-Qaida westliche Journalisten und massakriert Christen, zum Beispiel in Pakistan und Indonesien. Nicht dass und wen der IS mordet, ist das Besondere, sondern die Inszenierung. Während sich al-Qaida-Botschaften wie stümperhafte Laienvideos ausnehmen, sind die Filme des IS perfekt produziert und choreographiert. Vor allem zeigen sie totale Macht und Kontrolle. Das gelingt mit Effekten und Musik, aber auch durch die Gefasstheit der Opfer. Diese sind so sehr unterworfen, dass sie nicht einmal heulen und flehen. Allein das Klatschen der Wellen ist zu hören, als die ägyptischen Gastarbeiter an den Strand geführt werden. Musik setzt ein, kurz bevor die Köpfe abgeschnitten werden. Schließlich färbt sich das Meer rot. Durch Schnitt, Perspektive und Farbmischung wirkt das surreal wie ein Musikvideo oder eben so surreal, wie man sich ein Gottesurteil vorstellt.
Die machtvolle Inszenierung verdeckt, was tatsächlich ist: Der IS hat im Gegensatz zu al-Qaida noch nie wirklich versucht, »Rom« anzugreifen – im Arabischen steht »rum« für die christliche Welt. Auch ist es recht leicht und bedarf wenig Mutes, ein paar Gastarbeiter zu entführen und sie am Strand eines im Bürgerkriegschaos versinkenden Landes hinzurichten. Al-Qaida stellt sich da kompliziertere Aufgaben, wenn die Gruppe zur Weihnachtsmesse Bomben in Kirchen in halbwegs funktionierenden Staaten hochgehen lässt. Und doch konnte der IS im Oktober die Stadt Derna fast kampflos den al-Qaida-Milizen abnehmen. Die Bewohner Dernas scheinen in großer Zahl jubelnd den Machtwechsel begrüßt zu haben.

Derna ist ein Sonderfall. Aber gerade an der Besonderheit ihrer Bewohner lässt sich ermessen, was die Attraktivität des IS ausmacht. Derna ist die Hochburg islamistischer Kämpfer schlechthin. Schon unter Gaddafi stammten von hier die meisten Kämpfer der Libyschen Islamischen Kampfgruppe – einer militanten Anti-Gaddafi-Miliz, die sich vor allem aus Afghanistan-Rückkehrern rekrutierte. Eine Analyse des Terrorismusbekämpfungszentrums in West Point (USA) ergab 2007, dass unter den islamistischen Kämpfern, die an der syrischen Grenze auf dem Weg in den Irak aufgegriffen wurden, die größte Anzahl aus Derna stammte: 52 von 440 Kämpfern. Das ist umso bewerkenswerter, als Derna ein Kaff von 200 000 Einwohnern ist. Die zweitgrößte Anzahl von Kämpfern, nämlich 51, kam aus dem saudischen Riad, immerhin eine Stadt von über fünf Millionen Menschen.
Es gibt wenige Berichte über Derna. Journalisten waren in den vergangenen Jahren allenfalls auf Durchreise dort. Der »Lonely Planet« schreibt: »Schäbige Wohnblocks wuchern an der Küste und in ein hübsches Wadi. Es fällt schwer, viele Gründe zu finden, sich hier aufzuhalten.« Einer der wenigen, die sich eingehender mit der Stadt beschäftigt haben, war Christopher Stevens, der amerikanische Botschafter, der 2012 von Ansar al-Sharia ermordet wurde. Ein von Wikileaks veröffentlichter Bericht über seinen Besuch im Jahr 2008 enthüllt einen Teufelskreis aus Rebellion und Trostlosigkeit. Man brüstet sich vor Ort damit, dass Derna schon immer Widerstand geleistet habe: gegen das Osmanische Reich, gegen die italienischen Kolonialherren und gegen Gaddafi.
Gaddafi schloss wohl wegen dieses Widerstands Anfang der neunziger Jahre eine Militärbasis, was die Arbeitslosigkeit in die Höhe schießen ließ. Auch ansonsten tat er nichts mehr für die Stadt, das Bildungssystem soll weitestgehend zusammengebrochen sein. Die islamistischen Kämpfer bekam er damit nicht unter Kontrolle, stattdessen nahmen die Islamisten die Stadt immer mehr in ihren Griff. Kinos und Theater schlossen, weil die Klerikalen sie für unislamisch erklärten. Bald gab es für Jugendliche keine Angebote mehr außer denen, die die Islamisten boten.
Der Botschaftsbericht beschreibt auch das Fernsehverhalten in Derna: »Die meisten jungen Männer sahen einen Mix aus al-Jazeera, religiösen Predigten und westlichen Action-Filmen. Das Ergebnis war ein berauschendes Gemisch von Gewalt, Religion und Hass auf die US-Politik im Irak und Palästina.« Der Bericht trägt denn auch den Namen »Die Hard«, da einer der Informanten des Botschafters den von Bruce Willis verkörperten Protagonisten der gleichnamigen Filmreihe als Vorbild der jungen Männer beschrieben hatte.
Das ist die perfekte Klientel des IS, und er liefert diesen jungen Männern perfekte Inszenierungen für ihre Vorstellungswelt. Gezielt ging er daran, sie für sich zu gewinnen. Im Sommer schickte der Kalif des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, einige seiner Männer nach Libyen. Geführt von dem ehemaligen irakischen Polizisten Abu Nabil al-Anbari machten sie sich daran, junge Männer vor allem aus Derna für den Kampf in Syrien zu gewinnen. Zugleich knüpften sie Kontakte mit lokalen Jihadisten und konnten etliche Überläufer rekrutieren. Im Dezember gab dann al-Baghdadi die Losung aus, den lokalen Kampf zu beginnen.

Seitdem hat der IS vor allem versucht, Ölraffinerien und -häfen anzugreifen. Auch das entspricht der Strategie in Syrien und Irak. Es heißt, mit der Sicherung der dortigen Ölproduktion sei der IS zur reichsten Terrorgruppe der Welt geworden. Allerdings sind die libyschen Produktionsstätten weit schwerer einzunehmen. Die Felder liegen tief in der Wüste, die Raffinerien an der Küste sind größer und komplexer als in Syrien und im Irak und insbesondere der Verkauf dürfte sich schwierig gestalten. Jedes Schiff des IS, das einen libyschen Hafen verlässt, würde sofort von US- oder europäischem Militär im Mittelmeer gestoppt werden. Auch der militärische Konflikt in Libyen, von dem der IS profitieren will, hat einen anderen Charakter als der in Syrien und im Irak. Dort konnte der IS den von den jeweiligen Herrschenden angeheizten Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten bestens für seine Zwecke nutzen. Doch in Libyen gibt es nur Sunniten.
Schon seit vorigem Sommer fliegen die Vereinigten Arabischen Emirate Bombenangriffe auf Stellungen der Islamisten. Auch Ägypten unterstützt General Haftar seit längerem militärisch. Anders als in Syrien, wo der IS sich langsam ausdehnen konnte, scheinbar ohne dass die regionalen Militärmächte davon Notiz nahmen, wird er in Libyen mit jedem fußbreit Bodengewinn ganze Kontingente von Fliegerstaffeln aus den Golfstaaten aktivieren – und nach seiner direkten Drohung an die »Nation des Kreuzes« möglicherweise auch aus Europa.
Siegen kann der IS in Libyen daher nur durch Konversion. Ob er jedoch für die Libyer außerhalb Dernas und anderer Kleinstädte ein attraktives Angebot hat, bleibt fraglich. Sie brauchen keine Hilfe gegen schiitische Milizen oder einen brutalen Diktator. In ihrem Bürgerkrieg geht es eher um den Sieg über die Nachbarmiliz und die Sicherung regionaler Privilegien. Allerdings gibt es in Libyen sehr viele trostlose Käffer ohne Kinos und mit vielen Moscheen und Satellitenschüsseln.