Homegrown-Jihadismus in Dänemark

Kriminelle Konversion

Nach den jihadistischen Attentaten in Dänemark wird dort über Behördenversagen debattiert. Warum junge Dänen zu Jihadisten werden, ist nicht geklärt.

Kurz bevor er zum Mörder wurde, nahm sich Omar Abd al-Hamid al-Hussein noch Zeit für ein Statusupdate: Neun Minuten bevor er am 14. Februar die ersten Schüsse im Kopenhagener Kulturzentrum Krudttønden abfeuerte, hatte er auf seinem Facebook-Account gepostet: »Ich schwöre Abu Bakr meine Treue und werde ihm in Not und Wohlstand gehorchen.« Seither beschäftigen die dänische Öffentlichkeit zwei Fragen: Wie kann es sein, dass ein ursprünglich gut integrierter junger Mann zum Terroristen wird? Und warum wurden alle Anzeichen, dass al-Hussein Jihadist werden wollte, von den dafür zuständigen Stellen ignoriert?
Fest steht bislang, dass al-Hussein wohl spätestens während eines Gefängnisaufenthalts radikalisiert wurde. Nach einem bewaffneten Überfall auf einen jungen Mann in einer S-Bahn im November 2013 war er am 19. Dezember vergangenen Jahres zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, die Staatsanwaltschaft hatte allerdings Berufung eingelegt, weil sie eine höhere Strafe erreichen wollte. Das Landgericht verfügte Ende Januar jedoch schriftlich und ohne vorherige Anhörung seine Freilassung, weil er unter Anrechnung der Untersuchungshaft insgesamt ein Jahr und eine Woche im Gefängnis verbracht und damit die in Dänemark geltende Mindeststrafdauer erreicht hatte.

Zunächst hatte alles so ausgesehen, als habe der dänische Inlandsgeheimdienst PET versagt. Die dem Innenministerium unterstellte Behörde Kriminalforsorgen, die für die Gefängnisaufsicht und Resozialisierung zuständig ist, hatte in einem Bericht vermerkt, dass al-Hussein Anzeichen dafür zeige, zum Jihadisten zu werden. Die öffentliche Empörung über das scheinbare Versagen des PET dauerte jedoch nicht lange, denn einige Tage nach den Terroranschlägen wurde bekannt, dass Kriminalforsorgen die PET über den Entlassungstermin von al-Hussein am 30. Januar nicht informiert hatte. »Præventive samtaler«, also Gespräche mit dem 22jährigen mit dem Ziel, ihm klarzumachen, dass er unter Beobachtung stehe, sowie Überwachungsmaßnahmen gab es daher nicht.
Dazu kommt offenbar eine lange Kette behördlichen Versagens. Die PET hatte die Information, dass al-Hussein möglicherweise zum radikalen Islamisten geworden sei, weder an die Staatsanwaltschaft noch an die Kopenhagener Polizei weitergegeben, weswegen die Polizeibehörden ihrerseits die PET nicht über die bevorstehende Freilassung informierten. Karin Thostrup, Chefanklägerin der Kopenhagener Polizei, sagte dazu: »Wir hatten keinerlei Anhaltspunkte, dass dieser Vorgang so relevant gewesen wäre, dass die PET darüber hätte unterrichtet werden müssen.« Ähnlich äußerte sich auch Lise-Lotte Nilas von der Kopenhagener Staatsanwaltschaft.
Al-Hussein tötete den Filmemacher Finn Nor­gaard sowie den Wachmann einer Synagoge und verletzte mehrere Menschen. In einer Pressemeldung der PET nach den Attentaten hieß es, dass man zwar »im September 2014« eine Nachricht von Kriminalforsorgen erhalten habe, diese Meldung aber »keinen Grund zur Annahme« geliefert habe, dass der 22jährige »einen Angriff plane«; außerdem habe man vor den Anschlägen keinerlei geheimdienstliche Erkenntnisse gehabt, dass ein Terrorakt bevorstehe.
Dieses Versagen aller involvierten Stellen sei schon erstaunlich, denn eigentlich hätte es nur eines Vermerks im Kriminalregister bedurft, damit diverse Behörden über alles, was mit einer inhaftierten Person geschieht, inklusive ihrer Freilassung, informiert werden, stellte Hans Jørgen Bonnichsen, ehemaliger operativer Leiter der PET, gegenüber der Zeitung Politiken klar. »So einfach wäre das gewesen.«

Dabei hatte die PET schon länger davor gewarnt, dass der medienwirksame Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) zum größten Sicherheitsrisiko für Dänemark seit dem Zweiten Weltkrieg führen werde. Mindestens 100 junge dänische Muslime sind bereits in den Jihad gezogen. Nach einer Analyse von Politiken weisen die dänischen Jihadisten diverse Gemeinsamkeiten auf: Sie sind alle in Dänemark aufgewachsen, unter 35 Jahre alt und leben in Kopenhagen und Aarhus. Viele kommen aus dysfunktionalen Familien, die jedoch nicht auf Sozialhilfe angewiesen, sondern finanziell gut gestellt sind. Ann Sophie Hemmingsen, Expertin für Radikalisierung am Dansk Institut for Internationale Studier, sagte dazu: »Diese jungen Männer sind mitten in der dänischen Gesellschaft, deswegen können wir nicht anderen die Verantwortung für ihr Handeln geben.«
Ähnliches traf auch auf al-Hussein zu. Trotz der Scheidung seiner Eltern hatte er eine gute Beziehung zu ihnen, die Familie galt als gutsituiert, er sprach fließend Dänisch und hatte zunächst keine Probleme in der Schule, bis er sich plötzlich nicht mehr für den Unterricht interessierte. Stattdessen hing er mit Gangs ab – was ebenfalls typisch für die dänischen Jihadisten zu sein scheint. Der PET zufolge hatten sie noch etwas gemeinsam, nämlich »Kontakte zum kriminellen dänischen Milieu«. Dass inhaftierte junge Männer sich während ihrer Zeit im Gefängnis zu Jihadisten entwickelten, sei nicht ungewöhnlich, berichtete der frühere PET-Chef Bonnichsen in einem Interview mit dem dänischen Fernsehsender TV 2. Es gebe viele Präzedenzfälle von internationalen Terroristen, die erst in der Haft auf den Jihadismus kamen. »Im Gefängnis haben die jungen Männer viel Zeit zu träumen. Da kann es sehr verlockend sein, sich Phantasien darüber hinzugeben, wie es wäre, wenn man Kämpfer im heiligen Krieg wäre«, so Bonnichsen. Er verwies auf den sogenannten Schuhbomber Richard Reid, der im Dezember 2001 versucht hatte, ein Flugzeug auf dem Weg von Paris nach Miami zu sprengen. Als junger Kleinkrimineller war der Brite Reid zum Islam konvertiert, ließ sich schließlich in Jihad-Trainingslagern in Pakistan und Afghanistan ausbilden und wurde dort Mitglied von al-Qaida.

Auch eines der bekanntesten Gangmitglieder Dänemarks war in den »heiligen Krieg« gezogen: »Store A« (großes A), der Anführer der Blågårds-Plass-Bande, einer nach dem Platz im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro benannten Gang, die unter anderem in die sogenannten Rockerkriege zwischen dänischen Hells Angels und Bandidos involviert war. Store A wurde 1973 in Dänemark geboren, seine Eltern waren Anfang der siebziger Jahre aus Marokko eingewandert. Seine kriminelle Karriere begann mit diversen, teils bewaffneten Überfällen. 2002 wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er insgesamt 188 Kilo Haschisch verkauft haben soll. 2008 stand Store A erneut vor Gericht, diesmal wegen einer Tat, die in Dänemark großes Aufsehen erregte. In Polen soll er einen Auftragskiller besorgt haben, um gleich fünf Konkurrenten aus der Kopenhagener Kriminellenszene umzubringen. Das Gerichtsverfahren wurde schließlich mangels Beweisen eingestellt, nachdem ein Kronzeuge gleich mehrmals seine früheren Aussagen revidiert hatte.
2012 machte Store A abermals Schlagzeilen. In einer Fernsehdokumentation mit dem Titel »Fra bandekrig til jihad« (Vom Bandenkrieg zum Jihad) wurde er gezeigt, wie er in Syrien auf Seiten der islamistischen Gruppe Ahrar al-Sham kämpfte. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg wurde Store A zum Präventionsgespräch mit der PET geladen, das allerdings keinerlei Erfolg zeitigte. Am 3. April 2014 wurde er erneut verurteilt, diesmal weil er einer Frau, die er überfallen hatte, nicht nur mehrmals ein Messer in den Körper gerammt, sondern dazu der am Boden Liegenden ins Gesicht getreten hatte. Er wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, über seinen jetzigen Aufenthaltsort ist nichts bekannt.