Rundum versorgt

Die Schule, an der ich Lehrerin bin, arbeitet im gebundenen Ganztagsbetrieb. Laut dem »offiziellen Hauptstadtportal« der Stadt Berlin bedeutet das, dass bei uns der Unterrichtsstoff »nicht mehr bis mittags komprimiert durchgezogen« wird, sondern »entsprechend der unterschiedlichen Lern- und Leistungskurven der Schüler«. Die täglich mit Hilfe des Lern- und Leistungskurvengenerators erhoben werden, einer Maschine mit vielen kleinen Lämpchen, die »Bing!« macht, ­bevor sie Stundenpläne für alle ausspuckt? Glücklicherweise müssen sich die Verfasser jenes Portaltextes um derlei Details keine großen Gedanken machen, das ist nämlich das Gute daran, wenn man Werbetexter ist.
Irgendwelche unterschiedlichen Kurven der Lernenden bleiben zumindest an meiner Schule bei der Organisation des Ganztagsbetriebes unberücksichtigt, es bekommen einfach alle im jeweiligen Klassenverbund, dem sie nach vollkommen kurvenunabhängigen Kriterien wie Alter, Zufall und Anzahl der wiederholten Klassenstufen zugeordnet sind, den Unterricht, den der Stundenplan für diese Klasse vorsieht. Der Unterschied zur Halbtagsschule besteht darin, dass das Ganze sich ein wenig in die Länge zieht, in der Regel bis vier Uhr nachmittags. Zwischendrin gibt es eine einstündige Mittagspause mit lustigen sozialpädagogischen Angeboten und einmal die Woche dürfen die Schülerinnen und Schüler nachmittags ihre Kreativität in Arbeitsgemeinschaften ausleben. Diese Angebote rufen bei den Jugendlichen der unteren Klassenstufen einen fast schon beängstigenden Enthusiasmus hervor, während die alten Hasen der 9. und 10. Klassen die Angebote immerhin großmütig tolerieren – sind sie doch auf jeden Fall besser als die Alternative: Fachunterricht.
Denn dass der Stoff nicht mehr »bis mittags durchgezogen« wird, bedeutet ja nicht, dass er nicht durchgezogen würde, natürlich wird er durchgezogen, dafür ist er schließlich da. Und wenn’s nicht anders geht, dann ziehen wir ihn halt nachmittags durch, zwischen zwei und vier Uhr, bis Blut spritzt! Selbstverständlich können um die Uhrzeit auch Schülerinnen mit geradezu vorbildlichen Lern- und Leistungskurven überhaupt nichts mehr, rich­tiger Unterricht findet also eher nicht statt, aber immerhin sind die Kinder betreut, bis die Eltern von der Arbeit kommen. Die Grundidee war natürlich schon nett: Die Kinder lernen schön in der Schule Bruchrechnen statt auf der Straße Drogendealen und mehr Zeit in der Schule gleicht elegant die Bildungsunterschiede der Elternhäuser aus. Nur, wer jemals versucht hat, freitags in der 9. Stunde Mathematik in einer Mittelstufenklasse zu unterrichten, weiß, dass es Situationen gibt, in denen Jugendliche auf der Straße einfach besser aufgehoben sind als in der Schule – mehr Drogen, dafür überhaupt keine Leistungskurven. Klingt doch gut.