Die Vorwürfe gegen den hessischen Verfassungsschutz im NSU-Prozess

Hessischer Spätzünder

Es hat lange gedauert, bis in Hessen ein parlamentarischer NSU-Untersuchungsausschuss eingerichtet wurde. Das lag auch am geringen Aufklärungsinteresse der schwarz-grünen Landesregierung. Nun werfen neue Erkenntnisse die Frage auf, ob der hessische Verfassungsschutz Hinweise auf den NSU-Mordanschlag im April 2006 in Kassel hatte – und welche Rolle Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) als damaliger Innenminister bei den Ermittlungen und bei der späteren Aufarbeitung spielte.

Nach neun Monaten zäher Vorbereitung hat der NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags endlich seine Arbeit aufgenommen. Das Gremium soll das Verhalten der hessischen Sicherheitsbehörden nach dem vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) 2006 in Kassel verübten Mord an dem Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat untersuchen – eigentlich. In den ersten öffentlichen Sitzungen werden jedoch erst einmal sogenannte Sachverständige vernommen, die Einschätzungen über die rechtsextreme Szene abgeben.

Doch manche der »Experten«, die vor dem Untersuchungsausschuss sprechen, helfen nur bedingt, Licht in das Dunkel zu bringen: So ist der von CDU und Grünen geladene ehemalige Abteilungsleiter des Bundesamts für Verfassungsschutz, Rudolf van Hüllen, eigentlich ein Experte für Linksextremismus, der vor dem Ausschuss wenig zur rechtsextremen Szene sagen kann. Und auch sein Kollege Jürgen Leimbach vom hessischen Landesamt für Verfassungsschutz trägt nur wenig zur Aufklärung bei.
So widerspricht Leimbach der Einschätzung der ebenfalls als Sachverständige geladenen und auf Rechtsextremismus spezialisierten Journalistin Andrea Röpke, die die Ansicht vertritt, der NSU habe sich bei dem Mord in Kassel auf Unterstützernetzwerke verlassen können. »Der Tatort Kassel war kein Zufall«, so Röpke. Leimbach zufolge, der stellvertretender Leiter der Abteilung »Inlandsextremismus« ist, gibt es jedoch in ganz Nordhessen, also auch in Kassel, gar keine konstanten, organisierten rechtsextremen Strukturen. Überhaupt gewinnt man bei Leimbach den Eindruck, Nazis würden um Hessen einen großen Bogen machen. Dabei gab es bis zum Verbot im Jahr 2 000 die »Blood & Honour«-Sektion Nordhessen, die auch nach ihrem Verbot noch aktiv gewesen sein soll. Über die hatte Leimbach jedoch ebenso wenig zu sagen wie über die »Oidoxie Streetfighting Crew« aus Dortmund, die enge Beziehungen zur nordhessischen Naziszene, insbesondere zur Kasseler Neonazikameradschaft »Sturm 18« unterhielt.

Neben der Verharmlosung des rechtsextremen Potentials in Hessen macht sich der Verfassungsschützer für den Einsatz von V-Leuten stark, den er durchweg als positiv bewertet. Dieser sei nach wie vor das »Mittel erster Wahl«, um an valide Informationen zu gelangen. Welche Informationen das sein sollen und wie zuverlässig diese sind, bleibt auch nach der Befragung unklar. Nicht zuletzt, weil Leimbach kritischen Fragen mit Verweis auf seine begrenzte Aussagegenehmigung aus dem Weg geht. Das sorgt nicht nur auf den Zuschauerrängen für Unmut, von wo aus immer wieder der Ruf nach lückenloser Aufklärung laut wird.
Eine lückenlose Aufklärung ist bislang jedoch schwierig, dem Ausschuss fehlen auch neun Monate nach Beginn seiner Arbeit immer noch große Teile der Akten. Einige Dokumente wurden den Abgeordneten erst kürzlich übergeben und sind daher noch nicht ausgewertet. Allerdings hat der Untersuchungsausschuss durchaus noch Zeit, die Unterlagen zu sichten, schließlich sind die ersten fünf Termine allein für die Anhörung der Sachverständigen vorgesehen. Danach werden erst einmal Politiker aus dem Bundestag und dem Thüringer Landtag eingeladen, die über Erkenntnisse der dortigen Untersuchungsausschüsse berichten sollen. Über den weiteren Terminplan sind sich die Abgeordneten immer noch nicht einig. Bis die ersten Zeugen im Untersuchungsausschuss befragt werden, kann es also noch eine Weile dauern.
Dass der hessische Untersuchungsausschuss nur langsam vorankommt, überrascht angesichts des geringen Aufklärungsinteresses der schwarz-grünen Landesregierung kaum. Schließlich war Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) zum Zeitpunkt des Kasseler NSU-Mordes Innenminister des Landes und somit oberster Dienstherr der hessischen Sicherheitsbehörden, für Versäumnisse und Fehleinschätzungen trägt er die politische Verantwortung. Nach neuen Erkenntnissen aus dem NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht steht sogar die Frage im Raum, ob Bouffier in seiner Zeit als Innenminister möglicherweise den Fortgang der NSU-Mordserie in Kauf genommen oder deren Aufklärung behindert hat.
Auch die hessischen Grünen haben, seit sie mit der CDU regieren, kein Interesse an weiterer Aufklärung. Während die anderen NSU-Ausschüsse einstimmig beschlossen wurden, haben in Hessen weder die Grünen noch die CDU für die Einsetzung des Ausschusses gestimmt. Den hessischen Grünen reichen die Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags völlig aus, weshalb sie nicht unbedingt mit ausgeprägtem Aufklärungswillen brillieren. »Mir ist noch nicht klar, wie wir mit denselben Zeugen und denselben Akten zu neuen Erkenntnissen kommen sollen«, sagt Jürgen Frömmrich, der für die Grünen im Ausschuss sitzt.

Dabei gibt es nicht nur jede Menge neuer Fragen, sondern auch neue Akten und Zeugen. So wurden vom NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags lediglich vier Zeugen aus Hessen geladen. Weder der für den Kasseler Mord zuständige Staatsanwalt noch die Führungsebene des hessischen Verfassungsschutzes, wie etwa die direkte Vorgesetzte des Verfassungsschützers Andreas Temme, der sich während des Mordes am Tatort aufhielt, sind dort befragt worden. Auch Temmes V-Mann aus der rechten Szene, der kurz vor dem Mord mit ihm telefonierte, wurde nicht befragt. Neben einer möglichen Einbindung hessischer Nazis ins Unterstützungsnetzwerk des NSU geht es vor allem um die Rolle der Behörden. »Man muss sehr ernst die Frage stellen, ob die Mord- und Terrorserie hätte gestoppt werden können, wenn sich die Beteiligten anders verhalten hätten«, betont Hermann Schaus, der als Obmann der Linkspartei im Ausschuss sitzt.
Diese Frage gewinnt angesichts der neuen Erkenntnisse zum Kasseler NSU-Mord enorm an Brisanz. Als am 6. April 2006 der 21jährige Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat vom NSU erschossen wurde, war auch der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme am Tatort – angeblich rein zufällig und ohne dienstlichen Bezug. Auf den Zeugenaufruf der Polizei meldete er sich nicht, erst zwei Wochen nach der Tat konnte er über Verbindungsdaten des von ihm genutzten Computers identifiziert werden. Nicht nur, dass daraufhin der damalige Innenminister Bouffier behauptete, er habe davon erst aus den Medien erfahren, obwohl er schon Wochen zuvor über den Fall informiert worden war. Durch eine Sperr­erklärung, die er für die Quellen erlassen hatte, verhinderte er zudem eine Vernehmung von Benjamin Gärtner, einem V-Mann Temmes.

Gärtner, dessen Name auf einer Liste der Bundesanwaltschaft mit mutmaßlichen Mitgliedern oder Unterstützern des NSU steht, telefonierte am Tag des Mordes zweimal mit Temme. Eines dieser Gespräche fand nur eine Stunde vor dem Mord an Yozgat statt und wurde den Ermittlern von Temme verschwiegen. Zudem telefonierte Temme im Juni 2005 an genau den Tagen mit Gärtner, an denen die NSU-Morde in Nürnberg und in München stattfanden. Und jedes Mal war sein V-Mann zur Tatzeit in der Stadt, in der die Morde stattfanden. Dennoch verweigerte Bouffier den Ermittlern den Zugang zu Gärtner, zum »Wohl des Landes Hessen«. Das ist umso brisanter, als vorige Woche bekannt wurde, dass die Anwälte der Nebenklage im Münchner NSU-Prozess neue Beweisanträge eingebracht haben, die nahelegen, dass Temme vorab Kenntnisse über das Mordgeschehen hatte.
Temme, der angab, von dem Mord an Yozgat nichts mitbekommen zu haben, galt bei der Polizei zunächst als Tatverdächtiger, weshalb sein Telefon abgehört wurde. Die Anwälte der Familie Yozgat haben nun die Telefongespräche ausgewertet, die Temme zwischen April und September 2006 führte. In einem Telefonat mit dem Geheimschutzbeauftragten des Verfassungsschutzes soll dieser zu Temme gesagt haben: »Ich sag ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.« Dieser Satz, der in der Polizeiabschrift des Telefonats nicht enthalten ist und sich nur auf dem Originalmitschnitt befindet, legt nahe, dass der Verfassungsschützer bereits vor dem Mord an Halit Yozgat von der geplanten Tat wusste und von Kollegen gedeckt wurde.
Es gibt also genug zu tun für den hessischen Untersuchungsausschuss. Der Frage, wie viel Temme, der in dem Dorf, aus dem er stammt, den Spitznamen »kleiner Adolf« hatte, von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Tatopfer und den Tätern wusste, muss ebenso nachgegangen werden wie den Fragen, was der hessische Verfassungsschutz über die NSU-Morde gewusst und was er den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit verschwiegen haben könnte und ob dies auch von der politischen Spitze mitgetragen wurde. Die Vorlage der Abhörprotokolle wurde bereits beantragt, »es wäre nur schön, wenn der Untersuchungsausschuss jetzt etwas zügiger arbeiten würde und wir möglichst schnell zur Vernehmung der relevanten Zeugen kommen«, so die Obfrau der SPD, Nancy Faeser.