Der Dokumentarfilm »An der Seite der Braut«

1000 Dollar, um zu sterben

Der Dokumentarfilm »Io Sto con La Sposa« erzählt von einer inszenierten Hochzeit und einer Reise durch die Festung Europa.

Ein Dokumentarfilm und gleichzeitig eine politische Aktion, eine echte und phantastische Geschichte zugleich.« So beschreiben Gabriele del Grande, Khaled Soliman al Nassiry und Antonio Augugliaro ihren Film »Io Sto con La Sposa«, dessen deutscher Verleihtitel »An der Seite der Braut« lautet. Der viertägige Trip quer durch Europa, bei dem die Filmemacher im November 2013 rund 3 000 Kilometer zurückgelegt haben, um fünf Kriegsflüchtlingen aus Syrien zu ermöglichen, in Schweden Asyl zu beantragen, ist auch ein Akt des zivilen Ungehorsams.
Die Protagonisten dieser Geschichte sind Ahmad Abed und seine Ehefrau Mona al-Ghabra, Alaa al-Din Bjermi und sein 12jähriger Sohn Manar sowie Abdallah Sallam, ein junger Student aus Damaskus. Sie lernen sich erst in Ita­lien kennen, das sie alle auf demselben Weg erreicht haben, über das Mittelmeer, erste Station: Lampedusa. Wie für die meisten Menschen, ganz egal, ob sie vor Krieg, politischer Verfolgung oder Armut fliehen, ist Italien auch für sie nur ein Transitland. Sie wollen weiter nach Schweden, wo viele syrische Flüchtlinge seit 2013 unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen bekommen. Aber das europäische Asylsystem macht die Reise dorthin für Leute, die den falschen Pass oder gar keinen haben, unmöglich.
Del Grande, der sich als Journalist seit Jahren mit den Themen Flucht und Migration beschäftigt, wollte das Unmögliche möglich machen und so erfand er, gemeinsam mit seinen Komplizen, wie er sie nennt, die fiktive Geschichte, um die es in diesem Film geht. Mit weiteren 20 Personen aus ihrem Freundeskreis, als Hochzeitsgesellschaft verkleidet, schaffen sie es bis nach Schweden. Die Maskerade soll als Tarnung dienen, um die fünf Syrer durch Italien, Frankreich, Deutschland und Dänemark bis nach Schweden »unauffällig« zu schleusen. In Wirklichkeit ist die bunte Truppe alles anderes als unauffällig, aber genau darin besteht der Trick, denn: »Welcher Polizist würde die Gäste einer Hochzeitsfeier nach ihren Papieren fragen?«
Zu Beginn der Crowdfunding-Kampagne für das Filmprojekt im vergangenen Jahr beschrieb del Grande im Interview mit der Jungle World (22/2014), wie die Idee entstanden ist. Begonnen habe das Ganze nicht mit dem Plan, einen Film zu drehen. »Zunächst wollten wir nur unseren Freunden helfen«, erzählte er. »Kha­led und ich gingen oft zum Mailänder Hauptbahnhof, der mittlerweile zur Anlaufstelle für viele Syrer geworden ist, wir wollten diese Leute kennenlernen.« Dort trafen sie dann Abdallah, der während der Reise die Rolle des Bräutigams übernimmt, und haben so von seinem Plan erfahren, nach Schweden zu kommen.
Abdallahs Geschichte ist eine, die den meisten, die am Mailänder Hauptbahnhof festsitzen, bekannt sein dürfte. Er ist ein Überlebender des Schiffsunglücks, bei dem am 11. Oktober 2013 mindestens 250 Menschen vor Lampedusa starben. Der junge Syrer hatte nicht nur das Glück, lebend an Land zu kommen, sondern auch, dass er aus dem Identifikationszentrum fliehen konnte, bevor seine Fingerabdrücke genommen wurden. Abdallah schaffte es dann nach Mailand und landete am Hauptbahnhof, wo er nach dem Gleis suchte, von dem der »Zug nach Schweden« fährt. Dort gibt es aber keinen Zug nach Schweden. Es gibt, wenn man das nötige Geld hat, Schlepper, die sich die Fahrt quer durch Europa in Bussen und LKW teuer bezahlen lassen, ihre Fahrgäste dann in der Schweiz oder in Österreich absetzen und ihnen erzählen, sie seien schon in Schweden. Oder es gibt eben »drei Wahnsinnige«, wie del Grande sagt, die aus einer zunächst nur halb ernst gemeinten Idee einen kriminellen Plan werden lassen.
Der spektakulärste Grenzübergang dieser Reise erfolgt in Grimaldi Superiore, einem kleinen Dorf an der italienisch-französischen Grenze. Hier geht die gesamte Truppe, fein für die Fake-Hochzeit herausgeputzt, samt Braut im weißen Brautkleid, zu Fuß über den »Todespass«, einen Bergpfad, den Schmuggler und Partisanen benutzt haben, als es die EU noch nicht gab.
Hier gibt es eine Bauruine, in der sich offenbar viele Flüchtlinge aufhalten und auf die Schlepper warten, um weiter nach Norden zu kommen. Viele von ihnen haben ihre Namen und Sprüche in verschiedenen Sprachen an die Wände geschrieben. Lebenszeichen, hinterlassen von Überlebenden wie Abdallah, der hier an seine toten Mitreisenden, die mit ihm im Boot nach Lampedusa saßen, erinnern will. Während er mit schwarzer Kreide die Namen an die Wand kritzelt, schildert er, wie er in der Nacht des Unglücks überlebt hat: »Sie hatten mich auf das Boot zurückgeholt und dann fingen sie an, Leichen über mich zu werfen. So lag ich eine Stunde lang. Ich war nicht ertrunken, aber ich wäre fast unter den Leichen erstickt.«
Jeder der Protagonisten dieser Reise erzählt seine Geschichte, die meistens eine tragische ist, auf seine eigene Art. Manchmal geschieht dies unerwartet, etwa während einer Feier, nachdem die französische Grenze passiert worden ist, wenn der kleine Manar, der sich für einen großen Rapper hält, plötzlich zum Mikrophon greift und im Freestyle mit dem unvermeidlichen Palästina-Kitsch seine Geschichte von Flucht und Vertreibung erzählt.
Oder wenn Ahmad in Bochum in einer wütenden Rede die zynische Realität der europäischen Flüchtlingspolitik mit der Frage auf den Punkt bringt: »Wie kann es sein, dass jemand 1 000 Dollar bezahlt, um zu sterben?« Tasneem, die vermeintliche Braut, erzählt während einer der langen Autofahrten vom alltäglichen Leben unter den Bomben in Damaskus und davon, wie schwer es ihr gefallen sei, Syrien zu verlassen, obwohl sie dort nichts mehr hatte. »Auch jetzt, in diesem Moment, wäre ich lieber in Syrien«, sagt sie, obwohl sie einen deutschen Pass hat und legal in Europa leben kann.
Tasneem, Ahmad, Abdallah und die anderen Protagonisten sind nicht die klassischen talking heads, wie man sie aus traditionellen Dokumentarfilmen kennt. Sie sind handelnde Figuren, die keinem festen Script folgen: »Wir haben uns Settings überlegt, in deren Rahmen die Figuren frei sprechen und sich frei bewegen konnten«, schreiben die Regisseure zum hybriden Charakter ihres Films, der an manchen Stellen Elemente von Dokufiction und Scripted Reality aufweist und dennoch etwas Eigenes darstellt. Obwohl hier eine erfundene Geschichte erzählt wird, bleibt die Realität stärker als die Fiktion, und das merkt man daran, dass in diesem Film eigentlich nicht viel passiert. Die teilweise übertriebene Ästhetik ist die eines abenteuerlichen Road Movies, in dem jedoch keine rasenden Verfolgungsjagden und spek­takulären Wendungen vorkommen. In dieser Diskrepanz liegt vielleicht die einzige große Schwäche des Films.
Eigentlich war es nicht nötig, so viel Unterhaltung zu versprechen. Die Brisanz dieses Projektes liegt weniger in der filmischen Qualität, sondern in dem politischen Statement. Neben den fünf Protagonisten agiert hier ein Netzwerk aus Personen im Hintergrund: Es sind die vielen Helfer, die ihre Häuser und Autos zur Verfügung gestellt haben, die für die Reisenden gekocht und mit ihnen gesungen und getanzt haben. Leider erfährt man im Film zu wenig über diese Menschen, was vermutlich auch juristische Gründe hat. Denn sie haben das Risiko in Kauf genommen, wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angezeigt zu werden. Darüber wird im Film gelacht: »Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist, dass du nach Italien zurückgeschickt wirst, wir dagegen landen alle im Knast«, scherzt Khaled, als Abdallah kurz vor der deutschen Grenze nervös wird.
»Io Sto con La Sposa« kann als eine ungewöhnliche Migrationsgeschichte mit Happy End gesehen werden. Aber der Film will auch eine Aufforderung sein, antirassistische Solidarität praktisch werden zu lassen. Aus dem Slogan »Kein Mensch ist illegal« wird hier »Wir sind alle illegal«. Die Geflüchteten und ihre Helfer in diesem Film zeigen, dass es sich lohnt.

»Io Sto con La Sposa« (I, 2014) – Filmvorführung und Gespräch mit Gabriele del Grande (Journalist und Regisseur), Karl Kopp (Pro Asyl), Women in Exile. Moderation: Stefanie Kron (Jungle World). Kino FSK, 8. März 2015, um 15 Uhr