Das neoosmanische Fieber und andere neoimperiale Projekte

Aus alt mach neu

In der Türkei, im Iran und im »Islamischen Staat« wird an der Wiederherstellung untergegangener Imperien gearbeitet.

Äußerungen wie die der AKP-Politikerin Tülay Babuşcu, die anlässlich des Ankara-Besuchs von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas erklärte, das osmanische Reich sei nun, nach einer 90jäh­rigen Pause, wieder auferstanden, sind inzwischen keine bizarren Randerscheinungen mehr in der Türkei, sondern Ausdruck eines neuen Zeitgeistes. Zerschlagen worden sei das Osmanenreich ausgerechnet deshalb, weil es sich damals geweigert habe, das Land Palästina herauszugeben, führte sie weiter aus, um ihrer Aussage auch noch den nötigen antisemitischen Spin zu geben.
Die AKP befindet sich derzeit in einer Art neo­osmanischem Fieber. Gleich mehrere ihrer Kandidaten ziehen mit Plakaten in den Wahlkampf, auf denen sie sich in osmanischen Phantasiekostümen ablichten lassen. Kaum eine Rede von Präsident Recep Tayyip Erdoğan oder den Seinen ist nicht gespickt mit Anspielungen auf die große Vergangenheit des Landes, die zugleich auch ein Versprechen für die Zukunft namens »neue Türkei« sei.

Indem sie eine Vergangenheit verklärt, die für den Gründer der Republik, Mustafa Atatürk, religiöse Borniertheit, Rückschritt und Reaktion verkörperte, zielt die islamistische AKP ganz bewusst auf die Überwindung der modernen Errungenschaften dieser Republik. Zugleich möchte Erdoğan die »neue Türkei« in eine politische und religiöse Führungsmacht der sunnitisch-muslimischen Welt verwandeln. Bislang allerdings stoßen seine pompösen Selbstinszenierungen, wie er als neuer Padischah, flankiert von Leibgardisten in mittelalterlichem Mummenschanz, seinen Untertanen dekretiert, fortan in Schulen wieder die osmanische Sprache zu lernen, in der Region nur bedingt auf positive Resonanz. Nicht etwa, weil sein Traum von der Wiedererrichtung eines neuen, alten Reichs nicht von anderen geteilt würde, steht der türkische Präsident derzeit recht einsam da, sondern weil die Konkurrenz ganz ähnliche Ziele verfolgt.
Denn auch in Raqqa, der Hauptstadt des IS-Terrorkalifats, ebenso wie in Teheran, arbeitet man mit Hochdruck an der Wiederherstellung untergegangener Imperien, sei es das arabische Kalifat oder das persische Weltreich. Untereinander mögen sich die neuen Reichsgründer im Krieg befinden, weltanschaulich herrscht unter ihnen Einigkeit, dass die alte globale Ordnung, die der Westen, allen voran die USA und Israel, der Welt angeblich zu ihrem Unheil diktiert habe, nun an ihr Ende gekommen und dem Untergang geweiht sei.

Grübeln Experten in westlichen Hauptstädten noch, ob es dem Iran, der Türkei oder auch Russland nicht vor allem um »legitime Sicherheitsinteressen« gehe und wie im Nahen Osten, der droht, zu einer einzigen failed region zu werden, entlang ethnischer oder konfessioneller Grenzen neue Staaten geschaffen werden könnten, denkt und plant man in Westasien längst wieder in imperialen Großräumen.
Mit unterschiedlichem Erfolg: Während Erdo­ğans neoosmanisches Projekt bislang wenig außenpolitische Erfolge vorzuweisen hat und vor allem massive Repression im Inneren legitimiert, expandiert der Iran mit atemberaubender Geschwindigkeit in der Region.
Die bisherigen Misserfolge der AKP liegen wohl nicht nur an einer tief gespaltenen Gesellschaft, in der sich viele weiterhin der »alten« türkischen Republik verbunden fühlen, sondern auch an der Konkurrenz des »Islamischen Staats«, der, wenn auch ungleich brutaler, nahezu identische Ziele verfolgt: die Schaffung einer sunnitisch-islamisch dominierten Großmacht. Weil die Türkei sich weigert, der von den USA angeführten Koalition gegen den IS beizutreten, muss sie sich international den Vorwurf gefallen lassen, es insgeheim mit den Jihadisten zu halten. Auch kann sie sich, anders als die Mullahs in Teheran oder Wladimir Putin, nicht als Vorkämpfer gegen den Terrorismus inszenieren.
Diesen propagandistischen Vorteil nutzen der Iran – wie auch Russland – geschickt für seine Ziele aus. Im Zuge des neuen »War on Terror«, der sich ausschließlich gegen den IS richtet, während der Iran, schiitische Milizen und die Hizb­ollah vom Westen de facto als Verbündete behandelt werden, hat die Islamische Republik die direkte Kontrolle über große Teile der Region übernommen. Wie ein Berater des religiösen Führers Ali Khamenei prahlt, herrsche der Iran inzwischen in vier arabischen Hauptstädten. Das iranische Einflussgebiet reicht mittlerweile von Afghanistan im Osten bis an die Grenze des Roten Meers. Zu Recht warnte deshalb der ehemalige Bürgermeister New Yorks, Rudolph Giuliani, die US-Regierung, dass, sollte sie weiter mit Teheran kooperieren, ein Sieg über den IS mit der Entstehung eines neuen iranischen Imperiums im Nahen Osten einhergehen werde. Ein alter iranischer Traum scheint zum Greifen nahe: Ali Khamenei, der als islamischer Darius über ein persisch-schiitisches Großreich herrscht.
Obamas Regierung scheint teilweise dieser Vorstellung sogar etwas abzugewinnen und zu hoffen, der Iran könne dann der Region die so ersehnte Ruhe und Stabilität bringen. Wie dies mit einem hochaggressiven islamistischen Regime, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung Israels und ein Sieg über die imperialistischen Mächte – gemeint sind natürlich die USA und andere west­liche Staaten – sind, funktionieren soll, bleibt ihr Geheimnis. Denn die imperialen iranischen Ambitionen stoßen nicht nur auf den erbitterten Widerstand der sunnitischen Konkurrenz – und sunnitische Araber stellen nun einmal die Mehrheit der Bevölkerung im Nahen Osten –, auch Israel wird wohl kaum tatenlos zusehen, wie sich der Iran an seinen Grenzen festsetzt.
Ein neues imperiales great game ist also in vollem Gange. Dabei bedarf es keiner prophetischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, dass all diese neuen Reichsgründer eher früher als später scheitern werden. Je länger sie allerdings ihre impe­rialen Ambitionen verfolgen können, desto mehr Unheil und Zerstörung werden sie anrichten.