Angela Marquardt im Interview über ihre Kindheit als IM bei der Stasi

»Es war gespenstisch zu lesen, wie sehr die Stasi in mein Leben eingegriffen hat«

»Vater, Mutter, Stasi«: Angela Marquardt schildert, wie sie als Minderjährige von der Staatssicherheit als IM rekrutiert wurde und welche Pläne man mit ihr hatte.

Sie waren eine unbelastete junge Politikerin an der Spitze der PDS, als Ihre Stasiakte 2002 auftauchte, die eine Diskussion über Ihre politische Glaubwürdigkeit ausgelöst hat. Heute sind Sie Mitglied der SPD und arbeiten als Mitarbeiterin von Andrea Nahles eher im Hintergrund. Warum gehen Sie gerade jetzt mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit?
Seit ich 2002 mit dem Vorwurf konfrontiert worden bin, dass ich mit dem MfS zusammengearbeitet habe, lebe ich mit der Angst, dass die Geschichte wieder hochgeholt wird. Es gibt nun mal diese Akte. Sie umfasst rund 100 Seiten, wobei eben nur drei Blätter für die Öffentlichkeit zugänglich sind, das sind diejenigen Seiten, die nach meinem 18. Lebensjahr angelegt wurden und nicht mehr unter den Schutz der Minderjährigkeit fallen. Seit die Akte aufgetaucht ist, muss ich befürchten, irgendwann wieder als Stasispitzel beschimpft zu werden. Das lauert immer im Hintergrund: In welchem Fernsehinterview, das ich zum Projekt einer zukünftigen Rot-Rot-Grünen Koalition gebe, werde ich auf die Stasi angesprochen? Es geht dabei nicht nur um die Angst, dass meine Person erneut angegriffen wird. Aber das politische Projekt, für das ich werbe, lässt sich mit dem Hinweis auf meine Stasiakte natürlich schnell diffamieren. Mir war klar, wenn ich wieder öffentlich damit konfrontiert werde, muss und werde ich sowieso was sagen. Dann kann ich auch selber in die Offensive gehen und die Geschichte aus meiner Sicht erzählen.
Was waren die persönlichen Gründe für das Buch? Wann haben Sie für sich entschieden, Ihre Geschichte aufzuschreiben?
Das war eher ein Prozess mit mehreren Stationen. Aber ganz sicher war die Begegnung mit einem ehemaligen Führungsoffizier auf einer Party in Greifswald im November 2013 mitentscheidend. Damals ist mir klar geworden, dass ich mich dem Thema stellen muss. Es war nach der Bundestagswahl, die SPD befand sich in der Diskussion, mit wem sie regieren könnte, und ich saß da mit diesem ehemaligen Stasioffizier an einem Tisch und wurde von ihm in eine Diskussion über die »Verräterpartei« SPD verwickelt. Ich wurde dafür kritisiert, in welcher Partei ich bin, wie schrecklich eine große Koalition wäre und so weiter. Das fand ich surreal, dass ich mit diesem Menschen wieder an einem Tisch saß, Angst vor ihm hatte, er mir aber auch vertraut war, die gleiche Stimme, die ich von früher kannte. Als er die Party verließ, blieb ich sprachlos zurück, und diese Sprachlosigkeit wollte ich mit dem Buch überwinden.
Sie wurden als minderjährige IM von der Stasi instrumentalisiert. Das geht aus der Akte hervor. Die böswillige Interpretation Ihrer Geschichte aber lautete: Schon so jung bei der Stasi.
Ich war neun oder zehn Jahre alt, als die Stasi in mein Leben kam, einfach deshalb, weil meine Eltern mit dem MfS zusammengearbeitet haben. Ich habe diese Leute regelmäßig in der Küche getroffen, ihnen Kaffee gekocht, ihnen die Tür geöffnet und sie einfach als die Freunde meiner Mutter und meines Stiefvaters kennengelernt. Das waren keine Offiziere für mich, ich wusste einfach nicht, dass es Offiziere waren. Die Worte, die ich heute benutze, kannte ich damals gar nicht, nicht mal das Wort Stasi. Das waren einfach nur Thomas oder Jörg. Es mag schwer sein, sich 25 Jahre nach der deutschen Einheit vorzustellen, wie es für mich damals war, diese Leute als Neun- oder Zehnjährige kennenzulernen. Deshalb wehre ich mich auch gegen die Formulierung, dass ich für die Stasi »berichtet« habe. Ich weiß nicht, ob andere Schüler über die Freunde ihrer Eltern nachdenken, ich habe es nicht getan.
Sie lebten damals in Greifswald, Ihre Mutter war Lehrerin, Ihr Vater hat am Theater gearbeitet.
Das MfS war der Meinung, dass man bereits Kinder und Jugendliche unter anderem für den Bereich Schule benötigt. Für die Stasi war ich interessant, weil ich völlig vorbehaltlos auf die Leute zugegangen bin und ihnen vertraut habe. Ich fand die als Jugendliche immer cool, die waren jung, waren interessant und dass sie sich für mich und meine Probleme als Schülerin interessiert haben, fand ich gut. Es war eine schleichende Entwicklung. Bei mir lief es anders als in den Fällen, über die ich bei meinen Recherchen gelesen habe, wo Jugendliche unter Druck gesetzt wurden, dass sie kein Abitur machen können, falls sie nicht kooperieren. So etwas hat bei mir nicht stattgefunden. Diesen Hebel musste man bei mir gar nicht ansetzen. Die familiäre Verbandelung war sicherlich ungewöhnlich eng. Dass diese Leute zu Weihnachten zu uns kamen und mir Geschenke machten, war nicht die Regel im System des MfS.
Sie erinnern sich daran, dass Ihnen irgendwann erklärt wurde, dass man »diese Leute« in der Öffentlichkeit nicht zu grüßen hat.
Da war ich 13 oder 14 und traf mit meiner Mutter im Bus auf Thomas M., den Führungsoffizier meiner Eltern, den ich damals einfach für einen Freund hielt. Ich lief auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, aber er reagierte nicht. Später erklärte mir meine Mutter, dass ich »die« nicht zu grüßen habe, und ich habe das akzeptiert. Für mich war das okay: Über die hat man nicht zu reden. Das habe ich einfach hingenommen.
Einige Monate später unterzeichneten Sie die Verpflichtungserklärung.
An die Verpflichtungserklärung erinnere ich mich nicht. Man kann mir das glauben oder nicht. Es war vermutlich aus damaliger Sicht einfach kein bedeutsames Ereignis für mich. Dass ich über meinen Mitschüler David einen Bericht geschrieben habe, daran kann ich mich erinnern. Wenn du in deinem Kinderzimmer sitzt und schwitzt, weil du was aufschreiben sollst, bleibt das vielleicht eher hängen als ein paar vorformulierte Sätze. Es scheint so gewesen zu sein, dass die Stasi-Leute sich durch mein Verhalten im Bus gefährdet sahen. Sie wollten durch die Verpflichtungserklärung mehr Vertraulichkeit herstellen. Ich habe das Dokument inzwischen gesehen und es 30 Jahre danach in der Hand gehalten. Es ist eine mit Kugelschreiber geschriebene Erklärung, sie sagt mir nichts, während andere Teile der Akte mir durchaus etwas sagen. Es ist meine Schrift, aber es ist nicht meine Sprache und auch nicht mein Denken gewesen, etwa Formulierungen wie »Feinde des Sozialismus unschädlich« machen. Sie stammt aus dem April 1987, ein halbes Jahr nach meinem 15. Geburtstag. Es ist das Jahr, in dem ich von zu Hause ausgezogen bin und anderes im Kopf hatte als diesen Zettel.
Es gab für die Trennung vom Elternhaus einen Grund, den Sie in einem Kapitel des Buches ansprechen, den Missbrauch durch Ihren Stiefvater.
Die Stasi konnte nicht wissen, welche Dinge in meiner Familie passiert sind. Ich gehe nicht davon aus, dass sie das wussten. Ich habe das in mein Buch mit reingenommen, weil es ein Schlüssel zu meinem Verhalten ist und ein Stück weit erklärt, warum ich diesen Leuten vertraut habe und ihnen mein Herz entgegengeschleudert habe, wie ich es im Buch formuliere. Es erklärt vielleicht auch, warum ich dann später einen Cut gemacht und nicht mehr auf meine Jugendzeit zurückgeschaut habe. Damals aber war ich einfach froh, dass diese vermeintlichen Freunde um mich waren und mit dazu beigetragen haben, dass ich mein Elternhaus verlassen konnte. Nach meinem damaligen Verständnis waren sie es, die sich gut um mich gekümmert haben. Dass ich Probleme hatte, wussten sie, ich habe mich oft ausgeheult. Der Akte kann man entnehmen, dass die Familienverhältnisse ab einem gewissen Zeitpunkt als problematisch eingeschätzt wurden. Dass das auf den Missbrauch bezogen war, ist reine Spekulation. Es kann auch um den Alkoholismus meines Stiefvaters und seine Gewalttätigkeit gegangen sein.
Der Psychologe Klaus Behnke geht davon aus, dass Kinder mit einem gestörten Vertrauensverhältnis zu ihren Eltern gezielt von der Stasi instrumentalisiert wurden.
Untersuchungen zu den Kinder-IM gibt es wenige, weil es schwierig ist, diese Fälle zu recherchieren. Es gibt kaum Betroffene, die darüber sprechen. Existent ist nur die Geschichte, wie die Akte sie aus Sicht des MfS erzählt. Auch die Geschichte, wie ich sie real erlebt habe, und meine Akte sind nicht deckungsgleich. Es gibt das Buch »Missbrauchte Seelen« über Kinder und das MfS, an dem auch Klaus Behnke beteiligt ist. Man geht heute davon aus, dass die meisten Jugendlichen über die Jugendhöfe rekrutiert wurden. Das waren oftmals Jugendliche, die im Sinne des DDR-Systems straffällig geworden waren, zum Beispiel Republikflüchtlinge. Dort ist die Stasi sehr gezielt vorgegangen. Nach dem Motto: Du kommst hier raus, aber du musst über deine Punkergruppe berichten. Das ist ein großer Teil der Fälle. Die einzelnen Geschichten kann man schwer recherchieren, weil das Material aufgrund der damaligen Minderjährigkeit der Personen nicht zugänglich ist. Dann gibt es die ARD-Dokumentation »Stasi auf dem Schulhof« über die Instrumentalisierung Jugendlicher für das MfS. Ich bin auch mehrfach angefragt worden, ob ich mich für Fernsehbeiträge vor der Kamera äußern wolle, aber die Angst war zu groß, dass wieder mein Gesicht mit dem Thema Stasi verbunden wird. Wenn man einmal erlebt hat, dass man auf der Straße wegen des Themas Stasi angespuckt wird, bleibt man vorsichtig.
Ist das Niederschreiben eine Art der Selbsttherapie gewesen?
Sicher, das Buch lädt ein zum Psychologisieren. Aber diese Phase ist für mich abgeschlossen, das Buch hätte nicht geschrieben werden können, wenn ich noch einen problematischen Umgang damit hätte. Wenn das alles nicht erzählbar wäre. Es ist aber erzählbar geworden. Das war 2002 noch anders, damals wusste ich um manche Dinge, hatte aber nicht die Kraft, die ganze Geschichte zu erzählen, weil ich völlig unvorbereitet mit dieser 100seitigen Akte konfrontiert gewesen bin.
Im Jahr 2002 mussten Sie vor dem Immunitätsausschuss aussagen.
Wenn man als Bundestagsabgeordnete mit diesem Vorwurf konfrontiert wird, leitet der Immunitätsausschuss ein Überprüfungsverfahren ein, um zu prüfen, ob man willentlich und wissentlich mit dem MfS zusammengearbeitet hat, so die Formulierung. Man kann sich dem stellen oder nicht. In der Geschichte der PDS gab es Leute, die sich dem Ausschuss verweigert haben. Für mich war immer klar, dass ich in den Ausschuss gehe und zumindest versuche, mich zu erklären. Ich habe die Akte damals nur oberflächlich gelesen, weil ich zu sehr unter Schock stand. Ich hatte mich bis dahin zu keinem Zeitpunkt als IM gesehen. Bestimmte Sachen, die ich dann in der Akte lesen konnte, lösten das zwiespältige Gefühl aus, dass vieles zwar stimmt, aber es standen auch Dinge drin, die nicht stimmten und die ich nicht auf mich beziehen konnte. Etwa dass ich beim Trampen von der Stasi im Auto aufgesammelt wurde. Da habe ich immer gedacht: Nein, ich bin nie getrampt. Aber es war der übliche Umgang mit IM, dass sie die Leute an eine Fernstraße bestellt und dann abgeholt haben. Bei mir war es in der Realität so, dass ich vom Judotraining abgeholt wurde. Die Akte widerspiegelte also Erinnerungen, die ich selber hatte, aber auch Szenen, die mir in der offiziellen Darstellung durch die Stasi so fremd waren, dass sie mit meiner Realitätserfahrung nicht übereinstimmten. Es hat Jahre gedauert, diese Puzzleteile zusammenzusetzen.
Sie schreiben eher unfreundlich über Politiker wie die Grünen-Abgeordnete Steffi Lemke und den CDU-Mann Eckart von Klaeden, die für eine harte Haltung gegenüber der Stasi stehen. Brauchte es nicht den politischen Druck, um das System Stasi aufzuklären?
Wenn man die Angst davor, beschimpft zu werden, als Maßstab nimmt, dann vielleicht. Ich schreibe nicht unfreundlich über die beiden, die mich als Mitglieder des Immunitätsausschusses befragt haben. Aber Eckart von Klae­den ist als Pfarrersohn in Westdeutschland in einer ganz anderen Welt groß geworden, Steffi Lemke lebte zwar in der DDR, aber auch sie ist in einem ganz anderen Elternhaus aufgewachsen als ich und wurde schon mit einer Distanz zur Stasi groß.
Was hat Sie beim Lesen der Akte am meisten überrascht?
Es war gespenstisch zu lesen, wie sehr die Stasi in mein Leben eingegriffen hat. Dass also Entscheidungen, von denen ich immer angenommen hatte, dass ich sie selbst getroffen habe, von der Stasi vorbereitet und gelenkt wurden. Meine Stasiakte entwirft mein Leben bis 1995, das heißt, es gab für mich eine sogenannte Einsatz- und Entwicklungskonzeption, in der das MfS mein Leben und meine Legende bis ins Jahr 1995 durchgeplant hat. Die Stasi hatte das Drehbuch für mein Leben bereits verfasst. Dazu gehörte der Plan, dass ich Theologie studiere, um Kontakte in oppositionelle Kirchenkreise herzustellen.
Der Fall der Mauer beendete diese Pläne. Wie wäre die Geschichte ansonsten weitergegangen?
1990 hätte man mich ganz offiziell verpflichtet, das heißt, ich hätte mit der Volljährigkeit eine rechtsgültige Verpflichtungserklärung abgeben müssen. Es war selbst im Unrechtsstaat DDR so, dass die Verpflichtungserklärung, die ich als minderjährige Schülerin geschrieben habe, keine Rechtsgültigkeit hatte. Dass die Stasi eine so langfristige Planung mit mir entwickelt hat, wird heute als eher ungewöhnlich angesehen.
An welchem Punkt der Geschichte beginnt Ihre Verantwortung? Fühlen Sie sich verantwortlich?
Teilweise schon. Die Gefühle der Verantwortlichkeit gegenüber den ehemaligen Mitschülern Silke und David, all die Geschichten, die ich im Buch schildere, werden mich auch nicht loslassen. Die Fragen an mich als Person, warum hast du das nicht erkannt, warum schreibst du so, die bleiben. Ich halte es auch für wichtig, damit in die Schulklassen zu gehen, insofern wird mich die Sache auch weiter beschäftigen. Die Gefühlswelt, die ich beschreibe, dass ich mich schäme, aber versuche, Verantwortung zu übernehmen, dass mir meine Naivität weh tut, das ist nichts, dass einfach verschwindet, weil man es in ein Buch packt. Es wird Leute geben, die sagen, wow, das ist mal eine Geschichte, aber es wird auch die anderen geben, die sagen, da versucht sich jemand auf 240 Seiten reinzuwaschen und sich als Opfer zu zelebrieren.
Es geht mir aber nicht darum, mich als Opfer zu zeichnen, es geht auch nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern darum, nachzuvollziehen, warum ich so gehandelt habe und damit auch etwas vom System MfS und DDR aufzuzeigen.
Politisch war es mir wichtig, das System der Kinder-IM aufzuklären. Mich störten schon immer die nostalgischen Diskussionen und das ist stärker geworden durch die Beschäftigung damit. Es kann schon sein, dass die Salami nach Salami geschmeckt hat, aber das sind nicht die Fragen, die ich an das System DDR habe, sondern wie eine Diktatur funktioniert hat. Und sie konnte vor allem funktionieren, weil es Menschen wie mich gab, die nicht gefragt haben. Das wird mich begleiten, dass man so großgeworden ist und solche Dinge geschehen ließ.

Angela Marquardt: Vater, Mutter, Stasi. Mein Leben im Netz des Überwachungsstaates. Kiwi, Köln 2015, 248 Seiten, 14,99 Euro