»Ausprobiert«, Teil 4: Ballett

Feel the Schwerkraft!

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 4: Ballett. Es ist ein weiter Weg von der Kinderballerina zur erwachsenen Freizeittänzerin mit Spaß an der Bewegung.

Ich war eine Rose in Dornröschens Dornenhecke. Und ich kann es nicht empfehlen. Jedes Jahr zu Weihnachten führten wir ein Märchen auf. Nicht nur, weil wir Motive aus irgendeinem Grimmschen Klassiker in einen aufgerüschten Ringelpiez mit und ohne Anfassen übersetzten, wir mussten auch das Märchen geben, uns würde das Ganze Spaß machen. Die Lokalpresse fiel prompt drauf rein und schrieb zu unserer Dornröschen-Show: »Der sichtliche Spaß, mit der gerade die Jüngsten bei der Sache waren, verdeutlichte eindrücklich, dass das Ballett eine durchaus attraktive Art der spielerischen, altersgerechten Erziehung zur Körperbeherrschung darstellen kann.«
Aber vielleicht war auch das nur eine Lektion, die Madame Schumann uns erteilte: Ballett muss bekanntlich leicht aussehen, doch dahin kommt man nur durch Qualen. Wahrscheinlich glaubten auch alle das Märchen, eine fortschrittliche Pädagogin habe Zeit und Mühe geopfert, um Kinderherzen höher schlagen zu lassen, indem sie unschuldige kleine Mädchen in rosa Tutus steckte. Die Herzen pochten aber eher aus einem anderen Grund: aus purer Angst davor, durch einen mangelhaft gestreckten Fuß oder einen verpatzten Turn einen der gefürchteten Wutausbrüche von Frau Schumann auszulösen.
Vom Sommer an probten wir immer ein halbes Jahr lang fürs Weihnachtsmärchen, das wir dann in stinkenden Schulturnhallen präsentierten. Es war mir ein Rätsel, wie der scheddrige Kassettenrekorder dabei die cholerischen Anfälle von La Schumann überlebte. Die gealterte Tanzpädagogin, die mich an die spindeldürre Hexe Cruella De Vil aus »101 Dalmatiner« erinnerte, unterbrach beim kleinsten Fehler und haute so kräftig auf die Tasten des Geräts, dass der Klang der für unsere Etüden grenzdebil zurechtgestutzten Klassikstücke leiernd erstarb. Dazu rauchte sie Kette, und während sie uns herumkommandierte, wetteten wir heimlich, wie lange es noch dauern würde, bis die Zigarettenasche zu Boden fällt.
Kaum ein Kind und Eltern schon gar nicht würden sich heute eine solche Schikane gefallen lassen. Warum tat ich es, warum meldete mich meine Mutter mit zehn Jahren (viel zu spät, um noch eine Ballerinakarriere anzustreben) in der einzigen Ballettschule unserer Provinzstadt an? Weil sie mich eher für musisch begabt hielt, nachdem ich Turnvereine und andere organisierte Jugendgruppenaktivitäten erfolgreich verweigert hatte? Und warum blieb ich hier immerhin vier lange Jahre? War es Einschüchterung, Masochismus, oder war es doch zu schön, mal eins der sparsam verteilten Lobworte Madame Schumanns zu ergattern?
Ich gebe zu, die strenge Schule befähigt mich heute immerhin zu getanzten Wahlanalysen als Prinzessinnenreporterin (siehe prinzessinnenreporter.de). Die ersten Jahre waren jedoch mühsam: Bevor du überhaupt zum Tanzen kommst, wird dein Körper ständig zurechtgerückt und an dir herumgezerrt, bis die Haltung endlich stimmt. Bei meiner ersten Stunde sah ich Mädchen in schweinchenrosa Strumpfhosen und schwarzen Trikots mit Rüschenrand (die Einheitskleidung, die ich mir ebenfalls zulegen musste) unnatürliche bis affektierte Bewegungen machen und hörte rätselhafte Anweisungen wie »Dümmi Pliejeh«. Die erste Übung an der Stange, die pliés, bei denen man die Beine in verschiedenen Fußpositionen auswärts beugt, schien mir höchst symbolisch: Beuge dich dem Willen der Lehrerin.
Den Absprung schaffte ich mit 14, als das klassische Ballett definitiv zu uncool wurde. Der neuste Schrei in der Provinz hieß Jazztanz zu Michael Jackson. Da sollten wir plötzlich auch die Hüfte bewegen, was im Ballett strengstens verboten ist, und die junge Lehrerin, die in einer Band sang und niemals schrie, durften wir sogar duzen.
Wer als Kind Ballett betrieben hat, ist so gut wie verloren für Fitnesshöllen und Mannschaftssport mit profanem Sieggeschrei. Wer allerdings als Erwachsener (wieder) mit dem Tanzen anfangen will, begibt sich auf eine Odyssee durch verspiegelte Säle und muffige Umkleidekabinen voller höherer Töchter. Ich testete eine Tambourin schlagende Hausfrauenballettöse, einen eingebildeten Womanizer, der Verfahren wegen sexueller Belästigung von Gymnastikgruppen am Hals hatte, eine amerikanisierte Bühnentanzschule, wo Gejubel und Applaus ebenso an der Tagesordnung waren wie ein extravaganter Dresscode und Konkurrentinnenbashing, bis ich ein nettes kleines Studio in Altona fand. Dort unterrichteten Ian aus Schottland, Ofelia aus Peru, Lisa aus den USA, Javier aus Mexiko und viele andere die unterschiedlichsten Stile zu modernerer Musik, und ich lernte, dass auch Ballett Spaß bringen kann. Die urbane Tanzszene ist international und tendenziell eher gay als hetero, es gibt anders als beim verklemmten Standardtanz keine nationalen Wettbewerbe.
Nebenbei habe ich ein Faible für die elegante Sprachvermischung entwickelt, die sich aus der Kombination der französischen Ballettausdrücke und der Muttersprache des jeweiligen Lehrers ergibt: »Feel the Schwerkraft!« lautet da eine Anweisung, »Take the Schwung for the pirouette from the plié!« oder auch: »Streckt die Zähne!«
Bei Javier bin ich geblieben. Unsere kleine Gruppe (Alterspanne von 16 bis 55) setzt sich zusammen aus Hobbytänzerinnen mit den unterschiedlichsten Berufen, den jungen Auszubildenden aus Javiers Contemporary Dance School, Tanzlehrern und Profitänzern, die zeitweise mittrainieren (auch Tarzan aus dem gleichnamigen Musical weilte unter uns). Spätestens mit 30 dürfen selbst Profis keine Höchstleistungen mehr von ihrem Körper erwarten, und prinzipiell ist jede Ballettstunde so konzipiert, dass man immer an seine Grenzen stößt, körperliche wie geistige: Die komplizierten Schrittfolgen, die man sich möglichst auf Anhieb einprägen soll, werden stets variiert, damit sich keine Gewöhnung einstellt. Während nebenan schon mal die bemitleidenswerten Tänzer von Helene Fischer proben, arbeiten wir im Rahmen unserer beschränkten Möglichkeiten an dem kleinen Glücksgefühl, wenn ein petit allegro gelingt. Und wenn nicht, reißen wir Witze drüber, und Javier ruft augenrollend Terpsichore, die Muse des Tanzes, herbei. Die Strenge des Balletts – wir ersticken sie im Gelächter.
»Du musst weitermachen«, schärfte mir eine ehemalige Co-Elevin, die nach einer schweren OP nicht mehr weitertanzen konnte, ein, als ich ihr, selber auf Krücken, begegnete, weil ich mir bei einem assemblé battu mit anschließendem entrechat royal den fünftem Mittelfußknochen gebrochen hatte. Ich habe auf sie gehört. Wir denken nicht ans Aufhören. Unser Rollstuhltanz wird sich einst durch besondere Eleganz auszeichnen. Und es wird keinesfalls Dornröschen sein.