Der Glaubenskrieg der Impfgegner

Gefährliche Ignoranz

Wer sich für eine Impfpflicht ausspricht, setzt sich derzeit dem geballten Hass der Impfgegner aus. Mit wissenschaftlichen Fakten sind Menschen, die einen Glaubenskrieg führen, nicht zu erreichen.
Von

Seit Oktober 2014 sind 652 Menschen in Berlin an Masern erkrankt. Das sind doppelt so viele Fälle wie sonst in ganz Deutschland jährlich auftreten. Allein in der vergangenen Woche kamen in Berlin 80 neue hinzu. Viele Menschen verstehen die derzeit herrschende Aufregung über den Masernausbruch nicht. Sie halten die Masern für eine »harmlose Kinderkrankheit«, obwohl ein Viertel der Erkrankten stationär im Krankenhaus behandelt werden muss – ein Kind ist in Berlin bereits daran gestorben. Das Masernvirus ist alles andere als harmlos. Es befällt, ähnlich wie HIV, zunächst das Immunsystem. Wenn sich die bekannten roten Flecken auf der Haut gebildet haben, ist das Immunsystem bereits sehr geschwächt und der ganze Körper befallen. In den meisten Fällen heilt eine Maserninfektion wieder aus, häufig treten aber Folgeschäden auf – wenn nicht durch die Masern selbst, dann durch andere Infektionskrankheiten, denen das für Wochen und Monate geschwächte Immunsystem nichts entgegensetzen kann. Häufige Folgen sind Mittelohr-, Lungen- und Hirnhautentzündungen und Schäden am zentralen Nervensystem, die sich oft erst Jahre später auswirken. Das ist ein Grund, warum zu früheren Zeiten Kinderkrankheiten als harmlos galten – man konnte die Spätfolgen nicht zuordnen und wusste es einfach nicht besser. Ungefähr einer von 1 000 Patienten stirbt an den Masern oder ihren Spätfolgen.
Das alles müsste nicht sein, wären die Menschen hinreichend geimpft. Während die Pocken in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch umfangreiche Impfprogramme weltweit ausgerottet werden konnten, sind die bereits besiegt geglaubten Masern wieder auf dem Vormarsch – nicht zuletzt, weil eine zunehmende Zahl von Menschen die Impfung für sich oder ihre Kinder verweigert. Sie werden von sogenannten Alternativmedizinern mit Horrorgeschichten über Impfschäden aufgewiegelt. Besonders im Umfeld der Waldorfschulen kam es in den vergangenen Jahren zu vereinzelten Ausbrüchen. In der anthroposophischen Medizin gelten die Masern als eine Krankheit, die Kinder »empfangen« müssen, um sich gesund entwickeln zu können.
Auf einschlägigen Websites wie newslichter.de warnen Scharlatane gleich neben Werbung für ihre esoterischen Ernährungsratgeber vor Impfungen und behaupten, gegen Masern genügten eine gesunde Ernährung und viel frische Luft.
Impfgegner wiederholen im Netz längst widerlegte Mythen – beispielsweise, dass Impfungen Autismus verursachen würden. Das hatte sich 1998 der britische Arzt Andrew Wakefield in einer gefälschten Studie aus den Fingern gesogen, um eine Firma für »alternative Impfstoffe« zu gründen. Die Fachwelt war beunruhigt, untersuchte das Phänomen in etlichen Studien und kam zum Ergebnis, dass es nicht den geringsten Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gibt. 2010 wurde Wakefield wegen »unethischer Forschungsmethoden« die Zulassung als Arzt entzogen, aber das Gerücht geistert bis heute durch das Internet. Von gesunder Ahnungslosigkeit zeugt auch die Idee, Impfen würde führe zu Resistenzen, ähnlich wie bei Antibiotika. Dabei ist das Gegenteil ist der Fall. Weitere Gerüchte ranken sich um Zusatzstoffe wie Quecksilberverbindungen – die heute nicht mehr verwendet werden –, Aluminiumverbindungen oder Formaldehyd. Das klingt zunächst giftig, ist aber völlig unproblematisch, wenn man sich klarmacht, dass ein Kind durch die Muttermilch in einem Jahr mehr Aluminium aufnimmt als durch die im ersten Lebensjahr üblichen sechs Impfungen. Eine vergleichbare Dosis Säuglingsnahrung und erst Recht Sojanahrung enthält ein Vielfaches davon an Aluminium. Formaldehyd wiederum ist ein normales Stoffwechselprodukt. Der menschliche Körper produziert davon jeden Tag 50 000 Milligramm und baut sie wieder ab. Eine Impfdosis enthält 0,2 Milligramm.

Liest man die einschlägigen Diskussionen im Internet nach, scheint Deutschland ein Land von Impfgeschädigten zu sein. Impfschäden hat es in der Vergangenheit zwar wirklich gegeben. So starben 1930 beim »Impfunglück von Lübeck« 77 Kinder an den Folgen verunreinigter Impfstoffe. Das ist aber der Grund, warum Impfstoffe heute Zusatzstoffe enthalten, damit sie auch bei längerer Lagerung steril bleiben. Heute sind Impfschäden extrem selten. Es gibt dafür eine Meldepflicht und das zuständige Paul-Ehrlich-Institut zählt pro Jahr ungefähr 34 Impfschäden in ganz Deutschland. Diese Zahl bezieht sich allerdings auf sämtliche Impfungen gegen alle möglichen Krankheiten. Selbst wenn es eine hohe Dunkelziffer gibt, ist sie verschwindend gering verglichen mit den Schäden, die Infektionen mit Grippe, Borreliose, Hepatitis und Tetanus anrichten. Die Masernimpfung wiederum verursacht nur einen winzigen Teil dieser ohnehin schon seltenen Impfschäden, obwohl sie routinemäßig Millionen von Kindern verabreicht wird. Wer seinem Arzt nicht traut, kann seinen Verdacht auf Impfschaden übrigens selbst unter www.verbraucher-uaw.pei.de melden – es gibt sogar eine iPhone-App dafür.
Dennoch ist es verständlich, wenn Menschen von Impfschäden hören und erstmal die Impfung verweigern. Egal kann uns das nicht sein, denn ein an Masern erkrankter Mensch infiziert über Tröpfcheninfektion 90 Prozent seiner Kontakte. Jenseits aller gesundheitlichen Folgen verursachen Masernausbrüche einen konkreten finanziellen Schaden, wenn Schulen und Kitas schließen müssen und Eltern deswegen nicht zur Arbeit gehen können. Impfen ist also alles andere als Privatsache, denn aus gesundheitlichen Gründen können sich nicht alle Menschen impfen lassen. Menschen, die an Erkrankungen wie Immunschwäche oder Leukämie leiden, sowie Säuglinge unter neun Monaten können nicht geimpft werden. Sie sind auf den Schutz durch die sogenannte Herdenimmunität angewiesen: Wenn alle anderen um sie herum durch die Impfung immun sind, kann die Krankheit nicht zu ihnen durchdringen. Dazu ist eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent nötig – wer also bewusst die Impfung verweigert, gefährdet nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die der Mitmenschen und hilft aktiv mit, die Ausrottung der Masern zu verhindern.
Während beispielsweise das Influenza-Virus eine hohe Mutationsrate hat, sich ständig verändert und deshalb jedes Jahr neue Impfstoffe produziert werden müssen, die nicht hundertprozentig schützen, ist das Masernvirus über lange Zeit stabil. Zwei Impfungen reichen für die lebenslange Immunität, wobei natürlich nicht geimpft werden muss, wer die Krankheit schon mal durchgemacht hat. Deshalb spricht im Fall von Masern einiges für eine Impfpflicht. Wer diese fordert, setzt sich im Netz dem geballten Hass der Impfgegner aus. »Dann müsste man auch das Autofahren verbieten«, ist eine der harmloseren Aussagen, die in Foren von Spiegel Online bis Facebook zu lesen sind – schließlich gibt es kein Thema, das hierzulande nicht sofort mit dem Autofahren verglichen wird. Ich selbst habe infolge der Masern das Gehör verloren und bekomme von Impfgegnern schon mal E-Mails, in denen steht: »Seien Sie froh, dass Sie sich die antideutsche Propaganda in Medien und Politik über Jahrzehnte nicht anhören mussten.«
Tatsächlich ist braunes Gedankengut nicht weit, wenn man versucht, der Gedankenwelt der Impfgegner auf den Grund zu gehen. Dort stößt man schnell auf die teilweise rechtsesoterischen Thesen Rudolf Steiners sowie auf die sogenannte »Neue Germanische Medizin«, wonach Patienten an ihren Krankheiten selbst schuld sind, weil sie falsch leben. Da kann es schon mal passieren, dass ein Impfgegner angesichts eines Todesfalles twittert, dass Menschen nun mal früher oder später sterben.

Im rechten Vulgärdarwinismus funktionieren Kinderkrankheiten nach der Devise »Was uns nicht umbringt, macht uns hart«. Impfungen hingegen machen in diesem Weltbild ganz und gar nicht hart, obwohl sie doch aus der Sicht der Impfgegner so schädlich seien. Die Webforen strotzen vor Verschwörungstheorien, wonach Impfungen nur eine lukrative Erfindung der Pharmaindustrie seien – dabei bekommt ein Kinderarzt für eine MMR-Impfung gerade mal 17 Euro von der Krankenkasse. Gäbe es eine solche Verschwörung, ließe sich mit den Medikamenten zur Behandlung großer Epidemien wesentlich mehr Geld verdienen als mit Impfstoffen. »Das Vergiften der Patienten überlassen wir eben den Allopathen«, schreibt ein »Naturheilkundler« auf seiner Website und meint damit die evidenzbasierte Medizin, während Impfgegner eine Medienverschwörung wittern und fragen, warum gerade jetzt die »Lügenpresse« eine solche Kampagne fahre – als es ob in Berlin keine Masernepidemie mit Todesopfer gäbe. Wieder andere lassen ihrer ausländerfeindlichen Gesinnung freien Lauf: Der Berliner Masernausbruch begann in einem Flüchtlingsheim und wäre nicht passiert, wenn wir die Flüchtlinge nicht ins Land gelassen hätten, lautet eine einschlägige Meinung. Die logische Schlussfolgerung ist jedoch eine andere: In einer globalisierten Welt kann sich nur eine geimpfte Gesellschaft davor schützen, dass Krankheiten aus Ländern mit schlechterem Gesundheitssystem eingeschleppt werden.
Dennoch wäre es falsch, Impfgegnern pauschal rechtes Gedankengut zu unterstellen. Selbsternannte »Alternativmediziner« profitieren davon, dass viele Menschen schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht haben und nun gerne glauben, was die sogenannte »sanfte Medizin« ihnen verspricht. Und wie so oft, wenn »Glaubenskriege« geführt werden, ist es schwierig bis unmöglich, Menschen mit Argumenten und Fakten zu überzeugen.