Das neue Album von Dagobert

Über allem

Zweifelhaft, befremdlich oder genial um die Ecke gedacht? Auf den Schnulzensänger Dagobert können sich Kunstszene, Hipster und Schlagerfans gleichermaßen einigen. Mit »Afrika« erscheint nun sein zweites Studioalbum.

Afrika« – oha, oha. Gerade hallt es noch im Kopf nach: »Africa is not a country«. Oder doch? »Ich mache mich auf nach Afrika und suche Locations für unseren Film und melde mich von da. Alaaf!«, postete etwa der Schauspieler und Regisseur Florian David Fitz vor einigen Tagen auf Instagram, als ob Mittelmeerküste, Sahel, Tropen und Tafelberg zu ein und demselben Land gehörten. Der koloniale Blick lebt in solchen Verallgemeinerungen fort und deshalb ist da zunächst einmal Irritation, wenn Dagobert sein zweites Album mit dem Titel »Afrika« ankündigt. Dagobert, dieser moderne Minnesänger im Schlager-Schnulz-Pop-Gewand, der im Aargau aufgewachsen ist, mittlerweile in Berlin wohnt und von sich selbst sagt: »Ich mache gar keinen Schlager, ich behaupte das nur!«
Schlager und Afrika: eine unheilvolle Beziehung. Nach Kriegsende diente alles südlich Italiens, das sich Reich, Firmen und Siedler einst unter nahezu ausschließlich gewaltsamen Mitteln angeeignet hatten, als Fixpunkt eines verbreiteten träumerischen Eskapismus. Das hallt bis heute in manchen Schrecklichkeiten nach, etwa in der Single »Afrika« von Nicole, erschienen 2014: »Afrika, bist wie ich/Stolz und frei, darum lieb ich dich/Uneinigkeit hast du niemals gewollt/Krieg und Gewalt haben dich überrollt/Und doch hast du für deinen großen Traum gelebt/Für Schwarz und Weiß Seite an Seite/Dein Herz, es schlägt für Elfenbein und Ebenholz.« Ein bisschen Frieden, ein bisschen Naturalismusklischee, ein bisschen Geschichtsverdrehung. Ihr Kollege Heino, der auch zu Apartheidszeiten in Südafrika auftrat, besucht gerne die »lieben Landsleute« (Helmut Kohl) in der ehemaligen Kolonie Namibia. Der letzte Trip vor zwei Jahren wurde medial etwa mit »Albino in Afrika« (ZDF) und »Mit Heino zu den wilden Tieren nach Afrika« (Welt) betitelt.
Und über Heino, der neuerdings deutschen Metal covert, gelangen wir auch wieder zu Dagobert. Dessen Lieblingsbands – neben den Flippers und Country-Legende Hank Williams – sind nämlich die Scorpions und Kreator. Es sind solche Details, mit denen der Sänger immer wieder überrascht. Lukas »Dagobert« Jäger, Jahrgang 1982, wird nach der Schule erst Punk, dann Musiker. Satte 18 000 Schweizer Franken gibt es in Form eines Kulturstipendiums für seine ersten Ergüsse. Der junge Mann geht für ein paar Monate nach Berlin, verliebt sich schwer tragisch in eine ältere Frau, die seine Liebe aber nicht erwidern kann und will. Dagobert plant, sein gebrochenes Herz für ein paar Wochen mit Ruhe und Schreiben zu heilen und zieht sich in eine alte Hütte nahe des Graubündener Dorfs Pigniu zurück. Aus Wochen werden Jahre. Er nimmt Song um Song auf, ganz für sich allein.
Irgendwann verschickt er doch ein erstes Demo an die Plattenfirma Universal in der Schweiz. Der Chef der Schlagerabteilung eines Sublabels fährt auf den Berg, einen Plattenvertrag samt Musikantenstadl-Auftritt im Gepäck. Dagobert lehnt das Angebot ebenso ab, wie alle folgenden und bricht doch wieder nach Berlin auf, um es auf eigene Faust mit der Musik zu versuchen. Immerhin kann er auf ein Repertoire von ganzen fünf fertig geschriebenen Alben zurückgreifen. Am 16. Juli 2010 meldet sich Dagobert auf Myspace an. Im Internet und bei Konzerten in Berlin-Mitte singt er von seiner unerwiderten Liebe, natürlich: »Ich liebe dich ganz lange schon/Doch du hast leider nichts davon/Denn Liebe anzunehmen ist/Viel schwerer als das Lieben ist.«
Im Frühjahr 2011 erscheint eine erste Doppelseite in Spex: »Wird die Schunkelschnulze nach Jahrzehnten der Ächtung wieder salonfähig?« Irgendwann kommt der Regisseur Klaus Lemke ins Café Ribo, dessen Hinterzimmer Dagobert seit der Rückkehr sein Zuhause nennt, und macht ihn 2012 zum Schauspieler in seinem Film »Berlin für Helden«. Ende des Jahres wird ihm sogar eine kleine Dokumentation gewidmet: »Schnulzensänger aus den Bergen« macht ihn auch über die Berliner Trendbezirke hinaus bekannt – und der Filmtitel wird in der Folgezeit zu Dagoberts stetigem Anhängsel. Der Boden für das Debütalbum »Dagobert« ist bestellt.
Zur Albumveröffentlichung im April 2013 auf Buback, dem Label des Künstlers Daniel Richter, berichtet nahezu jede große Zeitung über den Sonderling aus der Schweiz. Die Berliner Morgenpost findet es besonders lustig, sich mit Dagobert auf ein Reis-Picknick zu treffen. Schließlich hat er sich, nach eigenen Angaben, während seines Exils ausschließlich von Reis ernährt. Immerhin recherchierte man damals per Telefon etwas in der Schweiz, mit dem Ergebnis, dass sich niemand in dem klitzekleinen Pigniu an den hageren Eremiten erinnern wollte oder konnte. Ende Juni dann die Krönung: Schnellen Schrittes schreitet Dagobert im Frack durch den »ZDF-Fernsehgarten«. Buback zufolge hatte sich der Sender zuvor sogar selbst an den Sänger gewandt. Die Schlagerwelt heißt Dagobert willkommen, doch dieser bilanziert später enttäuscht: »Ich habe dabei gemerkt, dass ich in dieser Szene ein ziemliches Alien bin. Schlager und Dagobert: Das geht nicht.«
Im Herbst forderten manche bereits, Dagobert solle doch 2014 für Deutschland beim Eurovision Songcontest antreten. Das passiert jedoch nicht. Stattdessen arbeitet er an den Aufnahmen seines zweiten offiziellen Albums. Das Aargauer Kuratorium sendet finanzielle Unterstützung: 20 000 Franken erhält er für seine Aufnahme. Die Jury urteilt: »Jäger ist schlauer als Schlager. (…) Er hat das Zeug zum Aargauer Bowie in Berlin.«
Heute sagt der Ausgezeichnete, es sei eine »schwere Depression« gewesen, »entstanden aus psychischer Überforderung, die mich letztendlich in einem schwachen Moment dazu gebracht hat, es doch mit der Musik zu probieren – was ich vorher nie vorhatte«. Dem waren mehrere Wochen vorangegangen, in denen Dagobert tagelang ohne Essen, Trinken oder einen Schlafsack durch die Berge gelaufen war. Alles in Vorbereitung einer großen Reise: »Ich habe in meinem Einsamkeitsdelirium keinen Ausweg mehr gesehen, weil ich mich hätte resozialisieren müssen, was Geld verdienen bedeutet hätte. Da habe ich mir ausgemalt, wie es in Afrika wäre: schön warm, voll geil, nicht so verschneit wie auf dem Berg.« Er will dorthin laufen. »Für mich gab es keinen anderen Weg.« Dagobert sagt solche Sätze mit einer naiven Ernsthaftigkeit, die es einem schwer macht, an ihnen zu zweifeln. »Für mich war Afrika immer so eine Karl-May-Welt«, schiebt er nach. »Politisch habe ich mir da gar nichts gedacht.« Seinen Plan hat er ohnehin nie in die Tat umgesetzt, dafür gibt es nun das titelgebende Eröffnungsstück des Albums, dessen Refrain wie folgt endet: »Und dann singe ich mit den Affen/Oh-uh-uh-aah!«
Schlichtheit schützt vor manchem Blödsinn nicht, mag sie noch so unbedarft sein. Bei der Diskussion des Zitats fällt der Name Friedrich Nietzsche, weil sich Dagobert gerne selbst, in Anlehnung an den Philosophen, als Affen bezeichnet. Oder Johnny Cash: »Er war für mich immer der Affe seines Ideals. Ein kompletter Idealist! Da war nichts real, sondern er hat sich stets in eine Idee hineingesteigert, so wie Clint Eastwood in seine Filmcharaktere. Das hat mich stets gestört.« Eine bemerkenswerte Aussage für jemanden, dessen Geschichte bis heute in Frage gestellt wird und der mit breiter Kreator-Gürtelschnalle dasitzt und mit Mille Petrozza – Sänger von Kreator und kluger Chef des Heavy Metal – einen eifrig gniedelnden Gastgitarristen für ein paar seiner neuen Songs gewinnen konnte. Petrozza gibt etwa in dem Beinahe-Instrumental »Am Natronsee« – dem neben dem Titelstück übrigens einzigen Afrikabezug auf »Afrika« – ein ausgiebiges Solo, an dessen Ende man den Mitschnitt eines erfolglosen Telefonanrufs hört: »Und immer wenn du nicht rangehst/Klingelst/Wo dein Telefon steht«, singt Dagobert dann, »Ich mag dich mehr als all den Frust/Hast du das eigentlich gewusst?« Der befremdliche Beigeschmack seines Debütalbums, auf dem alle Songs der bereits erwähnten Frau gewidmet waren, das Stalker- und Zwanghafte, schwingt noch immer mit. Der Song »Wir leben aneinander vorbei« beschreibt Dagoberts Beobachtungen von der Straße herauf in die Wohnung der Angebeteten, bis die Stimmung kippt: »Wir sollten uns zusammen tun/Sonst kommen wir nicht voran/Und das bereuen wir bestimmt irgendwann.« Und zum bedrohlichen Dreivierteltakt von »Rede mit mir« heißt es: »Komm rede mit mir/Über deine Ängste/Und Sorgen (…) Komm her/Sei nicht so kompliziert.« Plötzlich ist da nicht mehr nur Überzeugungswille zu hören, sondern ein gewisser Anspruch an die Abweisende, deren Nein man nicht akzeptieren will. Don’t try this at home!
Aber Dagobert will mit »Afrika« den Fokus erweitern. Er habe »die Intimität aufgebrochen« und sich um »Einfachheit bemüht, so dass Text und Musik zusammengehen«. Dafür ließ er den hübsch überkandidelten Drive des Debüts zur Seite und verschuldete sich bis in den unteren fünfstelligen Bereich, unter anderem, weil er den ehemaligen Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit an zwei Tagen das komplette Album einspielen ließ, später jedoch feststellen musste, dass Liebezeits Spiel nicht zum Rest passte.
Thematisch geht es mal um eine Traumsequenz mit dem Fünfziger-Jahre-Filmstar Doris Day, um die beste Freundin »Jenny« (»Egal ob Bier oder Bananensaft/Mit dir schmeckt alles immer fabelhaft«) oder um die Verarbeitung eines Todesfalls. Das Verhältnis aus selbst für Schlager oder eben Pop zu banalen Inhalten auf der einen Seite und wunderbar treffenden Zeilen auf der anderen verschiebt sich im Gegensatz zum Vorgängeralbum zwar deutlich zum Banalen, dennoch kann Dagobert die Spannung halten. Wenn da nicht immer diese Sinnlosigkeit am Grunde von allem lauern würde. »Manchmal traurig/Manchmal froh/Das war bei mir schon immer so«, heißt es im letzten Stück. Die erläuternde Ausführung lautet: »Jeder richtet sich sein Leben so ein, dass er sich einen Sinn hineinlügt und es ihm deshalb auch gut geht. Aber wenn man das intensiv genug hinterfragt, dann kommt eigentlich nur diese tiefe Sinnlosigkeit zum Vorschein. Und bei mir kommt die oft und direkt. Eigentlich bin ich komplett verloren in dieser sinnlosen Welt und könnte auch sofort sterben. Aber es ist gut, dass das passiert. Sonst glaubt man wirklich noch, dass alles so ist, wie es ist – und nicht einfach nur eine Möglichkeit. So eine richtige Realität gibt es gar nicht.«
Dagobert war nie Persiflage und schon immer mehr als der lustige Typ, auf den sich Kunstszene, Hipster und echte Schlagerfans einigen können. »Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit«, liest man bei der Band Ja, Panik. Dagobert setzt genau da an. Ärgerlich nur, dass er dabei so oft in die Klischeekiste greifen muss.

Dagobert: Afrika (Buback/Universal)