Katharina König im Gespräch über die Aufarbeitung der NSU-Morde

»Ich stelle lieber Fragen«

Seit 2009 ist Katharina König Abgeordnete der Partei »Die Linke« im Thüringer Landtag, wo sie dem Innenausschuss angehört. Sie saß im ersten Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss und wird auch dem kürzlich beschlossenen zweiten Untersuchungsausschuss angehören. Im Oktober 2012 versuchte das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz, einen ehemaligen Mitarbeiter der Politikerin als V-Mann anzuwerben. Die Jungle World sprach mit König über die Fortschritte und Hem-mnisse bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes.

Alle beklagen die mangelnde Aufklärung der NSU-Mordserie. Sie hingegen loben den ersten NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen. Weshalb?
Der Thüringer NSU-Ausschuss hat wahnsinnig viel geschafft. Er sticht auch im Vergleich zu den anderen Untersuchungsausschüssen, etwa in Sachsen, Bayern, aber teils auch im Bund, positiv heraus.
Inwiefern?
Zum einen wegen der Akribie, mit der die neunziger Jahre aufgearbeitet wurden: Das Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden, das gesellschaftliche Versagen, das Ignorieren und die Verniedlichung der Nazistrukturen als »Jugendproblematik«, die Verantwortungslosigkeit der Verantwortungsträger, die Verbindung zwischen dem Rostocker Pogrom und der Nazi-Organisation »Thüringer Heimatschutz« – all das wurde vom Ausschuss benannt. Vor allem aber, und das ist ein Thüringer Spezifikum, hält der Ausschuss im Abschlussbericht einstimmig fest, dass er nicht ausschließen kann, dass es aktive Verhinderung oder Sabotage der NSU-Aufklärung durch die Polizei oder durch den Verfassungsschutz gegeben hat.
Das hat die CDU mitgetragen?
Ja, sie hat es zwar später etwas relativiert, aber den Beschluss mitgefällt.
Worauf stützt der Ausschuss diese Feststellung?
Es gibt wahnsinnig viele offene Fragen. Ein Beispiel, bei dem alle nur die Köpfe schütteln konnten: Die Durchsuchung der Garage von Uwe Böhnhardt am 26. Januar 1998, bei der eine Rohrbombe und Sprengstoff gefunden wurden. Niemand versteht, wie es so viele Fehlentscheidungen geben konnte, dass die drei trotz der Funde fliehen konnten.
Was lief damals schief?
Im September 1997 beantragt das Landeskriminalamt eine vierwöchige Observation der drei Neonazis. Der Richter stimmt zu, die Polizei observiert – aber nur drei Tage lang und an jedem Tag durch andere Beamte. Dann fragt die Polizei den Verfassungsschutz, ob dieser die Observation übernehmen könne. Das verstößt nicht nur gegen das Trennungsgebot, es ist auch sinnlos, weil Beobachtungen des VS nicht einfach verwendet werden können. Der VS beobachtet, dass die drei die fragliche Garage nutzen. Am 26. Januar sollen diese und die Wohnungen der drei durchsucht werden. Polizei und Staatsanwaltschaft vermuten, dort sei Sprengstoff zu finden. An diesem Tag muss aber erst die Feuerwehr kommen, um ein Vorhängeschloss zu öffnen. In der Zwischenzeit wird schon mal Böhnhardts Wohnung durchsucht. Er darf dann gehen, weil man dort nichts findet, und kann fliehen. Kurz darauf findet man dann den Sprengstoff und die Rohrbomben in der Garage. Man kann aber keine Haftbefehle ausstellen, denn dass die drei die Garage benutzt haben, steht ja nur im VS-Dokument und das ist als geheim eingestuft und damit nicht verwertbar. Es gibt noch viele weitere solcher Vorfälle. Das ist insgesamt zu viel an einzelnen Fehlentscheidungen. Das passt alles nicht dazu, dass man wirklich nach dem Trio gesucht haben will.
Das ist nun also offiziell festgestellt worden. Trotzdem wurde vorige Woche ein zweiter Untersuchungsausschuss eingesetzt. Was soll er tun?
Es gibt bundesweite und zwei Thüringer Komplexe, die noch offen sind, darunter der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Es gibt viele Verbindungen hin zum NSU über das Dorf, in dem Kiesewetter aufgewachsen ist.
Und der zweite Komplex?
Das ist der Tag des Überfalls auf die Sparkassenfiliale in Eisenach, der 4. November 2011, an dem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sich in dem Wohnmobil selbst getötet haben sollen.
Welche Zweifel bestehen daran?
Wenn die beiden sich, wie offiziell behauptet, selbst getötet und das Wohnmobil angezündet haben, warum wurde dann kein Ruß in ihren Lungen gefunden? Warum wird der Wohnwagen ohne richtige Tatortsicherung im 40-Grad-Winkel abgeschleppt? Warum konnte die Feuerwehr keine Brandnachschau machen? Warum wurden die Fotos von ihrem Einsatz durch die Polizei vor Ort beschlagnahmt? Niemand weiß, wo diese Fotos sind. Die Aussagen des Einsatzleiters passen nicht mit den Akten zusammen. Warum entscheidet er, alle Ermittlungsrechner vom Netz zu nehmen? Um zu verhindern, dass die Informationen nach außen dringen? Warum? Weiß er an dem Tag etwa mehr?
Sie trauen also der offiziellen Darstellung nicht. Was glauben Sie, was geschehen ist?
Ich weiß es nicht. Ich stelle lieber Fragen, als Antworten zu geben, die von den Fragen ablenken. Das ist das Entscheidende, solange es keine Belege gibt.
Sie wollen sich auch Fragen widmen, die nicht direkt mit Thüringen zu tun haben. Ist das einem Landesuntersuchungsausschuss überhaupt möglich?
Letztlich bräuchte es wieder einen Bundestagsausschuss, dem kann der VS nichts verweigern. Ich will aber keine Ländergrenzen in meinem Kopf haben, wenn es um die Aufklärung geht. Es gibt personelle Überschneidungen zwischen der organisierten Kriminalität und der Neonaziszene, die bis heute bestehen. Wir wollen dazu die Akten sehen, unter anderem, um den Weg der Tatwaffe nachzuvollziehen. Außerdem sind sehr viele Fragen zu V-Leuten offen.
Warum war all das nicht schon im ersten Ausschuss Thema?
Zu wenig Zeit. Wir haben sehr intensiv die neunziger Jahre aufgearbeitet. Wir haben versucht, das Wachsen des NSU im Thüringer Heimatschatz zu beleuchten und sind dann zum Verfassungsschutz und den V-Leuten übergegangen. Die Akten zum 4. November haben wir erst wenige Tage vor der Sitzung bekommen. Dann war die Legislaturperiode vorbei.
Jetzt können Sie möglicherweise mit dem neuen hessischen Untersuchungsausschuss kooperieren. Wäre das schon früher nötig gewesen?
Es ist beschämend, dass es erst die Recherchen von Journalisten braucht, damit CDU und Grüne erkennen, dass sie Aufklärung leisten müssen. Ich finde, jedes Bundesland, in dem es einen Mord gab, müsste einen Ausschuss einsetzen, um den Fragen der Opfer gerecht zu werden. Ich hoffe, dass der Eklat, den es jetzt in Hessen gab, dazu führt, dass der Ausschuss dort wirklich alle Akten bekommt. Ich fürchte allerdings, dass es am Anfang wegen des medialen Drucks viel Motivation geben, irgendwann aber der Streit der Koalition die Arbeit überschatten wird. Ich weiß nicht, ob die Grünen den Mut haben, nah ranzugehen – und beispielsweise auch den eigenen Koalitionspartner in Frage zu stellen.
Die Verhaftung Beate Zschäpes ist über drei Jahre her. Interessiert das Ganze die Menschen heute überhaupt noch?
Die Empörung und das Entsetzen vom Anfang gibt es jetzt nicht mehr. Es gab einen Gewöhnungseffekt. Es sind so derartig viele V-Leute aufgeflogen: Im Bund, in Brandenburg, in Hessen, in Bayern, in Thüringen. So wie ich das mitbekomme, haben sich viele aus der Bevölkerung schon länger eine Antwort darauf zurechtgelegt: Natürlich war der VS in den NSU verwickelt und hat was mit den Morden zu tun. Wenn dann wieder ein V-Mann auffliegt, dann gibt es kein Entsetzen mehr, weil der VS ja schon komplett diskreditiert ist.
Haben Ermüdungserscheinungen in der Öffentlichkeit vielleicht auch damit zu tun, dass militante Nazis eher als Problem aus der Vergangenheit angesehen werden? Selbst große Antifa-Gruppen lösen sich ja auf oder engagieren sich nun gegen die AfD oder andere bürgerliche Rechtspopulisten.
In der Form der neunziger Jahre gibt es diese Vielzahl militanter Strukturen, die organisiert Jagd auf Migranten machen, nicht mehr …
 … immerhin wurden Sie kürzlich an einem Wahlkampfstand bedroht und mussten diesen abbauen.
Das war ein Nazi und Rocker, und zwar der, der die Soli-Kampagne für den NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben mitmacht. Trotzdem ist es nicht so wie in den neunziger Jahren. Da wäre es nicht so abgelaufen, da hätte es was auf die Fresse gegeben. Was es wieder gibt, sind Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Aber auch das ist zumindest noch nicht gleichzusetzen mit 1990. Auch wenn es erschreckend ist, dass 25 000 Menschen bei Pegida auf die Straße gehen, aber kaum jemand, wenn eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen wird.
Einige migrantische Organisationen haben die Reaktion des Staates auf den NSU mit der auf die Pogrome der neunziger Jahre verglichen und haben kein schlechtes Urteil gefällt: Der Staat habe angemessener reagiert als damals. Sehen Sie das auch so?
Zumindest ein Teil der Verantwortungsträger hat tatsächlich etwas gelernt. Die Rede von Angela Merkel etwa, in der sie komplette Aufklärung und Transparenz zusagt – die war wegweisend für die Arbeit der Untersuchungsausschüsse. In den neunziger Jahren hat sie als Familienministerin noch ein Programm für akzeptierende Jugendarbeit aufgelegt, welches dann auch dem Aufbau von Nazistrukturen diente. Ich finde schon, dass diese Lernleistung, nicht nur von Merkel, Respekt verdient. Ich finde das richtig gut. Es ist aber nicht Deutschland insgesamt, das etwas gelernt hat. Dem widerspricht das Alltagserleben.