Zufälle und die Geheimnisse im NSU-Komplex

Im Land der Zufälligkeiten

Warum hat der Skandal um den NSU nicht das ganze Land erschüttert? Warum hat es keine Staatskrise gegeben? Warum geht alles einfach so weiter? Weil es viel zu viele Zufälle gibt.

Der zentrale Satz lautet: »Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren.« So eröffnete ein Herr Hess, Geheimschutzbeauftragter des Verfassungsschutzes im fast gleichnamigen Bundesland, ein Telefonat mit einem Mitarbeiter, der von der Polizei verdächtigt wurde, einen Mord begangen zu haben. Der Mitarbeiter ist jener Andreas Temme, der am 6. April 2006 zur Tatzeit am Tatort war, als Halit Yozgat, das neunte Opfer des NSU, in Kassel erschossen wurde. Das Telefongespräch diente dem Zweck, Temme mit Blick auf seine Aussagen bei polizeilichen Vernehmungen zu beraten. Die professionelle Aufgabe eines Geheimschutzbeauftragten ist es, dafür zu sorgen, dass die Geheimnisse eines Geheimdienstes geheim blieben.

Der Satz kann, wenn er von professionellen Deutern unter die Lupe genommen wird, alles Mögliche bedeuten. So ist die Bundesanwaltschaft der Meinung, Hess habe seinem vom Dienst suspendierten Gesprächspartner erklären wollen, warum er von seinen Kollegen keinen Besuch erhält. Die Süddeutsche Zeitung schließt sich dieser Interpretation an, weil sie glaubt, die Bundesanwaltschaft sei sich ihrer Sache sehr sicher. Die weniger phantasievolle Lesart, vertreten durch die Anwälte der Familie Yozgat, die diesen Satz in bisher zurückgehaltenen Akten fanden, lautet: der Kasseler Verfassungsschützer Temme suchte Yozgats Internetcafé auf, weil er wusste, dass dort etwas passieren sollte. Nicht irgendetwas, sondern »so« etwas wie ein Mord. Kurz zuvor hatte er zweimal mit seinem Nazi-V-Mann Benjamin Gärtner telefoniert. Über den Inhalt dieser Telefonate verweigert Temme die Aussage oder er kann sich nicht erinnern. Gärtner durfte von der Polizei nicht verhört werden; das verhinderte der damalige hessische Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier. Temmes dienstliche Berichte über seine Quelle sind unter Verschluss (oder im Schredder).
Der Polizei, dem Untersuchungsausschuss des Bundestags und schließlich dem Münchner NSU-Prozess, wo er mehrfach vorgeladen wurde, präsentierte Temme das Geschehen so: Er habe, Zufall Nr. 1, am 6. April 2006 aus privaten Gründen Yozgats Café aufgesucht, um auf den Websites eines Erotikportals zu surfen. Im Unterschied zu anderen Zeugen habe er, Zufall Nr. 2, laute Geräusche nicht gehört, die Leiche hinter dem Schreibtisch, Zufall Nr. 3, nicht bemerkt. Von der Tat habe er erst drei Tage später zufällig (Nr. 4) erfahren.

Ein Zufall kommt selten allein. Aus der Welt des Fußballs haben wir gelernt: Wenn man kein Glück hat, kommt auch noch Pech dazu. Warum sollte für den Verfassungsschutz als Mannschaftssport nicht Ähnliches gelten? Temme freilich hatte im April 2006 eine echte Pechsträhne. Warum meldete er sich, nachdem er über die Tat gelesen hatte, nicht als Zeuge bei der Polizei? Er verwechselte die Wochentage in seiner Erinnerung und glaubte, am Vortag der Tat ins Yozgats Café gewesen zu sein. So was kann vorkommen (Nr. 5). Außerdem wollte er vermeiden, dass seine Frau von den virtuellen Seitensprüngen erfährt (Nr. 1).
Als ihn die Polizei aufgrund der Spuren, die er im Netz hinterließ, endlich ermittelt hatte, fand sie bei der Durchsuchung seiner Wohnung das Buch »Immer wieder töten – Serienmörder und das Erstellen von Täterprofilen« vom Verlag Deutsche Polizeiliteratur. Welch ein Zufall (Nr. 6). Außerdem private Waffen und Munition sowie NS-Schrifttum: Das nehme ich nicht in die Nummerierung auf, weil es erwartungskonform ist. Aufgrund seiner auffälligen Interessen soll Temme in seiner Jugend den Spitznamen Klein-Adolf gehabt haben.
Um es abzuschließen: Die Welt berichtet, eine Analyse von Temmes Telefondaten habe ergeben, dass er am 8. Juni 2005 und am 15. Juni 2005 mit seinem V-Mann Gärtner telefonierte. Der befand sich zum ersten Datum in Nürnberg, wo am gleichen Tag İsmail Yaşar umgebracht wurde, und zum zweiten in München, als es Theodoros Boulgarides traf. Reine Zufälle Nr. 7 und 8. Zurück nach Kassel: Am 10. April 2006 diskutierte Temme in seiner Dienststelle mit einer Kollegin über den Mord im Internetcafé. Seine Anwesenheit erwähnte er nicht, aber er teilte eine präzise Einschätzung mit. Die Tat habe keinen regionalen Bezug, weil sie mit der gleichen Waffe begangen worden sei, die bei einer bundesweiten Mordserie, den Ceska-Morden, wie sie damals genannt wurden, benutzt wurde. Das war zum Zeitpunkt dieses Gesprächs öffentlich noch nicht bekannt. Die Meldung über die Tatwaffe ging erst später über den Ticker. Temmes Vorabinformation bezeichnen Stefan Aust, Per Hinrichs und Dirk Laabs daher als »Täterwissen« (Die Welt), und die geheimschutzbeauftragten Aussagen Temmes darf man in die Tonne treten.

Ja, wenn man weiß, dass irgendwo so was passiert… Nicht zum ersten Mal richtet sich dieser Verdacht an die deutschen Verfassungsschutzämter, aber auch an die Politik. Nicht zum ersten Mal war ein solcher, einprägsamer Kernsatz zu diesem Thema zu vernehmen. »Wer hat alles mitgewusst? Der Generalbundesanwalt wird Ihnen, nehme ich an, in vertraulicher Sitzung das alles erklären«, sagte der ehemalige bayerische Innenminister Günther Beckstein vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Achtung, denkt man, Edathy, Binninger, Ströbele, fassen! Aber die Abgeordneten sind müde, sie haben schon zwölf Stunden Sitzung hinter sich, wollen nach Hause, und Hans-Christian Ströbele, der als nächster dran ist, interessiert sich für anderes.
Immerhin gereizte Reaktionen der Abgeordneten erzielte der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, Klaus-Dieter Fritsche, an gleicher Stelle, als er seinen persönlichen Klassiker zu Protokoll gab: »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.« Doch keines der tapferen und hochgelobten Ausschussmitglieder rang sich zu der Feststellung durch, dass es in diesem Fall offensichtlich Geheimnisse gibt, die zugunsten des Staatswohls auch vor dem Parlament geheim gehalten werden. Gravierende Geheimnisse, systemische sozusagen.
Auf das Wohl des Landes Hessen berief sich auch Bouffier, als er die polizeilichen Ermittlungen gegen Temme und Gärtner auflaufen ließ. So findet jeder kleine Adolf einen großen Volker, der ihm aus der Klemme hilft. Jeder große Volker findet einen ökosoften, also unverdächtigen Koalitionspartner, der sich für seine Lauterkeit verbürgt. Jeder suspekte Klaus-Dieter findet eine Angela, die ihm ihr Vertrauen ausspricht. Das System funktioniert, weil es alle beteiligt. Sieben der zehn Morde des NSU wurden während der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer verübt. Sie betreffen den Verantwortungsbereich des damaligen Innenministers Otto Schily, der sich heute nur noch mühsam daran erinnert, dass sie überhaupt stattfanden. Politiker akzeptieren ein solches Verhalten. Denn was man Schily nicht vorwirft, kann man auch seinem Nachfolger Thomas de Maizière nicht vorwerfen, der inzwischen wieder Innenminister ist. Dieses wichtige Geheimnis ist leicht zu lüften, aber nur schwer zu vermitteln.
Cem Özdemir, ein Mann großer Worte, könnte durch die Befragung seiner Parteifreunde, die zwischen 1998 und 2005 Regierungsämter auf unterschiedlichen Niveaus bekleideten, vermutlich mehr erreichen als ein kompletter parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Der Mann denkt überhaupt nicht daran. Der einzige Zeuge, der aus dem rot-grünen Nähkästchen plauderte, war Hans-Jürgen Förster, ehemaliger Bundesanwalt und Referatsleiter in Schilys Ministerium. Den hielten im Edathy-Ausschuss alle für unglaubwürdig; auch Ströbele, auch Petra Pau.

Doch kann die politische Kaste ihr Geschäft nur solange betreiben, wie die Gesellschaft mitspielt. Warum ist – nach allem, was zum NSU-Komplex öffentlich wurde – nicht mehr passiert? Warum reichte es immer nur zu temporären Erregungen? Nur zu vorbeugenden Rücktritten eines halben Dutzends VS-Präsidenten? Warum gibt man sich mit offenkundig zurechtgebogenen Erklärungen von Ermittlungspannen, Kommunikationsproblemen, Kompetenzgerangel, Irrtümern und Unfähigkeit zufrieden? Klar, in der Sicherheitspolitik gilt die Regel: Je wichtiger die Geheimnisse, desto doofer ihre Träger. Das ist ein empirisches Gesetz. Die Ursache ist nicht wirklich erforscht. Die Frage bleibt allerdings, warum eine sich als demokratisch verstehende Öffentlichkeit nicht den Anspruch an sich stellt, etwas weniger doof zu sein.
Für eine Antwort ist hilfreich, an den Titel zu erinnern, unter dem die Mörder zehn Jahre lang unbehelligt ihrem Handwerk nachgingen. NSU steht für »nationalsozialistischer Untergrund«. Den entscheidenden Irrtum begeht, wer darunter nur eine Organisation aus drei oder auch einem Dutzend Nazis versteht. Es ist die deutsche Gesellschaft, die nach 1945 – in beiden deutschen Staaten – auf einem nationalsozialistischen Untergrund errichtet wurde. Jeder weiß es, die Bürger ebenso wie die Politiker. Das Inland ebenso wie das Ausland, wo vor allem arabische Staaten, der Iran und die Türkei ein feines Gespür für diesen Umstand entwickelt haben.
Aber dieses Wissen muss privat bleiben, sonst schadet es dem Wohl von Staat und Gesellschaft. Es würde die Bilanzen des Exportweltmeisters drücken. Die kleinen Adolfs sind unter uns, im doppelten Sinn der Präposition. Sie gehören zu uns, aber sie sollen unten bleiben, im Untergrund, den jeder kennt, aber für sich behält. Es ist doch klar, dass die Pegida-Demonstranten solche sind, die ihre Mundlos’, Böhnhardts, Zschäpes und Wohllebens bei sich zu Hause, in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde haben. Die sich nicht von ihrer Meinung abbringen lassen, es handele sich um Jungs und Mädels, die vielleicht Fehler gemacht haben (vielleicht!), aber sicher zu Deutschland gehören (sicher!). Sind sie deshalb Nazis? Nein, es findet sich ein großer Sigmar, der sie freispricht.
Wir werden sie aber weiter als Nazis bezeichnen. Wir werden den Untergrund ausleuchten, hochzerren, verraten. Bloß fehlt uns leider in Thüringen, in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, in Berlin und erst recht in Hessen ein Fritz Bauer, der das große Schweigen durchbricht.