Indiens Söhne

Sie wolle mit ihrem Dokumentarfilm die Proteste für Frauenrechte in Indien unterstützen, so die britische Filmemacherin Leslee Udwin. »India’s Daughter« handelt von der Vergewaltigung und Ermordung der indischen Studentin Jyoti Singh durch eine Gruppe Männer in einem Bus in Del­hi im Dezember 2012. Das Verbrechen hatte in Indien breite Proteste zur Folge, die alltägliche Gewalt gegen Frauen wurde öffentlich diskutiert und schärfere Gesetze gegen Täter wurden erlassen. Das Verbrechen und die Reaktionen hätten sie sehr bewegt, so Udwin. In »India’s Daughter« wollte sie zeigen, welche frauenverachtende Denkweise bei den Gewalttätern, aber auch in großen Teilen der Gesellschaft vorherrscht und wie diese entsteht – um ihr etwas entgegenzusetzen. Um die Tat zu rekonstruieren, sprach Udwin nicht nur mit den Eltern und Freunden Singhs, sondern auch mit einigen ihrer Vergewaltiger und Mörder sowie deren Anwälten. Es kommt vor allem der zum Tode verurteilte Busfahrer zu Wort, der im Gefängnis auf seine Berufung wartet. Er sagt ohne jede Reue, dass Frauen aufgrund ihrer Kleidung oder ihres Verhaltens selbst an einer Vergewaltigung schuld seien und dass sie abends auf der Straße nichts zu suchen hätten, sondern Hausarbeit verrichten sollen. Außerdem hätte sich Singh nicht wehren sollen, dann wäre sie noch am Leben.
Diese Auffassung ist so erschreckend wie bekannt, doch nun wird Udwin kritisiert. Die indische Regierung ließ die Ausstrahlung des Films, der am Weltfrauentag am 8. März in mehreren Ländern gezeigt wurde, in Indien verbieten – angeblich wegen jener frauenverachtenden Aussagen und fehlender Drehgenehmigungen der Gefängnisleitung. Letzteres bestreitet Udwin vehement. Indiens Regierung befürchte offenbar vielmehr einen Imageschaden für das Land und ein erneutes Aufflammen der Proteste. Doch auch einige Frauenrechtlerinnen kritisieren Udwin dafür, dass sie Vergewaltigern eine Bühne biete. Viele Inderinnen und Inder loben jedoch den Film als wichtigen Beitrag im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Noch erschreckender als die Aussagen des ungebildeten Busfahrers seien nämlich die der Anwälte, die Gewalt gegen in ihren Augen unangepasste Frauen rechtfertigen. Der Film wird misogyne Zuschauer kaum umstimmen, aber Diskussionen hat Udwin allemal ausgelöst. Denn es ist die Gewalt gegen Frauen, die weder auf der Straße noch zu Hause etwas zu suchen hat.