Hexenjagdflüchtlinge in Ghana

Die Hexe erscheint im Traum

In Ghana müssen Frauen, die der Hexerei bezichtigt werden, aus ihren Dörfern fliehen. Im Norden des Landes werden sie in Siedlungen aufgenommen, in denen sie halbwegs in Sicherheit leben können. Jetzt will die Regierung diese Zufluchtsorte schließen.

Es ist Trockenzeit im Norden Ghanas. Buschfeuer hinterlassen verkohlten Boden. Der Harmattan nagt von der nackten Krume feinsten roten Staub ab, formt ihn zu roten Windhosen, die über den Marktplatz von Kpatinga huschen. Dem Städtchen sieht man kaum noch an, dass hier während des »Guinea Fowl War« von 1994/95 alle Häuser brannten. Damals kämpfte die ethnische Gruppe der Konkomba gegen die Feudalherren der Dagomba um das Recht, das knapper werdende Ackerland zu verwalten. Nach einem Bauernkrieg mit 20 000 Toten konnten sich die Konkomba durchsetzen. Vom Krieg hört man heute nur noch unter der Hand, besser, man lebt wieder in Frieden miteinander.
Das gilt aber nicht für alle. Gegen die »Hexen« geht der Bürgerkrieg weiter. Von ihnen sagt man, sie flögen nachts aus ihren Körpern heraus und fräßen die Astralleiber anderer Menschen, so dass diese an Leib und Seele erkrankten und stürben.
Kpatinga unterscheidet sich von anderen Dörfern in Nordghana vor allem durch eine Ansammlung bunter Hütten auf einem Hügel vor der Stadt. In dieser Siedlung wohnen 43 ältere Frauen, die alle der Hexerei beschuldigt wurden. Das geschieht jedes Mal nach demselben Muster: Jemand in der Nachbarschaft hatte den typischen »Hexentraum« von einer alten Frau, die einen Kranken oder Sterbenden durch den Busch jagt, mal mit einer Machete, mal in Form eines schwarzen Stieres. Die Frau, die in einem solchen Traum erkannt wird, kommt nach Kpatinga. Hier garantiert ein Erdschrein Sicherheit vor Lynchmorden. Die geweihte Erde um eine unspektakuläre Ansammlung von Bäumen verbietet Blutvergießen und neutralisiert so auch die mörderische Macht der Hexen, so glaubt man. Weil man lieber sichergehen will, verabreicht Damba, der Erdpriester von Kpatinga, auch noch einen Trank aus Wasser, Kräutern und Erde – damit wäscht man die Hexenkraft aus dem Bauch raus. Weil diese auch in den Haaren sitzt, lässt er zudem den Kopf der Frauen rasieren.
Um aber festzustellen, ob die Person wirklich eine Hexe ist, wird ein Huhn geschlachtet. Verendet es auf dem Bauch, ist das ein Freispruch, stirbt es auf dem Rücken, gilt das als Schuldspruch. Auch die Frauen, die freigesprochen wurden, halten nichts vom Ordal. Und so tief reicht der Glaube nicht, als dass er individuelles Ressentiment und Stigmatisierung auslöschen könnte. Die »Unschuldigen« wissen, was sie erwartet, und das Asyl verspricht Sicherheit und das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie bleiben meistens in Kpatinga. Mit dem sympathischen Priester pflegen die Frauen einen scherzhaften Umgangston. Nicht wenige erhalten auch regelmäßig Besuch von Verwandten.

Vor dem Krieg lebten in Kpatinga sogar über hundert Hexenjagdflüchtlinge in Lehmhütten. Als die Truppen der Konkomba das Asyl in Brand steckten, bekamen es die Konkomba-Frauen dort mit der Angst zu tun. Was, wenn die schon herannahenden Dagomba-Truppen ihre Wut an den wehrlosen alten Frauen ausließen? Eine wilde Massenflucht setzte ein.
»Drei Tage und Nächte bin ich durch den Busch gerannt. Ich habe meinen Urin getrunken, um zu überleben. Eine Leprakranke starb schon ganz am Anfang – ohne Wasser, wie soll eine Leprakranke das überleben? An einer Straßensperre wurde ich dann von Dagomba verprügelt und ausgeraubt, mein Schädel war gebrochen. Nur in meinen Unterhosen und blutüberströmt hat mich dann ein Konkomba aufgesammelt und zu meinem Sohn gebracht. Dort konnte ich aber als ›Hexe‹ nicht lange bleiben, wenn jemand krank geworden wäre, hätte man mich wieder beschuldigt. Also bin ich hierher gegangen.«
Die Frau, die das erzählt, lebt heute in Nabule, einer Konkomba-Siedlung, 80 Kilometer nördlich von Kpatinga gelegen.
Der Legende nach hatte der Chief von Nabule damals sieben Kriegs- und Hexenjagdflüchtlingen aus Kpatinga Asyl gewährt. Rasch verbreitete sich die Neuigkeit, dass Nabule nun auch »Hexen« aufnehme. Ende der neunziger Jahre lebten dann schon über 70 Frauen in einem Ghetto am Ortsrand von Nabule. Größere Fluchtorte wie Tindang oder das berühmte Ghetto für Hexenjagdflüchtlinge in Gambaga gab es schon vor über 100 Jahren. Nach Meningitisepidemien und den damit einhergehenden Hexenjagden wuchs in Gambaga die Zahl der Insassen. Bis zu vier Frauen schliefen mitunter in einer der kleinen runden Hütten. Erst um 1960 begannen Kirchen, den Flüchtlingen zu helfen. Anfang der neunziger Jahre wurde dann die Regierung von Medienberichten über Gambaga aufgestört. Sie kündigte hastig die Schließung des Ghettos an.
Dort arbeitete Simon Ngota bereits mit dem »Gambaga Outcast Home Project« daran, die Situation der Flüchtlinge durch Nahrungsmittel und Krankenversorgung zu verbessern. Ihm gelang es, die Regierungsdelegation von der Bedeutung des Ghettos zu überzeugen. Schließlich sorgten die Hexereianklagen in den umliegenden Dörfern für Zustrom, eine Schließung war nicht im Interesse der Flüchtlinge. Erst nach Verhandlungen konnte eine Reintegration der Flüchtlinge stattfinden, jeweils unter ganz individuellen Bedingungen. Über 500 Frauen hat Simon Ngota in Gambaga mit ihren Familien wieder vereint. Mal war die Rückkehr kein Problem, mal forderten die Dorfältesten einen Hausarrest für die rückkehrende »Hexe«, mal musste eine Frau an einem anderen Ort ganz neu angesiedelt werden. Manche kamen zurück und wurden erneut angeklagt. Zwei wurden nach ihrer Rückkehr sogar getötet. Simon Ngota hat ein ausgefeiltes System von Vorab- und Folgebesuchen entwickelt, um das allen bekannte Risiko zu minimieren. Stimmen alle Parteien zu, bleibt noch die obligatorische Auslöse zu entrichten. Die Erdpriester möchten eine Pacht für die Herberge auf Gemeindeland. Mehr noch: ein Schaf und 20 Euro garantieren, dass die Verwandten es wirklich ernst meinen mit der Rückkehrerin.
2007 versiegten plötzlich die Fördermittel für das erfolgreiche »Go Home Project«, das bereits im »Bradt Travel Guide« als Touristenattraktion beschrieben wurde. Simon Ngota schrieb Förderanträge, die immer wieder abgewiesen wurden. Im Jahr 2009 arbeitete er schon zwei Jahre lang auf Basis eines kärglichen Stipendiums. Dann verschärfte sich auch noch der Krieg zwischen den Stämmen der Kusase und der Mamprusi. Mamprusi-Extremisten exekutierten einen Kusase in einem Krankenhaus im Nachbarort. Es kursierte das Gerücht, dass sie im Kernland um Gambaga sämtliche Gebildeten ausrotten wollten.

Simon Ngota, ein Kusase, floh bei Nacht und ­Nebel, schlief in einer Polizeistation und entkam auf neutrales Gebiet. Seine Familie ließ er nachholen. Das »Go Home Project« war stillgelegt, die Frauen wieder sich selbst, dem Erdpriester und den Journalisten überlassen, die regelmäßig das Ghetto besuchten, ein oder zwei Tage blieben, um dann die immer gleichen Berichte zu schreiben.
Ngota wollte und musste weiter mit Hexenjagdflüchtlingen arbeiten. Mit einem monatlichen Budget von 200 Euro baute er in Gushiegu das »Witch-hunt Victims Empowerment Project« (WHVEP) auf. Das Heim in Gushiegu beherbergt 120 Hexenjagdflüchtlinge. Das Besondere an diesem Ort ist, dass es sich um das einzige säku­lare Asyl im Land handelt. Hier gibt es keinen Erdschrein, keine exorzistischen Tränke, keine Kopfrasuren. Doch herrschte am Anfang noch bittere Armut. Im Jahr 2011 litt die Hälfte der 120 Flüchtlinge an sichtbaren Krankheiten wie der Flussblindheit, man trank braunes Wasser aus einem offenen Wasserloch. Den 400 Flüchtlingen in den nahegelegenen Ghettos in Nabule, Kpatinga und Tindang ging es nicht viel besser. Krankenkassengebühren verschlangen einen Gutteil des nur langsam wachsenden Budgets. Dann sprang die dänische Organisation »Seniors Without Borders« mit ein. Derzeit sorgen zwei bis drei Hektar Land, jährliche Beihilfen zum Ackerbau und täg­liche Besuche für eine relativ gute Gesamtsituation in Gushiegu, Kpatinga und Nabule. Kinder, die in den Asylen als Arbeitshilfen mit ihren Großmüttern oder Müttern leben, wurden eingeschult. Trotzdem fehlen noch die Mittel, wirklich effektiv in allen erreichbaren Asylen zu arbeiten und dort auch Rücksiedlungen anzubieten.
Viele Frauen sehnen sich danach, zu ihren Kindern und Enkeln zurückzukehren. Andere sind voller Groll auf ihre Herkunftsorte, wo sie gefoltert und geschlagen wurden. Für sie müssen die Asyle dauerhaft aufrechterhalten werden. An den älteren Institutionen in Tindang und Kukuo sind längst Nachkommen sesshaft geworden. Kaum jemand kann sich hier vorstellen, wie es funk­tionieren soll, die Siedlungen aufzulösen.
Genau das aber will die Regierung nun wieder einmal versuchen. Die Asyle im Hinterland gelten als Zeichen der Rückständigkeit. Das liegt zum Teil an den Medien, die Erdpriester zu oft als Erpresser und dämonische Sklaventreiber beschreiben – ein Bild, das den zumeist sehr freundlichen älteren Herren in den Asylen ebenso spottet wie den Beteuerungen der Frauen, gut mit ihnen auszukommen.

Die Frauenministerin, Nana Oye Lithur, eine respektable Person, die einst im zutiefst homophoben Ghana ankündigte, die Menschenrechte von Homosexuellen zu verteidigen, wollte so rasch wie möglich eines der nationalen »Schandmale« schließen. Dafür wurde Banyasi ausgewählt, das kleinste Asyl. Es beherbergte fünf Hexenjagdflüchtlinge und eine Erdpriesterin. Die wurde mit einer Getreidemühle und einem Lastenmotorrad für die Stilllegung ihres Schreins entschädigt. Was dann folgte, sorgte in den anderen Asylen für Unmut. Man hatte 50 Frauen aus Tindang und Kukuo, den beiden größten Ghettos, über 300 Kilometer nach Banyasi gefahren, sie dort fotografiert für die Zeremonie, eine Broschüre gedruckt mit ihren Fotos, und sie dann zurückgeschickt in ihre Ghettos. In der Hauptstadt Accra feierte man pompös die »Reintegration« von 55 Frauen und die Schließung eines der Ghettos. Übermütig gab man an, bereits über 250 Frauen »reintegriert« zu haben. Online applaudierte ein wenig informiertes Publikum der ghanaischen Regierung für die Fortschritte der Aufklärung, die ins Hinterland getragen werde.
Auf meiner Reise durch alle Asyle stoße ich im Januar 2015 auf wütende Hexenjagdflüchtlinge und auf Frust. Von den fünf Frauen in Banyasi fand ich mit Simon Ngotas Hilfe zwei im Ghetto von Tindang wieder. Dort hatte man von Rücksiedelungen nichts gehört. Auch in Kukuo waren alle Frauen, die man nach Banyasi gebracht hatte, wieder zurückgekommen, frustriert von der sinnlosen Fahrt. Von systematischen Reintegrationsmaßnahmen weiß hier niemand etwas. Lediglich in Kpatinga wurden 13 Frauen zurückgesiedelt – von Simon Ngota. In Gambaga schwelt der Zorn auf die Regierung und die Organisationen, die kollaboriert haben. Als die Frauen in Gambaga von der Schließung des Schreins in Banyasi hörten, konnten sie nächtelang nicht schlafen. Sie waren voller Angst: Wann würde ihr Asyl geschlossen? Dabei hatte die Regierung sich bereits eindeutig zur Aufrechterhaltung der Siedlung in Gambaga bekannt. 2013 wurde mit einem Spatenstich der Bau des ersten regierungsoffiziellen Fluchtortes für Hexenjagdflüchtlinge eingeleitet. Aber es fehlte am Willen, sich auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge einzulassen. Der Rohbau liegt zwei Kilometer vor den Toren des Stadt. Wohnen die alten Frauen seit über einem Jahrhundert direkt am Marktplatz, werden sie sich nach der Umsiedelung in die Stadt schleppen müssen, um hier Brennholz zu verkaufen oder Getreide zu kaufen. Der Wunsch nach schnellen, medienwirksamen Aktionen hatte auch hier die Hilfe für die Flüchtlinge ins Ge­genteil verkehrt.
Simon Ngota beobachtet diese immer wiederkehrende Entwicklung mit Sorge. Wer spendet schon für seine Arbeit, wenn Regierungen die Schließung der Ghettos ankündigen oder vollmundig der Öffentlichkeit versichern, sich um das Problem zu kümmern.
Zu allem Überfluss fälschte eine übereifrige NGO die Zahlen der Flüchtlinge, um Spenden von Nichtsahnenden einzuwerben: Über 100 Kinder wohnten im Asyl von Kpatinga, so behauptet der wenig fundierte Bericht. Simon Ngota weiß, dass es sechs sind. Er hat sie eingeschult und kommt jede Woche vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Nun muss er Journalisten einladen und wieder die Zahlen erklären, die er in jahrzehntelanger Arbeit erarbeitet hat – um die Ergebnisse dann bei einer anderen NGO oder einer Regierungskommission als deren eigene Zählung zitiert zu sehen. Lediglich die katholische Kirche hat sich in zwei der Ghettos als verlässliche Partnerin erwiesen. Die nigerianischen Nonnen missionieren zwar in den Asylen, die Kirchenführung baut aber auch Hütten und Brunnen. Andere Sekten missionieren in den Ghettos, ohne je Hilfe geleistet zu haben. In Kukuo, dem größten Fluchtort, gibt es heute sogar eine große Moschee – aber die 1 700 Einwohner klagen über Wassermangel.
Unter Aufklärung gegen Hexenjagden verstehen Kirchen die Missionierung, der Staat will das Gewaltmonopol herstellen, schafft aber nur eine verzerrte Simulation. Die Ghanaer erhoffen sich, gegen alle Evidenz, dass das Problem mit Schulbildung von selbst verschwinden werde. Die Geschichte lehrt aber, dass man dafür bestimmte Ideologien gezielt angreifen muss. Daher fährt Simon Ngota mit acht Frauen aus Gushiegu auf die Dörfer und führt dort an Markttagen kleine Theaterstücke auf, in denen eine Anklage inszeniert wird. Danach wird das Publikum ermahnt, dass niemand der Hexerei angeklagt werden solle. Oft treten Zuhörerinnen vor, berichten von ihrer eigenen Anklage und solidarisieren sich. So funktioniert Aufklärung.