Der FN bei den Bezirksparlamentswahlen in Frankreich

Erst der Bezirk, dann die Nation

Der Front National könnte in den französischen Bezirksparlamentswahlen zur stärksten Partei werden. Die Ansichten über die Gefährlichkeit eines solchen Wahlsiegs gehen auseinander.

Der amtierende Premierminister Manuel Valls hat sich für die Dramatisierung entschieden: »Ich habe Angst, nicht um mich, sondern um mein Land.« Er habe »die Furcht, dass es am Front National zerschellt«, sagte er am vorvergangenen Sonntag in einer Fernsehsendung und erwähnte die Möglichkeit, die rechtsextreme Partei könne 30 Prozent der Stimmen erhalten – »nicht im zweiten Wahlgang, sondern im ersten Durchgang bei den Bezirksparlamentswahlen«. Diese finden in ganz Frankreich mit Ausnahme von Paris und Lyon, wo Stadtrat und Bezirksparlament in eins fallen, an den letzten beiden Sonntagen im März statt.

Valls’ Wahlprognose ist realistisch, wie bisherige Umfragen zeigen. Allerdings wird auch eine Wahlenthaltung von ungefähr 57 Prozent vorausgesagt, was vergleichbar wäre mit der Quote der Nichtwähler bei der Europaparlamentswahl im Mai vergangenen Jahres in Frankreich. Der Premierminister fügte hinzu, bei einem solchen Ergebnis könne die extreme Rechte »auch die Präsidentschaftswahl gewinnen, nicht 2022, sondern schon 2017«.
Die Reaktionen auf diese Aussagen, denen weitere folgten – am Dienstag vergangener Woche erhob Valls den Anspruch, er wolle »den FN bis zum Schluss stigmatisieren« – fielen unterschiedlich aus. Häufig ist die Rede davon, die Worte des rechten Sozialdemokraten seien wahltaktisch motiviert. Jean-Luc Mélenchon von der französischen Linkspartei, der während seiner Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2012 selbst als vorgebliche Speerspitze im Kampf gegen die extreme Rechte antrat, sich jedoch bei den darauffolgenden Parlamentswahlen in einer Wahlkreiskandidatur gegen Marine Le Pen eine herbe Niederlage einhandelte, wirft Valls »zynisches Kalkül« vor. Auch bei den französischen Konservativen herrscht Aufregung. Ihre Vertreter, wie etwa die frühere Justizministerin Rachida Dati, behaupten, Valls wolle den FN gezielt größer werden lassen und zur Alternative zu den Sozialisten aufbauen.
Aus solchen Einschätzungen spricht auch die Furcht, zwischen einer faktisch wirtschaftsliberal regierenden Sozialdemokratie und einem als »soziale und nationale Alternative« auftretenden FN zerrieben zu werden. Zugleich setzen tatsächlich manche Mitglieder der sozialdemokratischen Führung darauf, dass eine Polarisierung politisch nützlich sein könnte, bei der am Ende nur die Wahl bleibt: »Die oder wir« – also ein Verbleib der derzeit Regierenden an der Macht oder das Abdriften in ein rechtsextremes Expe­riment. Die Konservativen sind hingegen mittlerweile zum Teil eng mit der extremen Rechten verflochten, wie etwa eine gemeinsame Sylvesterfeier der Parteijugend von UMP und FN in Pa­ris vor zweieinhalb Monaten zeigte. Die bürgerliche Rechte ist angesichts einer solchen Konstel­lation jedoch tief gespalten.

Manche sozialdemokratische Parteifunktionäre sind wiederum versucht, den FN im Gespräch zu halten und ins Zentrum innenpolitischer Debatten zu rücken, um auf diese Weise die derzeitige Situation zu zementieren. Davon erhoffen sich diese Strategen, ohne ihre Politik zu ändern und ohne auf die sozialen Wünsche gerade der linken Wählerschaft einzugehen, dennoch als »Verteidiger der Republik« an der Regierung bleiben zu können. Bei einem Rundfunkauftritt bei Radio France Info am 19. Februar klang der rechtssozialdemokratische Bürgermeister von Lyon, Gérard Collomb, absolut enthusiastisch, als er auf die Frage nach den innenpolitischen Widersprüchen gerade bei seiner Partei ausrief: »Nur der Schock in Gestalt von Marine Le Pen kann alle Beteiligten sensibilisieren und dafür sorgen, dass man diese künstlichen Grabenkämpfe überwindet.« Die Bedrohung möge also innerpartei­liche Kritiker der wirtschaftsliberalen Politik der Regierung endlich zum Schweigen und in Reih und Glied bringen.
Derzeit wird auch erwartet, dass in Bezirksparlamenten, in denen der FN zur stärksten Partei werden kann, ein Teil der konservativen Stimmen der Partei Le Pens zur Übernahme künftiger Bezirksregierungen verhelfen könnte. Als möglich erachtet wird dies derzeit für die Bezirksparlamente in Toulon und Avignon in Südostfrankreich, in Laon in der Picardie und in Arras im Nordosten des Landes. Seit den letzten französischen Kommunalparlamentswahlen vom März 2014 regiert die extreme Rechte in jedem der betreffenden Départements in einem oder mehreren Rathäusern. Zu den bevorstehenden Bezirksparlamenten tritt der FN in über 92 Prozent der als »Kantone« bezeichneten bezirklichen Wahlkreise an. Dies bedeutet ungefähr 7 650 Kandidaturen von Einzelpersonen, 2011 gab es 2 720 Bewerber des FN zu den Bezirksparlamentswahlen. Das ist ein erheblicher Aufwand für eine Partei, die zwar vorgibt, über etwa 80 000 Mitglieder zu verfügen, in Wirklichkeit jedoch nur über die Hälfte davon hat, wie die Auswertung der Mitgliedervoten anlässlich des FN-Parteitags im November 2014 in Lyon belegt.
Deswegen tauchen auch dieses Mal, wie bereits bei den Kommunalwahlen im März vergangenen Jahres, vereinzelt Bewerber auf, die unfreiwillig, ohne ihr Zutun oder ohne sich dessen bewusst zu sein, auf Kandidatenlisten des FN stehen. So erging es beispielsweise einer sehbehinderten, über 70jährigen Frau in der Auvergne, die inzwischen Strafanzeige erstattet hat.
Dies ist beileibe nicht das Schlimmste. Am schlimmsten sind die Aussprüche einiger Kandidaten, bei denen es sich nicht um geschulte langjährige Angehörige des Führungspersonals handelt. Mindestens 20 handfeste Skandale wurden durch diverse Presseorgane an die Öffentlichkeit befördert. Sie belegen, dass der FN nach wie vor eine Partei ist, die Verschwörungstheoretiker, Rassisten und Hitler-Fans anzieht wie das Licht die Motten, auch wenn die rechtsextreme Partei dort, wo einzelne Kandidaten allzu heftig und negativ für das Image über die Stränge schlagen, einschreitet und Sanktionen oder Ausschlüsse verhängt.

Eine Kandidatin in den Westpyrenäen schlug etwa vor, »die Araber auf ein Schiff zu setzen und (dieses) zu versenken«. Ihr droht der Parteiausschluss. Ein Kandidat im südwestfranzösischen Bezirk Aveyron füllte das Internet mit Ergüssen wie diesem, gespickt mit Rechtschreibfehlern: »Die Juden verdienen, getötet zu werden, wie sie Jesus getötet haben.« Sein Kreisverband schloss ihn aus der Partei aus. Ein Kandidat in Narbonne – bislang nicht ausgeschlossen – sprach sich, ­angeblich im Scherz, für »Treibjagden auf Wildschweine, Wölfe, Luchse und auf Araber« aus. Ein Aushilfskandidat im Bezirk Ardèche erklärte seiner Parteivorsitzenden im Internet: »Marine, du bist die Reinkarnation von Adolf Hitler!«
Ende vergangener Woche wurde ein weiterer Fall bekannt. Jean-François Etienne, Kandidat im französischen Zentralmassiv, hatte in den so­zialen Medien gefordert, »ein oder zwei dieser Abfallschiffe zu versenken«, und dazu Bilder von afrikanischen Migranten auf überfüllten Flüchtlingsbooten gezeigt. Über die karibikfranzösische Justizministerin Christiane Taubira ließ er sich mit den Worten aus, man werde »sie zu finden wissen, wenn die Revolution ausbricht«. Am Donnerstag vergangener Woche gab die Parteiführung bekannt, dass sie zehn besonders umstrittene Kandidaten vorläufig von ihrer Mitgliedschaft im FN entbunden habe.