»Fifty Shades of Grey« im Vergleich mit »Cinderella«

Fifty Shades of Colour

Zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Jürgen Kiontke hat sich »Fifty Shades of Grey« und »Cinderella« genauer angeschaut und dabei Gemeinsamkeiten entdeckt

Haha, schlecht sehen kann ich gut, aber gut hören kann ich schlecht« – der Augenarzt ist ganz schön guter Dinge. Schlechte Optik ist seine Geschäftsgrundlage. Ich bin ­gekommen, weil ich eine Brille habe, die aber nie benutze. Außer im Kino und bei der »Sportschau«. Auf dem Fußballplatz wär vielleicht auch nicht schlecht … In den vergangenen Monaten hat die Sehkraft stark nachgelassen, vor allem im Kino. So ganz sicher bin ich aber nicht, ob das nur an mir liegt – schließlich war neulich auch ein großes Filmfest, wo man 40 Filme und mehr schaut. Da guckt man schon mal etwas verschwommen.
Dann gab es »Fifty Shades of Grey«. Bei dem Titel wundert einen ja nichts. Der Film war entgegen landläufiger Meinung nicht so schlecht, auch wenn die Darsteller weniger gut aussehen, als getan wird. Abgesehen vielleicht von Eloise Mumford, die die Mitbewohnerin von Protagonistin Anastasia Steele (Dakota Johnson) spielt.
Es ist zumindest in der ersten Stunde eine recht kapitalismuskritische Studie über die Liebe: Das Paar betreibt einen irrsinnigen Aufwand um seine Zuneigung. Nicht nur wegen Sadomaso: Der Mann muss Milliardär sein, mindestens mit dem Hubschrauber fliegt er die Liebste zum Essen. Beide haben tolle Eltern, obwohl der Junge Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sein soll – wie das wohl geht?
Anastasia jobbt im Baumarkt, wo sie billig an Kabelbinder und sonstigen SM-Krempel kommt. Und sie hatte, Achtung, jetzt kommt’s: noch keinen Sex. Und das in ihrem Alter (Anfang 20).
Die zweite Stunde hält der Film dann aber nicht durch. Die beiden müssten jetzt die Welt retten – eine Atombombe entschärfen vielleicht oder einen Schatz finden. So bleibt’s fade und geht als sehr werkgetreue Literaturadaption durch. Mann trifft Frau, Fesseln, leichte Haue, limitierte Schauspielkunst – das reicht so nicht. Vielleicht hätte man die drei Bücher, die es mittlerweile in der Reihe gibt, in einen Film packen können, nach den ersten 600 Seiten wollen die beiden ja heiraten und eine Familie gründen, na siehste.
Ich hatte das Buch übrigens zu Weihnachten gelesen und wollte das eine oder andere Exemplar verschenken. Aber niemand wollte es haben.
Wie es sich gehört, nehmen Trivialromanfüllsel den meisten Raum ein, leicht modifiziert: Wo die Figuren normalerweise die Lippen schürzen, knabbert Anastasia auf ihrer Unterlippe herum. Das macht sie auf jeder Seite mindestens ein Mal. Im Film dann auch. Alles ganz schön grau in grau.
Es geht aber durchaus noch düsterer, neulich konnte ich den Film »Die Nacht und das Kind« sehen. Dort ging es um Gewalt, Flucht und Vertreibung. Mit dem Kind ging es ja noch eine Weile, dann wurde es aber zusehends – die Nacht! – dunkel. Erst raschelte es noch, dann war Stille. Zehn Minuten stockduster im Kino. »Zehn Minuten? Na, hör mal, das geht doch noch«, sagte mir ein Filmkritiker. Ja, stimmt auch wieder. Aber ob das dann noch Kino ist? »Das Unsichtbare im Film« heißt ein Buchprojekt, das ich seit einiger Zeit verfolge. »Die Nacht und das Kind« müsste unbedingt da rein. Da ist sogar der Film unsichtbar.
Nicht zu sehen in »Fifty Shades of Grey« dagegen sind Spannung, Witz, Entertainment. Es gibt Leute, die gehen nur dafür ins Kino.
Was macht eigentlich der Augenarzt im Film? In »Minority Report« (USA 2002) baut er Tom Cruise zwei neue Augen ein. Es gibt auch den Film »Im Augenblick der Angst« (USA 1987), da sammelt ein Augenarzt, na: Augen. Von seiner üblen Mutter manipuliert, begeht er grauenhafte Morde.
»Ich liebe Brillen, Gleitsicht kommt mir nicht ins Haus. Lieber überall ’ne Lesebrille rumliegen haben«, sagt mein Medizinmann. Ob er ein – dunkles – Geheimnis hat? Eigentlich hat er nur Klamotten aus den achtziger Jahren an, sonst ist er ganz nett. »So, hier ist Ihre Verordnung, damit jeense mal zum Optiker. Viel Spaß von hier aus«, sagt er. Und: »Kino ist mir zu anstrengend, ich guck aber gern ›Dr. House‹, ich hab mal im Krankenhaus gearbeitet. Ick hab ja ooch ne Praxis.«
Nun habe ich eine neue Brille. Es geht mir richtig gut. Denke ich zumindest nach dem ersten Film, den ich mit dem neuen Sehgerät gesehen habe. Der ist bunt. Erheblich bunter als alles bisher Dagewesene, selbst bunter als »Grand Budapest Hotel«, dieses öde, aber recht farbenhaltige Exponat.
Ich war in »Cinderella«. Kenneth Branaghs Film ist alles, was sonst nicht ist: knallig, liebreizend, intelligent. In keiner Sekunde weicht er von den Zuschauererwartungen ab – bloß nicht! Sondern liefert, was im Titel versprochen wird: »Cinderella«. Die – gespielt von einer unglaublich aufgeräumten Lily James – ist so furchtbar blond wie schön, jedoch ins Unglück gefallen. Die Schwiegermutter ist ein ekliges Aas, aber gut besetzt (Cate Blanchett), die Stiefschwestern abgrundtief verrottet; die Tiere aber sind graziös und helfen (Mäusefamilie!). Ein Hoch auf die Freundschaft.
Gläserner Schuh, das große Fest, die gute Fee – bald schon naht die Rettung. Schöner Prinz (Richard Madden), Heirat (heterosexuell), und wenn sie nicht gestorben sind, sind sie auch heute noch glücklich. »Fifty Shades of Colour« sozusagen, das filmische Gegenstück zur SM-Schmonzette: Hier gibt es alle Farben, nur grau, das gibt es bestimmt nicht. Dort Winter, hier Frühling.
Cinderella fliegt auch nicht mit dem düsteren Firmen-Heli zum Essen, sondern fährt mit der goldenen Kutsche in die rauschende Ballnacht, die die kleine, bunte gute Fee aus ­einem Riesenkürbis gezaubert hat. Aufwand wird auch hier betrieben, aber mit besseren ­Ergebnissen. Um zwölf ist Schluss mit dem schönen Zauber, Ella ist wieder die schmutzige Ella. Der Prinz muss sie im ganzen Land suchen lassen.
Geweint wird auch. Aber vor Rührung! Und wo sich das Pärchen in »Fifty Shades of Grey« um das Grauen eines menschenfeindlichen Finanzsystems dreht, da sind die Statements in »Cinderella« von geradezu zukunftsweisender Qualität. »Nein, wir brauchen keinen Fachkräfteimport«, sagt der junge Prinz, als er die Staatsgeschäfte übernommen hat und gerade erschreckt in die Staatskasse geschaut hat. »Wir entwickeln, was wir selbst sind. Unsere eigenen Menschen und Ressourcen.«
Gemeinsam mit Cinderella macht er auf good governance, mit guter Peitsche sozusagen. Alle sehen prima aus, und wer sich nicht benimmt, geht einfach ins Exil. Welches ist jetzt die modernere Liebesgeschichte? Na, in dem Land würde man auch gern leben.
Kenneth Branaghs Film ist ein flammendes Plädoyer für die Monarchie in Zeiten weltpo­litischer Unübersichtlichkeit. Vielleicht sollte man sich diesen Vorschlag aus der Kultur ja mal als Modell für die Europäische Union durch den Kopf gehen lassen. Vorausgesetzt, genau die Personen sind an der Macht, die es im Film auch sind. Abgesehen davon: Im Unterschied zu »Shades of Grey« hält dieser Film locker zwei Stunden durch. Die Sexszenen sind in beiden vernachlässigungswürdig. Von »Die Nacht und das Kind« mal nicht zu reden, der läuft nachts um drei bei Arte und wird sofort weggezappt. Auch deswegen ist er vorgemerkt für das Unsichtbare im Film. Einen Augenarzt hat »Cinderella« übrigens nicht, der Prinz ist auch nur zeitweise mit Blindheit beschlagen.
Dabei sorgt eine neue Optik dafür, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

»Cinderella« (GB/USA 2015). Regie: Kenneth Branagh. Darsteller: Cate Blanchett, Lily James. Bereits angelaufen.
»Fifty Shades of Grey« (USA 2015). Regie: Sam Taylor-Johnson. Darsteller: Dakota Johnson, Jamie Dornan. ­Bereits angelaufen.