Wolfgang Möstl und die Wiener Underground-Szene

Fremd im eigenen Lied

Wolfgang Möstl, Mile Me Deaf und der Wiener Gitarren-Underground.

Wolfgang Möstl ist erst 30 Jahre alt, hat aber so viel Musik veröffentlicht, dass es locker für die doppelte Lebensspane reichen würde. 500 Songs soll er geschrieben haben, in etwa. Der junge Mann ist Dreh- und Angelpunkt der Wiener Untergrundszene, wenn es um Noise geht, um Gitarrenmusik, um Grunge-Ausläufer – um alles eigentlich, was man mit jener Coolness etikettieren würde, deren Initialzündung Sonic Youth einst vornahmen: schwarze Sonnenbrillen, zu große Pullover, Kaugummis, strähnige Haare. Während ich mit ihm spreche, sitzt der sympathische junge Mann hin- und herschwingend auf einem opulenten Bürosessel in seinem Studio in Graz, wo er zur Zeit das neue Album der Chemnitzer Band Suralin produziert. Möstl, der eigentlich auf einem winzigen Dorf bei jungen, musikverliebten Eltern großgeworden ist, pendelt zwischen Wien und Graz, in seiner Wahlheimat ist er mehr Musiker, in Graz steht sein Studio – aber natürlich vermischt sich das ohnehin. Nebenher arbeitet er gerade auch mit den Sex Jams, zu denen er kurz nach deren Gründung stieß. Die Band nimmt eine neue Platte auf, Möstl spielt dort Gitarre. Und dann sind da auch noch Goldsoundz und Melt Downer. Eigentlich wollen wir uns aber doch über das taufrische Album »Eerie Bits Of Future Trips«, das er im April unter dem Namen Mile Me Deaf veröffentlichen wird, unterhalten. Wer soll da den Überblick behalten? Möstl, ein vielbeschäftigter Mensch …
Mile Me Deaf, das ist Wolfgang Möstls Schlafzimmerprojekt beziehungsweise in diesem Falle auch sein Autobahn-/Tourbus-Projekt; sein Überall-Projekt, wenn man es genau nimmt – im Gegensatz zum erst im vorigen Jahr erschienenen Album »Holography« hat er das neue nämlich nicht im Studio entwickelt, sondern ist zum ursprünglichen Gedanken seines fragmentarischen, skizzenhaften Produzierens zurückgekehrt. »Mile Me Deaf war immer der Versuch, möglichst schnell und möglichst einfach Ideen aufzunehmen. Das führt dann im Songwriting schon zu mehr Kreativität, weil ich einfach mehr ausprobiere – zum Beispiel auf Töpfen zu spielen, statt auf einem Schlagzeug. Wenn man aber im Studio erst das Schlagzeug mikrophoniert hat, will man es dem Schlagzeuger ja nicht antun, seine ganze aufwändige Arbeit nachträglich durch Töpfe zu ersetzen.« Konsequenterweise ging es also zurück an alle möglichen Orte, die nicht Studio sind – so sind die meisten Stücke einer aktualisierten Idee von Lo-Fi entsprechend entstanden: In Smartphones und andere mobile Aufnahmegeräte eingespeist und mit verfremdeten Samples komponiert, war der Weg nie lang, bis sie schließlich ihr endgültiges Arrangement fanden. »Mich hat die Idee total gereizt, auf iPhone-Aufnahmen und Samples aufbauend Loops zu basteln und zu verfremden.«
»Eerie Bits Of Future Trips« ist aus Aufnahmen entstanden, die eigentlich für Demos gedacht waren, dann aber in ihrer Spontanität so originell klangen, dass sie letztlich Material blieben. Die Platte bricht dadurch gleich mehrfach das Bild vom Rockmusiker, der nach stundenlanger Mikrophonierung im Studio auf Band aufnimmt, und das dann auch noch am liebsten analog. Hier gilt vielmehr: iPhone-App statt Vintage-Amp. Oder, um Konzept und Sound in Referenz zu setzen: MF Doom trifft Deerhunter. Später, in der Live-Umsetzung, gibt es dann wieder eine vollbesetzte Band.
Beim ersten Stück, »Digital Memory File«, finden wir einen Flickenteppich verschiedener Tonquellen, die zu einem Popsong verbunden wurden, veredelt durch Möstls lässigen Gesang. Dieser Klangpluralismus entspricht auch dem Mile-Me-Deaf-Universum, wie ihn das Cover des 2014 erschienen Albums »Holography« illustriert: ein Sgt.-Pepper’s-Rip-Off der Beatles mit Verweisen auf popkulturelle Bedeutungsträger, Zitate aus Film und Literatur, ein Spiel der Zeichen. Möstls Werk ist durch und durch postmodern, er jongliert mit dem nerdigen Wissen der besserinformierten Generation, was thematisch schon mal ins Absurde neigt.
»Digital Memory File« ist ein paradigmatisches Möstl-Stück, das auffälligste Merkmal des Openers ist eine dominante Melodie, die einem Synthesizer entstammen könnte und in ihrer klanglichen Präsenz an den Song »God« der Österreicher Naked Lunch erinnert. Mit der Frage nach deren Comeback-Album, »Songs For The Exhausted« – auf dem sich auch »God« befindet –, lande ich bei Möstl einen Volltreffer: »›God‹ ist fast eine Blaupause, die ich immer wieder hernehme und die bei allen meinen Bands auftaucht, weil ich total auf dieses Spiel zwischen unsagbar laut und dann wiederum fast schon schön abfahre.« Das Album ist für Möstl jedoch nicht nur eine Inspiration, sondern gar ein Schlüsselmoment: »Damals, als das rauskam, habe ich mit so Punks abgehangen, und wir haben Crustcore gemacht und auf der Probe dann zwischendurch das Naked-Lunch-Album gehört, das war total das wichtige Erlebnis.«
Damals, das war 2004. Im selben Jahr erscheint das Debüt von Killed By 9V Batteries. Nebenher locker aus dem Ärmel geschüttelt, erblickt außerdem das erste Mile-Me-Deaf-Release das Licht der Welt. Und Mile Me Deaf waren eine Art Ausgleich zu Killed by 9V Batteries, der bisher wohl bekanntesten Band Möstls: »Da habe ich eigentlich gemacht, was mich immer schon interessiert hat – vollkommen frei arbeiten, ohne Diskussionen.« In seinen Alternativvorstellungen zum Tagesgeschäft steckt aber – wie bei allen Dingen, von denen er spricht – niemals ein Argwohn: Die Basisdemokratie bei den »Batteries«, wie er sie charmant nennt, wusste er sehr zu schätzen.
Sowohl die im vergangenen Jahr aufgelösten Batteries als auch Mile Me Deaf erschienen in der ersten Zeit auf dem eigenen Label Numavi, später dann bei dem von Bernhard Kern und Robert Stadlober gegründeten Label Indie Siluh Records. Kern ist auch genau der richtige Ansprechpartner, wenn es um die Szene in Wien geht, sein Label ist seit vielen Jahren ein Knotenpunkt. Aus dem Stegreif zählt er locker 30 lokale Bands auf, die für ihn zum »Slackpack« gehören, wie er sie augenzwinkernd nennt. Kein Ratpack, auch kein Bratpack, nein: ein wilder Haufen Slacker – mit Gitarren! Kern ist kaum zu stoppen, zeichnet einen Stammbaum der Wiener Szene in die Luft. Neben Siluh gibt es da noch Fettkakao und Seayou, besagtes Label Nuvami in der Steiermark, unzählige Protagonisten und Konzertgruppen, die mit Vorliebe im »Rhiz« und im »Venster« – zwei der charismatischen Clubs unter den Rundbögen der Straßenbahn – veranstalten, manchmal auch im »Fluc«. Und dann nennt er noch einen Song der Wiener Gruppe Clemens Denk, die auf dem Label Totally Wired veröffentlichen, das sich auf wavige, kunstaffine Musik aus Österreich spezialisiert hat. Dem Labelnamen entsprechend klingen Clemens Denk auch gleich ein wenig wie The Fall, und ihre Szenebespiegelung schließt direkt an Franz Adrian Wenzels Texte bei Kreisky an: »Aber der Sound ist gut.« Darin geht es um die Haltung der Musiker im Wiener Untergrund: Ob es wem gefällt, ob wir tight sind, ob die Kritiker es verstehen und lobpreisen – scheißegal. Hauptsache, es klingt gut! »Ich finde, Clemens Denk hat damit so was wie den Vogel abgeschossen. Ich meine so ungefähr läuft es in Wien … Is’ ja wurscht. was die anderen sagen, aber der Sound ist gut.« Das Thema des Stückes ist auch die Haltung des »Slackpack«. Natürlich wären kommerzielle Erfolge gern gesehen, aber es geht viel mehr um das Musizieren im großen Netzwerk, um das intensive Erleben des musikalischen Nachtlebens.
Doch es gibt ja auch Bands aus Wien, die durchaus kommerzielle Relevanz besitzen. Bilderbuch etwa, die mit ihrer im wahrsten Sinne des Wortes inszenierten Popmusik den Indie­rock gegen Prince getauscht haben, oder die titelseitenzierenden Ja, Panik, die auch personell aus dem »Slackpack« stammen, und dann noch die schon etwas älteren Kreisky, die humorvoll schimpfend zwischen Shellac und Franz Ferdinand pendeln. Oder eben Wanda, die Start Up-Band der Stunde: »Niemand weiß, dass es uns überhaupt gegeben hat«, singen sie auf ihrem Debüt-Album »Amore«, das Anfang diesen Jahres in aller Munde und Ohren umhergeisterte. Eine tolle Platte, unterhaltsam, dreckig. Dass niemand weiß, dass es sie überhaupt gegeben hat, werden Wanda rückblickend nicht sagen können. Genau wie Bilderbuch, Kreisky und Ja, Panik gehören sie zu den Gruppen, die ihren Ursprung in Wien haben, die aber auch über die Landesgrenzen hinaus breit wahrgenommen werden, kleinere und größere Erfolge feiern. Woran liegt das?
Die Gruppen eint, dass sie in Varianten des Wiener Schmäh texten und singen, jener schimpfenden, manchmal selbstgefälligen Variante des Wienerischen, die zu den ersten Assoziationen gehört, wenn es um Österreich geht. Sie alle erlauben Rückbezüge auf die Kunstsprache Falcos. Wollen das die Musikkritiker, die Zuhörer, die Plattenfirmen von Wien – einen Dialekt? Ist die Sprache ein Kriterium für Erfolg, wenn man als Österreicher Musik macht? Möstl hat nach einer paradigmatischen, frühen Batteries-Probe entschieden, auf Englisch zu singen, weil es ihm unangenehm war, wenn jeder gleich verstehen kann, was er in seinen Texten erzählt. Und auf Englisch kann er sie besser verfremden, seine Ideen, seine Themen. Am Ende hat er Geschichten, die ihm selbst auf Englisch noch zu explizit waren, ausgetauscht gegen nicht mehr nachvollziehbare Bilder, um als Privatperson anonym zu bleiben. Dass es ihm nicht um Lyrics geht, nicht um textliche Intentionen, trotzdem aber viel gesungen wird, steht für Möstl dabei in keinem Widerspruch: »Ich mag die Stimme einfach als Instrument, und es ging auf Englisch immer schneller, coole Gesänge zu entwickeln.« Die englische Sprache schafft hier eine gewisse Distanz zu den Inhalten, vielleicht eine Kunstsprache, mindestens aber eine Verfremdung, was wohl auch damit zusammenhängen mag, dass Möstl Intimität lieber in Klängen als in Worten aufkommen lässt. Das radiert ihn als Person ein Stück weit aus seiner Musik heraus beziehungsweise fokussiert auf den Musiker Möstl, für den Gesang eben Instrument bedeutet und nicht vorrangig Transportmittel für Botschaften ist. Neidische Blicke auf den (finanziellen) Erfolg anderer gibt es aber nicht: Möstl scheint mit seiner Situation recht zufrieden. Als eine Ikone der Musikkultur Wiens kann er das auch sein.