Antwort auf Matthias Küntzels Kritik an der Antisemitismusstudie der TU in Berlin

Kommunikation ermöglichen

Mehr Hinterfragen wagen. Für eine reflexive Auseinandersetzung mit Antisemitismus als Problem und Symbol.

Die Studie »Antisemitismus als Problem und Symbol«, die ich zusammen mit Michael Kohlstruck am Zentrum für Antisemitismusforschung verfasst habe, hat Staub aufgewirbelt, insbesondere seit sich das American Jewish Committee (AJC) kritisch dazu geäußert hat. In der Folge hat Matthias Küntzel unter anderem im Dossier der Jungle World (10/2015) seine Meinung kundgetan. Als Autoren freuen wir uns über das Interesse an unseren Forschungsergebnissen und über kons­truktive Kritik. Jedoch läuft Küntzels Interpretation unserer Forschung im Kern auf die Unterstellung hinaus, wir würden Antisemitismus systematisch kleinreden. Dies verdeutlicht sich in der Behauptung, wir würden offensichtlich antisemitische Beschimpfungen wie »dreckiger Jude« nicht als Antisemitismus klassifizieren.
Dieser Vorwurf wiegt einerseits äußerst schwer und ist falsch; er steht zumindest meinem Selbstverständnis diametral entgegen. Er ist andererseits aufschlussreich angesichts völlig gegensätzlicher Wahrnehmungen der Studie in Teilen der NGO- und Bildungsanbieterszene (diese rezipiert den Bericht rege, unter anderem mit verschiedenen Diskussionsveranstaltungen) und der Medien. So titelte die Süddeutsche Zeitung am 7. Januar an­gesichts unserer Darstellung der hoch problematischen Polizeistatistiken »Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)«: »Deutlich mehr antisemitische Vorfälle in Berlin«. Und die Taz lernte aus unserer Forschung: »Die Zahl antisemitischer Angriffe und Beleidigungen in Berlin ist einer Studie zufolge deutlich höher als aus den bekannten Statistiken hervorgeht.« Denn unser Forschungsbericht kommt zu dem Schluss: »Die PMK liefert (…) strukturell konservative Einschätzungen, Werte also, die das Ausmaß von Antisemitismus tendenziell verkleinern.«

An dieser Stelle sollen nur zwei der falschen Interpretationen Küntzels beispielhaft korrigiert werden. Neben meinem persönlichen Bedürfnis nach Richtigstellung soll dies vor allem zu der Fragestellung führen, welche Konflikte sich hinter der Auseinandersetzung verbergen und ob sich in der polarisierten Diskussion und dem oft unerträglichen Debattenstil nicht doch Ansatzpunkte für inhaltliche Verständigung finden.
Erstes Beispiel: Matthias Küntzel stellt wiederholt die Behauptung auf, unsere Schlussfolgerungen sprächen sich gegen deutsch-israelische Jugendbegegnungen aus. Doch was steht im Bericht: »Begegnungen zwischen Israelis und Deutschen sind ebenso sinnvoll wie der deutsch-französische oder der deutsch-polnische Jugendaustausch. Soweit damit jedoch der Anspruch eines spezifischen anti-antisemitischen Ansatzes erhoben wird, stellen sich fast unweigerlich Zuordnungs- und Zuschreibungsprobleme ein, die gerade auch jugendliche Teilnehmer/innen intellektuell leicht überfordern können. Der Antisemitismuskomplex ist nicht zuletzt deshalb so stark aufgeladen, da de facto die Praxis illegitimer Zuordnungen und Gleichsetzungen (etwa von ›Israel‹ und ›die Juden‹) in den öffentlichen Diskursen dominiert. Arbeitsansätze mit einem dezidiert anti-antisemitischen Anspruch sind hier zu besonderer Klarheit aufgerufen.« (S. 70)

Damit wird die Herausforderung angesprochen, sich pädagogischer Konzepte zu bedienen, die unangemessene Gleichsetzungen tatsächlich überwinden helfen. Begegnungen allein stellen dieses Ergebnis noch nicht sicher. Diese Problematik haben wir uns nicht einfach ausgedacht; sie entstammt den alltäglichen Erfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen in einem schwie­rigen Feld voller Fallstricke. Solche zu reflektieren ist wichtig, weil Bildungsarbeit gegen Antisemitismus immer mit Widerständen, sogenannten Reaktanzen, zu kämpfen hat. Reaktanzen sind auch, aber nicht nur ressentimentgesteuert, sondern hängen unter anderem mit den symbolischen Aufladungen des Themas Antisemitismus zusammen (beispielsweise parteipolitische Aus­einandersetzungen, Konflikte um die Geschichte der politischen Linken und der DDR, Verbindung mit dem Nahost-Konflikt und der deutschen »Staatsräson«). Diese zusätzlichen Aufladungen tragen – so eine der zentralen und empiriegesättigten Thesen der Studie – in der Bevölkerung und nicht zuletzt bei Lehrerinnen und Lehrern zu einer tiefgreifenden Verunsicherung bei und führen ebenso dazu, dass viele das Thema lieber meiden, anstatt sich ihm zu stellen. Politische Arbeit wie auch Bildungsarbeit gegen Antisemitismus oder für Demokratie und Menschenrechte müssen entsprechend Strategien zum aktiven Umgang mit dieser Herausforderung finden.
Zweites Beispiel: Matthias Küntzel, der hier der Interpretation des AJC folgt, schreibt, der Bericht würde explizit jüdischen Organisationen dramatisierende Sichten unterstellen. Auch das trifft nicht zu. Der Bericht unterscheidet vielmehr zwei verschiedene Modi des Redens über Antisemitismus. Es entfaltet sich innerhalb der im Bereich tätigen Organisationen ein Meinungsspektrum zwischen »pessimistischen« und »abwägenden« Positionen, wie wir an verschiedenen Beispielen zeigen. Erstere sehen eine kontinuierliche, umfassende und stetig wachsende Bedrohung durch Antisemitismus, letztere schränken ihre Bedrohungswahrnehmung auf spezifische Bereiche ein und thematisieren Rückgänge oder Wellenbewegungen sowie komplexe Gemengelagen aufgrund intersektionaler Verschränkungen. Dies gilt für jüdische genauso wie für nichtjüdische Akteure. Und es ist zunächst einmal ein deskriptiver Befund, der wohl kaum überraschen kann.
In diesem Sinne muss die besondere Sensibilität des AJC auch ernstgenommen werden, die verständlicherweise und erst recht angesichts der antisemitischen Übergriffe und Terroranschläge seit 2014 aus einer Position der Bedrohung formuliert ist (allerdings untersuchte unsere Studie Berlin 2010 bis 2013 und nicht Europa 2014/15). Sie sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass es auch unter den jüdischen Akteuren völlig gegensätzliche Einschätzungen der Situation gibt.
Mehr Transparenz bei den unterschiedlichen Antisemitismusdeutungen und ihren jeweiligen Hintergründen und den verwendeten Konzepten herzustellen, war – neben einer Bestandsaufnahme unseres Wissens über antisemitische Phänomene in Berlin – der Gegenstand unserer Untersuchung. Das ist eine Fragestellung, die die bisherigen polemischen Kritiken unserer Wahrnehmung nach in keiner Weise ernstgenommen oder geprüft haben. Möglicherweise wurde dieses Anliegen der reflexiven Distanzierung vom Gegenstand zum Zwecke seines besseren und komplexer eingebetteten Verständnisses nicht einmal verstanden.

Meine persönliche, über das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse hinausgehende Motivation für diese Perspektive der »Beobachtung der Be­obachter« liegt auch in der Hoffnung, durch das Transparentmachen überhaupt Kommunikation zu ermöglichen. Denn mittlerweile herrscht selbst im Feld der sich mit Antisemitismus befassenden und sich gegen ihn wendenden Wissenschaft, Bildungsarbeit und Politszene eine Mischung aus einerseits Kommunikationsunfähigkeit auf Basis völlig inkompatibler Sprachkonzepte und andererseits aggressiver Abgrenzung bis hin zur Denunziation.
Ich persönlich zähle mich aus tiefster Überzeugung zu diesem Forschungs- und Politikfeld, vor allem aufgrund seines Anliegens, Antisemitismus zu bekämpfen. Ebenso werde ich wohl eigene Beiträge zu dieser schismatischen Situation geleistet haben. Doch gerade wenn bestimmte Grundanliegen geteilt werden, ist es umso erstaunlicher, wenn formulierte Reflexion den Reflex der Verharmlosungsunterstellung wachruft.
Insofern sind das Herangehen Küntzels, welcher unseren Text anscheinend als Fundgrube für tendenziös zu interpretierende Halbsätze begreift, und die Veröffentlichung in der Jungle World sym­ptomatisch. Hier trifft die Polarisierung der antisemitismuskritischen Diskussion auf eine linke Debattenkultur, die ihre eigenen ethischen Prinzipien tagtäglich konterkariert, ja karikiert. Die linksradikale Debatte, besonders bei den Themen Rassismus, Gender, Nation und Antisemitismus, aber auch in vielen anderen Bereichen, ist geprägt von Häme und Herablassung, vom absoluten Fehlen eines Vertrauensvorschusses und der maximalen Bereitschaft zur möglichst negativen ­Interpretation des Gegenübers. Ein Blick in entsprechende Mailinglisten und Kommentarspalten offenbart Abgründe, die der sonstigen wutbürgerlichen Netz-Empörung in nichts nach­stehen.
In der glücklicherweise vorhandenen Unzufriedenheit vieler mit dieser Art Diskurs, im selbstkritischen Reflektieren dessen, was wir tun, und in der entmarginalisierenden, weil Handlungs­fähigkeit schaffenden Konzentration auf die vorhandenen, begrenzten Gemeinsamkeiten innerhalb widersprüchlicher Verhältnisse liegt, so denke ich, der Schlüssel zum Ausgang aus diesem geistigen Gefängnis. Er kann in ein reflexives Draußen führen, wo offene Diskussion und kritisches Hinterfragen als Bereicherung und nicht als Angriff begriffen werden.