Berlin Beatet Bestes. Folge 283

Nichts für weißhaarige Lehrer

Berlin Beatet Bestes. Folge 285. Whiskydenker: Ballhausmiezen (2015).

Zum ersten Mal sah ich die Dixie Wankers vor sechs Jahren bei Ron Telesky, einer kleinen Souterrain-Pizzeria in der Kreuzberger Dieffenbachstraße. Wenig später fingen meine Freundin und ich an, Swing zu tanzen. Keine Band habe ich seither öfters gesehen als die Dixie Wankers. Über Jahre spielten sie jede Woche im Kater Holzig auf der besten wöchentlichen Swing-Tanzveranstaltung der Stadt. Ich habe dort, unter schlechtesten Bedingungen, erst richtig tanzen gelernt: zwischen betrunkenen Touristen; auf einem unebenen Holzplankenboden; zu Songs, die für mich als Anfänger immer zu schnell oder zu langsam waren und dazu noch durchschnittlich fünf Minuten lang dauerten. Da musste ich mir schon etwas einfallen lassen, um die Zeit zu füllen. Und ich fing an, wirklich zuzuhören. Das Beste aber war, dass die Wankers immer für ein Party-Publikum spielten. Und obwohl sie stets in wechselnden Besetzungen auftraten und viel improvisierten, blieb ihr rot­ziger Dixieland doch Tanzmusik.
Florian Wehse, der Trompeter und Sänger der Band, gründete vor einigen Jahren die Whiskydenker. Während die Wankers, trotz aller Schrammeligkeit, dem Traditional Jazz noch stark verbunden sind, lehnen sich die Whiskydenker mit ihrem Jazz weit aus dem Pop-Fenster hinaus. Wer heute das Wort »Jazz« hört, denkt im Allgemeinen an unrockbare, nervige Kunstmusik, die von weißhaarigen Lehrern im Sitzen gehört wird. Um sich als Jazzmusiker vor diesem Urteil zu retten, bedarf es drastischer Mittel. Bei den Whiskydenkern fängt es damit an, dass Florian auf Deutsch singt. Die Songs sind zum Teil selbstgeschrieben, aber es wurde auch tief in der deutschen Jazzgeschichte ge­stöbert. Mit Reibeisenstimme singt Florian: »Ist dein kleines Herz noch für mich frei, Baby«, eine frühe deutsche Cover-Ver­sion des Pop-Hits »I can’t give you anything but love« aus dem Jahr 1929. Louis Armstrong machte den Song später zum Jazz-Standard. Ein weiterer Jazz-Schlager ist »Gisela (Hallo, kleines Fräulein)«, ursprünglich 1947 von den 3 Travellers aufgenommen. Ich vermute, die deutsche Textfassung von Irving Berlins »Puttin’ on the Ritz« aus dem Jahr 1929 – »Heute geht mir alles schief« – ist eine Erstaufnahme der Whiskydenker. Ein weiterer gelungener Song ist »Sei mal verliebt«, eine Cover-Version von Cole Porter’s »Let’s do it«, die Hildegard Knef 1968 aufnahm.
So sehr ich mich in den vergangenen Jahren für traditionellen Jazz begeistert habe und an das Potential dieser improvisierten, akustischen Musik glaube, viele Gründe für meine Hoffnungen auf Neuerungen gab es bisher leider nicht. Nur wenige heutige Bands schreiben eigene Songs oder wagen sich in Popge­filde. Die Whiskydenker hingegen schreiten in beide Richtungen mutig voran. Ein so gut produziertes, vielschichtiges, lustiges und tanzbares Jazzalbum wie »Ballhausmiezen« hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben, seit den letzten Versuchen der Hamburger Old Merry Tale Jazzband und der Berliner Spree City Stompers.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.