»Ausprobiert«, Teil 6: Tennis

Stets allein und ohne Ball

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 6: Tennis. Egal, ob in der kindlichen Phantasie oder beim Tickern der US Open – theoretisch macht es Spaß.

Tennis gehörte für mich als Kind während der Grundschulzeit zum Alltag. Oft spielte ich stundenlang, bevorzugt mit dem für ihre Brüder streng verbotenen Racket meiner großen Schwester, stets allein und ohne Ball.
Der Wettkampf fand in meiner Phantasie statt und war trotzdem sehr physisch. Denn während ich mir vorstellte, hart und doch platziert aufzuschlagen, einen Ball mit Schwung longline zu spielen oder einen überraschenden, gefühlvollen Rückhandstopp einzustreuen, machte ich entsprechende, mir angemessen erscheinende Bewegungen, und kreuz und quer durch mein Zimmer oder ein stilles, sichtgeschütztes Eckchen im Garten lief ich dabei auch. Mit kurzen, aber kräftigen Spurts.
Zuschauer hatte ich nicht so gern, aus verständlichen Gründen. Die Qualität meines Spiels zeigte sich nach außen hin nicht, das war mir vollkommen bewusst. Ich hielt es außerdem für möglich, dass die Nachbarn sich irgendwann sorgenvoll an meine Eltern wenden könnten, mit der Frage, ob der Junge denn wohl »ganz beisammen« sei, sprich noch alle Pokale im Schrank habe. Diese Sorge war allerdings, wie ich Jahre später erfuhr, ganz unberechtigt. Denn obwohl nahezu alle Nachbarn über meine Tennissoli im Bilde waren, hatten sie mich schon viel früher für bescheuert gehalten, als ich noch mit weniger Hemmungen und weithin sichtbar Sportarten in ganz ähnlicher Weise betrieben hatte. Sie waren also längst daran gewöhnt.
Mein sicher noch verstörenderes Mienenspiel dürften die heimlichen Zuschauer aus der Ferne dann aber doch nicht mitbekommen haben. Noch heute verbringt die Kamera bei Tennisübertragungen ja sehr viel Zeit in den Gesichtern der Spieler, und auch das machte auf mich neben den oft stundenlangen Lauf- und Schlagleistungen der Beckers, Lendls, Edbergs, Ivanisevics, Changs – und ja, auch Agassis, den ich heimlich verehrte, während ich gegenüber meiner Schwester erklärte, ihr Lieblingsspieler sei ein Hampelmann – einen unwahrscheinlichen Eindruck. Der angestrengte Ernst in der entscheidenden Phase des letzten Satzes. Das gedankenverlorene, fast meditative Bananenmampfen während der Pausen. Der ungläubig-entrüstete Blick zum Stuhlschiedsrichter nach fragwürdigen Entscheidungen und die zornige Freude, wenn endlich mal wieder ein richtig guter Schlag gelungen war.
Das alles imitierte ich beim Herumrennen und durchlebte so manches Fünf-Satz-Match. Immer ein wunderbares Drama, in dem mir die tragischen Helden fast am besten gefielen. Und deshalb gewann ich auch durchaus nicht jedes Spiel. Im Gegenteil: Ich stand sogar recht gerne vor dem imaginierten Mikrophon eines Reporters, um mit leerem Blick und mechanisch meinen Nacken massierend zu erklären, dass ich auch nicht wisse, was heute schief gelaufen sei, wo ich doch nun wirklich mein Allerallerbestes gegeben hätte – nicht spielerisch, aber vom Kämpfen her. Dann noch ein entschuldigendes, trauriges »Hat nicht sein sollen«-Lächeln und ein ebensolches Winken in Richtung »Box«, in der mein Trainerstab und meine wunderschöne Frau saßen, die übrigens starke Ähnlichkeit mit einem Mädchen aus der Schule hatte, für das ich seinerzeit schwärmte.
Irgendwann wurden meine Tennis-Sessions seltener, was am zunehmenden Alter gelegen haben mag, aber auch daran, dass Tennis kaum mehr über den Familienfernseher flimmerte, meine entsprechenden Neigungen also immer weniger stimuliert wurden. Deutsche Seriensieger, namentlich Boris Becker und Steffi Graf (»die Gräfin«, wie meine Oma väterlicherseits ehrerbietig zu sagen pflegte), waren raus, weshalb die Sportart im deutschen, gebührenfinanzierten Fernsehen schon bald durch den Rost fiel.
Privatsender, vor allem Eurosport, machten mich Anfang des neuen Jahrtausends wieder zu einem Fan. Die großen Turniere, die ich früher jedes Jahr verfolgt hatte, natürlich vor allem die Grand-Slam-Turniere, wurden wieder zu Pflichtterminen. Und wieder mochte ich sie alle, die zeitgenössischen Zampanos. Den wunderbaren Roger Federer natürlich, den Allrounder mit seinem von mir besonders geliebten »Rückhand Cross«, oder den Kraft sprühenden Rafa Nadal, den beim Spielen stets die zu enge Butze kneift, was ich aus meiner aktiven Zeit auch noch kannte. Meine alt-neue Leidenschaft ging soweit, dass ich irgendwann nachts allein in einer Großraumredaktion saß und die US Open tickerte – für ein paar Dutzend User wohl, aber vor allem für mich selbst. Nun ver- und erarbeitete ich nicht mehr Tennismomente mit dem Schläger, sondern mit der Tastatur, und weiß Gott, ich machte die langweiligen Spiele spannender und dramatischer, als sie waren, und die wirklich guten Spiele kommentierte ich mit besonders ruheloser Anteilnahme. Lobte und tadelte, analysierte Ballwechsel und erklärte kurz, wie und warum ich etwas besser gemacht hätte, versuchte zu lesen, wem sich wohl das »Momentum« zuneigen würde, wessen Miene eher Verzweiflung oder eher Zuversicht verriet, wessen Bewegungen langsamer und schwerfälliger wurden und wem die »zweite Luft« durch die Lungenflügel strömte. Und das alles mit der ganzen Überzeugung des Fernsehfachmanns und Tennislaien. Also anders als und doch ähnlich wie Matthias Stach, der ewig Klatsch tratschende und psychologisierende Fernsehkommentator und Tennisfreak mit praktischer Erfahrung, von dem ich mir so manches abhörte und der mich bis heute ebenso nervt wie anspricht.
Und ja, einmal, während des Zivildienstes war es, stand ich auch auf einem richtigen Tennisplatz, gegen einen Zivikollegen mit Vereinserfahrung. Schon die Dimensionen des Feldes kamen mir verständlicherweise grotesk vor, denn Tennis assoziierte ich, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, immer noch mit einem übersichtlichen Refugium. Zu allem Überfluss spielten wir auch noch auf Hardcourt statt auf abgelatschtem Rasen. Schon beim leichten Einschlagen wurde mir klar, dass ich die Geschwindigkeit des Balls in meiner Phantasie viel zu stark heruntergedrosselt, mithin auch die Schlagbewegungen stets in Zeitlupe ausgeführt hatte. Auch hatte ich nie einen Gedanken an so etwas wie Beinarbeit oder das richtige Schuhwerk verschwendet.
Und dann, als mein Kollege sein erstes Aufschlagspiel mit fünf Assen durchgebracht hatte, gerne auch mit dem Second Serve, und meine eigenen traurigen Services mit krachenden Returns beantwortete, an die ich nicht einmal herangekommen wäre, wenn ich schon vor dem Aufschlag losgelaufen wäre, ja, da war nicht mehr zu bestreiten, dass meine Stärken, was diese Sportart betrifft, nicht auf dem Platz zu suchen sind – oder, um es noch unerfreulicher auszudrücken: nichts auf dem Platz zu suchen haben. Oder naja, nicht auf diesem Platz.
Denn nun, wo ich hier so schreibe, bekomme ich doch große Lust, mir mal so einen Schläger zu kaufen, den ich mir früher immer borgen musste, um dann in einem stillen Kämmerlein oder hinter einer großen Hecke, vielleicht wenn es gerade dunkel geworden ist, mal wieder nach Herzenslust loszuschwingen. Die Weltelite des Tennis sowie meinen Zivikollegen vor unlösbare Aufgaben stellend, werde ich dann – nach fünf dramatischen Sätzen – einen verdienten Sieg davontragen.